Der Atlas der digitalen Welt zeigt, was die Deutschen im Internet wirklich interessiert: Frauen tratschen, Männer gucken Pornos

Schneller Klicken, weniger Denken

d'Lëtzebuerger Land vom 11.12.2020

Hauptanliegen der Menschheit sind, war schon früher zu erahnen. Jetzt weiß man es. Jedenfalls steht fest: die Hoffnungen auf Demokratisierung, Aufklärung oder gar Revolution des Kapitalismus, die vor rund 30 Jahren die Anfänge des Internets begleiteten, sind gründlichst gescheitert.

Zur Digitalisierung gibt es Unmengen an Daten, Statistiken und Rankings. Meist taugen sie nicht viel: Dubiose Umfragen ergeben Rekordwerte für Wikipedia, Arte.tv oder was sonst noch als gut und schön gilt. Die großen Internet-Konzerne haben zwar genaue Zahlen zu ihren Angeboten, halten diese aber geheim. Alphabet Inc. zum Beispiel verweigert sich einer unabhängigen Ermittlung der „Einschaltquoten“ von Youtube. Der Kölner Medienwissenschaftler Martin Andree und der Marktforscher Timo Thomsen haben trotz dieser Schwierigkeiten versucht, das Online-Universum genauer zu vermessen.

Der Titel ihrer Analyse, Atlas der digitalen Welt, ist etwas irreführend. Zur Geografie des Internets, etwa der Lage von Seekabeln, Knotenpunkten oder NSA-Überwachungszentren, ist darin nichts zu erfahren, auch nicht zu den Web-Präferenzen in unterschiedlichen Ländern. Es handelt sich um eine Marktstudie zur Internetnutzung in Deutschland. Die ist allerdings sehr detailliert: Andree und Thomsen haben dafür ein Panel der Marktforschungsfirma GFK ausgewertet, das heißt von Juli bis September 2019 jede einzelne Internetseite registriert, die von 16 000 Personen über 14 Jahren via PC, Tablett oder Smartphone besucht wurde. Nicht erfasst wurden dabei Spielkonsolen, das Internet-der-Dinge und Smartspeaker wie Amazons Alexa, die bereits in Millionen Haushalten herumspionieren. Zum Vergleich wurde auch der Lockdown-Monat April 2020 untersucht, der aber außer einer um 16 Prozent längeren Online-Zeit keine wesentlichen Änderungen des Surfverhaltens gebracht haben soll.

Der inspizierte Datensatz, der für die ganze Bevölkerung Deutschlands repräsentativ sein soll, ist gigantisch: 223 Millionen Seitenabrufe. Die Zahl von rund 132 000 angeklickten Websites scheint nur auf den ersten Blick groß: Das ist nicht einmal 1 Prozent der 16 Millionen in Deutschland registrierten .de-Webseiten. Auf die Top-3, das heißt YouTube, Angebote des Hardware-Herstellers Apple (vor allem Musik) und Facebook/WhatsApp entfällt fast ein Drittel, auf die Top-500 knapp 86 Prozent der gesamten Internet-Nutzung. Spätestens ab dem Rang 10 000 ist es praktisch egal, ob Webseiten irgendwelche Inhalte oder bloß Fehlermeldungen zeigen – sie haben so gut wie keine statistisch messbaren Besucher. So viel zu den Themen Wettbewerb, digitale Vielfalt und neue Chancen für kleine Anbieter.

Viel größer kann Markt-Konzentration nicht sein: Der Gini-Koeffizient des Internets ist 0,988 (ein Wert von 1 würde bedeuten, dass ein einziger Anbieter die gesamte Aufmerksamkeit abgreift). „Das Ergebnis hat uns in seiner Eindeutigkeit und Radikalität verblüfft“, schreiben die Forscher. Als Gründe für das Oligopol der US-Digitalriesen vermuten sie nicht Nachhilfe von Regierungen oder steuersparende Konzern-Konstruktionen: Ursachen seien vor allem geschlossene Standards der Social-Media-Plattformen, Selbstverstärkungsmechanismen von Algorithmen und die Türwächter-Funktion der Suchmaschinen Google und Bing (datenschützendere Alternativen wie DuckDuckGo oder Startpage erreichen allesamt nicht einmal 1,7 Prozent, Tendenz fallend). Und schlicht Zufall: Wenn „beliebige andere Unternehmen ein paar Monate Vorsprung gehabt hätten“, wären sie „heute ähnlich groß“ wie Facebook & Co.

In Deutschland waren 2019 mehr als 83 Prozent der Über-14-Jährigen im Internet unterwegs. Rund 12 Millionen Menschen, meist älter als 60 Jahre, waren offline. Da die durchschnittliche Online-Zeit pro User bei 152 Minuten pro Tag stagniert und die Jugend fast vollständig mit Smartphones verwachsen ist, wächst die deutsche Digitalwelt nur noch durch neue alte Nutzer. Im vergangenen Jahr entdeckten mehr als zwei Millionen Senioren das Internet für sich, das heißt neben den großen US-Plattformen vor allem Mainstream-Anbieter wie RTL oder Sparkasse.

Mittlerweile widmen sich Jung und Alt, Mann und Frau fast allen denkbaren Aktivitäten online. Ausnahmen sind lediglich Glücksspiele und Pornographie – da lebt knapp die Hälfte der Bevölkerung enthaltsam. Nuditäten sollen in der Anfangszeit 10 Prozent des ganzen Internet-Traffics ausgemacht haben, in Deutschland sind es heute nur noch 1 Prozent. Männer schauen im Schnitt knapp 2 Stunden Pornos pro Monat, Frauen nur 20 Minuten. Dagegen verbringen Frauen durchschnittlich 2 Stunden mehr mit E-Mail und Social-Media, insgesamt fast 11 Stunden. Ein zu zwei Drittel weibliches Publikum hat die rasch wachsende Plattform Pinterest, die sich als „visuelle Suchmaschine“ versteht und Produktplatzierung zum Programm selbst erhoben hat.

Unabhängige Blogs und Podcasts publizieren fern der breiten Öffentlichkeit: Alle zusammen erreichen bloß etwa 0,0057 Prozent der online verbrachten Zeit. Generell haben reine Informations- oder Nachrichtenseiten nur eine lächerlich „geringe Stickiness“. Am meisten gefragt, auch bei der angeblich so kritischen „Generation Greta“, sind das Boulevardblatt Bild und Wetterberichte – die es aber pro Monat auch nur auf jeweils eine halbe Stunde bringen.

Während zum Beispiel die Printausgabe der Süddeutschen Zeitung von ihren Abonnenten im Schnitt angeblich pro Tag 38 Minuten lang gelesen wird, sind es bei der Onlineversion nur 9 Minuten. Das heißt: 9 Minuten pro Monat! Dass die digitale Transformation „grundlegende Rezeptionsweisen von Medieninhalten im Kern verändert“, finden selbst die eher unpolitischen Marktforscher bedenklich: „Es wird irgendwann nicht mehr genug Leser geben, welche die erforderlichen Lektüreformen noch beherrschen.“ Die „extrem kurzen Aufmerksamkeitsspannen“ könnten nicht nur den Journalismus implodieren lassen.

Der Atlas der digitalen Welt von Martin Andree und Timo Thomsen ist im Frankfurter Campus-Verlag erschienen:
www.atlasderdigitalenwelt.de

Martin Ebner
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