Vorentwurf zu einem neuen Primärschulgesetz

Einmalige Chance

d'Lëtzebuerger Land vom 19.01.2006

Michèle Retter ist sauer. Vor der Sprecherin der Elterndachvereinigung Fapel liegt der Gesetzesvorentwurf zur Primärschule, den das Unterrichtsministerium im Herbst an die Schulpartner verschickt hatte. Der Text soll den Dinosaurier von 1912 ablösen. "Wir haben die Entwicklung jahrzehntelang verschlafen und nun wollen wir die junge Generation noch weiter für unsere Inkompetenz bluten lassen", sagt die Elternvertreterin empört. Es ist klar, wen sie damit meint: das Unterrichtsministerium. Seit ihrem Amtsantritt im Sommer 2004 hat Bildungsministerin Mady Delvaux-Stehres mehrfach grundlegende Reformen bei den Primärschulen angekündigt. Das sei der Bereich, wo man ansetzen müsse, "um soziale Ungleichheiten in der Schule wirksam zu bekämpfen", sagt sie und folgt damit Erkenntnissen aus der Bildungsforschung: Wer frühzeitig gefördert wird, hat bessere Chancen, die Schule erfolgreich zu beenden. Zwei große Projekte stehen auf ihrem Programm. Die für den Winter 2006/2007 angekündigte Pirls-Studie (progress in international literay study) soll Klarheit über die Lesekompetenzen der hiesigen Fünftklässler verschaffen. Und die lang geplante Überarbeitung des Primärschulgesetzes muss endlich her, das die Ziele, Aufgaben und Mittel der über 350 Luxemburger Grundschulen genauer und vor allem zeitgemäßer definiert. Was der neue Zeitgeist ist, wird die Ministerin zu verkünden nicht müde: weg vom herkömmlichen starren Unterricht, mehr Chancen für sozial benachteiligte Kinder durch ein differenziertes Lernangebot - und mehr Mitbestimmung und Autonomie für Schule und Schulpartner.

Zyklen statt Schuljahre  Als eine wesentliche Neuerung sieht der Text drei Zyklen statt der bisher sechs Schuljahre vor. Ein Zyklus soll durchschnittlich zwei Jahre dauern, lernt ein Schüler schneller, kann es aber auch nur ein Jahr sein. Maximal sieben Jahre sind für die gesamte Primärschulzeit vorgesehen, mehrfaches Sitzenbleiben soll künftig der Vergangenheit angehören. Anstatt strengen Programmvorgaben zu folgen und im drögen Frontalunterricht die gleiche Messlatte für alle vorzugeben, sollen Grundschullehrer "passgenau" unterrichten: mit Blick auf die individuellen Bedürfnisse des jeweiligen Schülers, in pädagogischen Teams, mit mehr Wahlfreiheit bei den Schulbüchern - und mit einer bestärkenden, das Selbstbewusstsein fördernden Bewertung. Sie orientiert sich nicht nur an Diktaten und Klassenarbeiten, sondern berücksichtigt breiter gefasste Kompetenzen des Kindes. So weit, so gut, findet neben der Lehrergewerkschaft SEW auch die Fapel. Die grobe Richtung der Grundschulreform begrüßen im Prinzip beide. Doch die Elternorganisation weist in ihrem Gutachten auf etliche Unschärfen hin. So taucht die differenzierte Pädagogik, von der Unterrichtsministerin im Gespräch mit dem Land immerhin als "Dreh- und Angelpunkt" für mehr Chancengleichheit hervorgehoben, lediglich in einem kleinen Unterabschnitt auf. Auch die pädagogischen Teams sind nicht näher definiert.             Sie habe "intellektuelle Schwierigkeiten" damit, den Lehrern ihre Unterrichtsmethoden gesetzlich vorzuschreiben, begründet Mady Delvaux-Stehres die Lücken und betont, dass "nicht ein- und dieselbe Methode" bei jedem Kind gleichermaßen funktioniere. Da-bei handelt es sich bei der differenzierten Pädagogik ja gerade nicht um eine Methode, sondern um einen Gesamtansatz mit unterschiedlichen Einzelmethoden, die je nach Bedarf der jeweiligen Lernsituation des Schülers angepasst werden. Andere Länder beweisen zudem, dass es durchaus möglich ist, gewisse Leitlinien vorzugeben, ohne sich in die alltägliche Unterrichtsgestaltung der Lehrer einzumischen. Zum Beispiel auch in punkto Medienkompetenz und Informationstechnologien, ein im Zuge von Projekten wie e-government und e-school inzwischen europaweit anerkannter Bildungsauftrag, im Vorentwurf allerdings kein Thema. Das sind nicht die einzigen Bereiche, in denen der Vorschlag es vermeidet, präzise Angaben zu machen. Die verpflichtende Weiterbildung für leitendes Schulpersonal und für Lehrer, A und O einer auf Qualität bedachten Schulentwicklung, fehlt ebenfalls. Es sind die Inspektoren, die in ihrer Stellungnahme fordern, die Weiterbildung zudem stärker an "tendances pédagogiques innovatrices" auszurichten.     Unterstützungsmaßnahmen wie Hausaufgabenhilfe und Förderkurse, Experten zufolge wichtige Werkzeuge, um der Chancenungleichheit beim Lernen beizukommen, werden im Text aufgelistet. Die inhaltliche Ausgestaltung der „cours de remédiation“ und „cours d’appui“ bleibt aber ebenso unklar, wie es an konkreten Vorgaben mangelt, wie viele und welche Förderangebote die unterschiedlich großen Gemeinden für wen machen sollen. Wenn, wie die Ministerin sagt, das Ziel der Reform ist, in allen Grundschulen des Landes ein annähernd gleiches Qualitätsniveau zu gewährleisten, wäre eine präzisere Festlegung da nicht angebracht? Auch beim Abschlussbericht, den künftig jede Grundschule regelmäßig abgeben und der Auskunft über Erreichtes und Verbesserungswürdiges geben soll, fehlen klare Kriterien. Stattdessen wird der Leser des Entwurfs, wie schon beim Kapitel über die Mindestkompetenzen, auf ein noch zu formulierendes Règlement grand-ducal zur schulischen Evaluation verwiesen. Eins steht immerhin fest: Nach den Sekundar- werden nun auch die Primärschulen zur Rechenschaft über ihre Funktionsweise und ihre Ergebnisse verpflichtet.

Pseudo-Partnerschaft und Schein-Demokratie  Noch größeren Unmut bei den Eltern ruft die geplante Organisationsweise der Grundschulen hervor. Abhängig von der Größe der Schule sieht der Text ein leitendes "comité de l'école" von mindestens drei Lehrern vor, das für den reibungslosen Ablauf in der Schule sorgen soll. Neben eher administrativen Aufgaben, wie die pädagogischen Teams zu koordinieren, Schulbücher auszusuchen oder Vorschläge zum Budget zu formulieren, soll das vom Lehrpersonal gewählte Gremium auch einen Schulentwicklungsplan verfassen. Anders als an den Lyzeen, wo Eltern über den "Conseil d'éducation" Schulprojekte mitentwickeln können, werden sie in der Grundschule lediglich "assoziiert" - was immer das heißen mag. Darüber hinaus sind Eltern auf der Ebene der kommunalen Schulkommission eingebunden, allerdings sind sie dort angesichts fünf von der Gemeinde zu bestimmenden Mitgliedern und zwei Lehrervertretern deutlich in der Minderzahl.   Nicht einmal, wenn es um ihr eigenes Kind geht und dieses wegen Lernschwierigkeiten besondere Hilfsmaßnahmen braucht, können betroffene Eltern über die weitere Vorgehensweise mitentscheiden. An den Sitzungen der Experten der medizinisch-psychopädagogischen Kommission (CMPP) dürfen sie nicht teilnehmen. Sie bekommen lediglich eine Ansprechperson zugeteilt, die das Dossier des Sohnes oder der Tochter führt und es den Eltern auf Nachfrage zeigt. "Das verstößt gegen das elterliche Sorgerecht", ärgert sich Liliane Bredemus von der Fapel. Viel nützen wird der Einwand wohl nicht: Welch geringer Stellenwert dem elterlichen Mitbestimmungsrecht in der Luxemburger Gesellschaft zukommt, zeigt die gängige Praxis, bei dauerhaften Heimeinweisungen Mutter und Vater automatisch das Sorgerecht zu entziehen. Auch das SEW unterstützt das Anliegen der Eltern nicht, jedenfalls nicht ausdrücklich. In ihrem Avis zum Vorentwurf fordert die Lehrergewerkschaft, Klassenlehrer an den CMPP-Beratungen teilnehmen zu lassen und die vor allem in größeren Gemeinden bestehenden "comités de cogestion" beizubehalten. Die Lehrer-Komitees, die sich um die Verwaltung und Koordination der Schulen auf Gemeindeebene kümmern, sind bislang die einzig existierende Interessenvertretung der Lehrer und sichern ihnen in der kommunalen Schulpolitik ein gewisses Mitspracherecht. Weshalb die Gewerkschaft ihren Erhalt fordert. Über Eltern- und Schülerrechte verliert die ansonsten so um Mitbestimmung besorgte Lehrergewerkschaft allerdings kein Wort. Lieber ruft sie intern Mitglieder und Lehrer auf, schnell noch den "comités de cogestion" beizutreten oder neue zu gründen, wohl um vollendete Tatsachen zu schaffen und so Druck auf das Unterrichtsministerium aufzubauen.

Das eigene Hemd  Viel Sorgen um die eigenen Interessen braucht sich die Gewerkschaft aber womöglich gar nicht zu machen. Im Land-Gespräch betonte die Unterrichtsministerin, sie sei mit dem Vorentwurf "noch nicht glücklich". Speziell das Partenariat solle noch einmal überarbeitet werden. Man sei noch "mitten in den Beratungen", so Delvaux, die der Abgeordnetenkammer am liebsten schon im Sommer einen fertigen Entwurf vorlegen möchte. Dass der einstigen Sekundarlehrerin das eigene Hemd näher ist als der Rock und ihr reformerischer Mut gedämpft ist, dafür spricht, dass die LSAP-Politikerin es bereits im Vorfeld versäumt, gewisse heiße Eisen anzufassen. Dabei hat der Kampf mit den "heimlichen Lobbyisten" in Partei und Ministerium noch nicht richtig begonnen. Delvaux' Analysen, die sie auf Pressekonferenzen und in Interviews zum Besten gibt, klingen eigentlich immer recht kohärent und eindeutig: Mehr Mitbestimmung und mehr Autonomie in der Schule, neue Unterrichtsmethoden sowie andere Schulinhalte - und am besten auch eine zu frühe Selektion vermeiden. In Deutschland hat selbst das konservative Forschungsinstitut ifo vor kurzem bestätigt, welche negative Auswirkung die frühe Selektion auf die Bildungschancen hat, ein Argument mehr gegenüber reformträgen Bedenkenträgern und Regierungskollegen, sich endlich auch die rigide Orientierung nach der sechsten Klasse vorzuknüpfen.  Das 1912er-Gesetz sei ein "schönes Gesetz" gewesen, findet Mady Delvaux-Stehres, "weil es zu seiner Zeit sehr fortschrittlich war". Wie viel Fortschritt Luxemburgs Schulen in den nächsten Jahren und Jahrzehnten gelingt und ob im Sommer ein Primärschulgesetz vorliegen wird, das den Namen Grundsatzreform verdient, liegt  nicht zuletzt an ihr.

Ines Kurschat
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