Suizid bei Jugendlichen

Tod aus Verzweiflung

d'Lëtzebuerger Land du 01.12.2005

Ein einsames, graues Gefängnis. Unruhe im Kopf und trotzdem völlige innere Leere. Das Gefühl, eine Wand zwischen sich und dem Rest der Welt zu verspüren. Familie, Freunde, Schule, Arbeit - alles ist zu viel. Sogar das tägliche Aufstehen wird zur Qual. Dazu kommt die Angst, zu versagen, andere mit dem eigenen Leid zu belasten. Riesengroß, unentrinnbar, permanent. So oder so ähnlich klingt es, wenn depressive Menschen über ihre Krankheit sprechen. Und so oder so ähnlich hat vermutlich auch Sam empfunden. "Er war äußerst kritisch mit sich selbst", erinnert sich Liliane Bredemus. "Immerzu hat er sich in Frage gestellt, endlos viel hat er gegrübelt."  Drei Wochen ist es her, dass ihr Sohn sich das Leben genommen hat, da war er gerade mal 20 Jahre alt. Bei seinen Mitschülern und Lehrern war der zurückhaltende Junge mit dem ernsten Blick und dem spitzbübischen Lächeln durchaus beliebt. Doch das änderte nichts daran, dass Sam sich in den vergangenen zwei Jahren immer stärker verkrochen hatte, dass er von Selbstzweifeln und Ängsten geplagt wurde. Bis er offenbar keinen Ausweg mehr wusste. Da hatte er bereits zwei Jahre gegen seine starken Depressionen gekämpft und schon einen Suizidversuch hinter sich. Sam ist nicht der einzige. Zwei weitere Luxemburger Schüler nahmen sich in derselben Woche das Leben. In den vergangenen sechs Jahren waren es insgesamt 21, schreibt das Ombudskomitee für Kinderrechte im aktuellen Jahresbericht. Selbsttötung ist in Luxemburg die zweithäufigste Todesursache für Jugendliche - nach Straßenunfällen. "Die Gründe, warum sich junge Menschen das Leben nehmen, sind sehr vielfältig", sagt der Psychologe Gilbert Pregno. Der Auslöser kann ein Streit mit Freunden sein, Liebeskummer, sexueller Missbrauch oder Gewalt, aber auch Trauer um den Verlust eines Angehörigen, Drogenmissbrauch - oder Depressionen. Experten gehen davon aus, dass 70 Prozent der Menschen, die sich selbst töten, schwer depressiv sind und dringend professionelle Hilfe brauchen. Behandelt werden Depressionen heutzutage meistens mit Medikamenten, oft kombiniert mit einer Verhaltenstherapie, die dem Betroffenen helfen soll, negative Denkmuster aufzubrechen und allmählich Selbstvertrauen und Lebensmut zurück zu gewinnen.  Mit der Empfehlung seines Psychiaters, für eine Therapie in eine deutsche Spezialklinik zu gehen, konnte Sam nichts anfangen. "Warum kön-nen die mich nicht hier behandeln?", hatte er verzweifelt gefragt und die Reise ins Ungewisse verweigert. Dass eine Überweisung ins Ausland problematisch sein kann, darauf weisen Fachleute seit Jahren hin. Erst kürzlich wieder hat die Präsidentin des Ombudskomitees für Kinderrechte, Marie Anne Rodesch-Hengesch, in einem Zeitungsinterview die hiesige Praxis bemängelt, schwer depressive Jugendliche fortzuschicken. "Die Auslandsbehandlung ist deshalb oft problematisch", bestätigt Psychiater Marc Graas von der psychiatrischen Abteilung des Kirchberger Krankenhauses, "weil mit ihr meist der familiäre Kontakt abbricht." Nicht selten liegen zwischen Klinik und Elternhaus mehrere Hundert Kilometer. Besuche sind da nicht einfach zu organisieren. Für depressive Jugendliche sind Mutter, Vater und die Geschwister jedoch oft der einzige Halt, der ihnen bleibt und den sie, trotz Isolation und Rückzug, noch zulassen können. Wer hingegen hier zu Lande psychologische Unterstützung sucht, findet sich im Dickicht der verschiedenen Angebote oftmals nicht zurecht, oder muss Monate warten, bis endlich ein Therapieplatz frei wird. Auch wenn seit der Eröffnung der Jugendpsychiatrie auf dem Kirchberg die Zahl der Auslandsüberweisungen um die Hälfte gesunken ist, die 15 Akutbetten reichen hinten und vorn nicht aus. So groß ist derzeit der Bedarf, dass Ärzte schon gezwungen waren, Patienten abzuweisen. Für Jugendliche, die bei einem plötzlichen Anfall von Panik oder Schwermut Hilfe benötigen, stellt der Besuch der Jugendpsychiatrie oder der psychiatrischen Dienste der anderen Krankenhäuser oftmals eine Hürde dar. Daneben gibt es aber keine weitere Akutversorgung speziell für Jugendliche. Das Kinder- und Jugendtelefon 12345, bei dem Jungen und Mädchen in Krisen anonym anrufen können, ist nicht rund um die Uhr erreichbar. Ausgerechnet am Sonntag, wenn manche ihre Einsamkeit besonders spüren, sind die Telefone nicht be-setzt. Der psychosoziale 24-Stunden-Notdienst SOS Détresse wendet sich in erster Linie an Erwachsene. Es sind jedoch nicht nur fehlende oder schlecht vernetzte Versorgungsstrukturen, welche den Betroffenen zu schaffen machen. "Strukturen in der Psychiatrie sind wichtig, aber wir müssen unseren Kindern vorher helfen", betont Liliane Bredemus. Ein besonderer Dorn im Auge der engagierten Mutter, die auch Vertreterin der Elterndachorganisation Fapel ist, ist die Schule. "Luxemburger Schüler werden darauf gedrillt, den Unterrichtsstoff, den der Lehrer vorgibt, zu lernen und stur wiederzugeben." Differenzierung, Selbstentfaltung, demokratische Beteiligung seien im Luxemburger Schulsystem  Fremdwörter, klagt Bredemus, die ihren Gang an die Öffentlichkeit auch als Beitrag verstanden wissen will, "etwas an der Schule zu ändern". Die "Wissens-Bulimie" trage zum Schulstress bei und führe dazu, dass nicht der Schüler, sondern seine Leistungen beziehungsweise seine Defizite im Vordergrund stehen. Leistungsdruck hatte auch Sam verspürt, über Jahre. Je mehr das Abitur nahte, umso schlimmer wurden die Prüfungsangst und die Sorge, zu versagen. Sams Klasse sollte eigentlich einen Tag nach dem Suizid eine Chemieklausur schreiben. Sicherlich war der Test nur der Auslöser, ein zusätzlicher Stein in einer schier unüberwindbar hohen Mauer aus Angst, die sich allem guten Zureden und ansonsten guter Schulleistungen zum Trotz einfach nicht mehr auflöste, sondern ins Irrationale steigerte. Der Schulstress ist kein Hirngespinst. 40 Prozent aller Jugendlichen in Luxemburg, das hat die Studie über das Wohlbefinden der Luxemburger Jugendlichen vom Gesundheitsministerium und der Weltgesundheitsorganisation WHO von 2002 ergeben, fühlen sich durch die Schule "einigermaßen bis sehr gestresst". "Es gibt Jugendliche, die sind sensibel. Für die genügt eine chronische Überforderung, um Schlimmeres auszulösen", warnt Lucien Nicolay. Der Psychologe und Erwachsenendozent des Luxemburger Instituts für Individualpsychologie ist sich sicher: Der bestehende Leistungsdruck spielt bei Depressionen und Selbstmord eine "enorme Rolle". Fast täglich müssten Schüler von Lehrern, aber auch von Eltern hören, dass sie zu faul seien oder nicht genügend lernten, so Nicolay: "Und das in einem Alter, in dem viele sehr anfällig für eben solche Kritik sind." Die Zeit der Pubertät erleben Jugendliche im Allgemeinen als schmerzhaft und anstrengend. Sie müssen sich erst finden und stabilisieren. Ihre Gedanken kreisen weniger um Schulinhalte, als vielmehr um zentrale Fragen der Sinnfindung, der Identität und Lebensorientierung. Nicht umsonst ist die Zukunftsangst vieler Jugendlicher in dieser Zeit am größten, angesichts der zunehmenden Arbeitslosigkeit besonders unter jungen Menschen durchaus berechtigt. Hat ein Mädchen oder ein Junge ohnehin eine Veranlagung für schwermütige Gedanken und wenig Stressresistenz, dann kann zu viel schulischer Druck mitunter lebensgefährlich werden. Unser Schulsystem ist denkbar ungeeignet, um verletzlichen jungen Menschen in ihrer Entwicklung zu helfen, sagt Marc Graas. Bereits vor drei Jahren, in einem Gespräch mit dem Land, hatte Fari Khabirpour, Psychologe und Direktor vom Centre de psychologie et d'orientation scolaires gemahnt, wie wichtig es sei, Jungen und Mädchen nicht nur als Schüler, die erfolgreich sein sollen, zu sehen, sondern vor allem als Jugendliche mit eigenen Vorstellungen, Ängsten und Meinungen (d'Land vom 22. Februar 2002). Häufig machen Lehrer aber genau das nicht beziehungsweise zu wenig. Laut WHO-Studie über das Wohlbefinden fühlten sich lediglich 44 Prozent aller Befragten von ihren Lehrern unterstützt. Nur jeder Dritte hatte das Gefühl, das Lehrpersonal würde sich für seine Person interessieren. Die Frage in der Pisa-Studie von 2003, ob die Schule hilft, Selbstvertrauen zu entwickeln, bejahte in Luxemburg nur etwas über die Hälfte aller befragten Teenager. Zum Vergleich: Der OECD-Durchschnitt liegt bei über 70 Prozent.  Wie wichtig ein guter Kontakt zwischen Schüler und Lehrperson für eine gesunde Entwicklung der Jugendlichen ist, betonen Experten immer wieder. Neben Eltern und Freunden ist es der Lehrer, der den Schüler am häufigsten sieht. Weil aber viele von ihnen in erster Linie den Unterrichtsstoff im Kopf haben, bemerken sie nicht, dass sich hinter einer coolen oder gleichgültigen Fassade oft Unsicherheit und Verletzlichkeit verbergen - und wie tief Kritik und Spott gehen können. Daran ändert auch nichts, dass das Ministerium seit geraumer Zeit die Notwendigkeit einer positiven Be-stärkung und Bewertung unterstreicht. Wie diese aussieht und vor allem wie sie umgesetzt werden kann, erscheint nicht nur Lehrern angesichts rigider Lehrpläne oft wie die Quadratur eines Kreises.      Dabei geht es nicht nur um das Entschlacken übervoller Programme. "Unser Schulsystem fokussiert zu sehr auf einige wenige Kompetenzen", stellt Khabirpour fest. Würde stattdessen der Schüler als Ganzes in den Blick genommen, kämen Lehrer, die sonst nur ihr Fach sehen, nicht umhin, die anderen Qualitäten zu bemerken, die ihr Schützling hat. Ein genauer Blick und weniger die diagnostische Expertise ist es meist auch, der laut Psychologen genügt, um psychisch instabile junge Menschen zu erkennen. Statt auffällige Kinder sogleich zu den Mitarbeitern der schulpsychologischen Dienste zu schicken, was manche als Stigma empfinden, kann ein tieferes Gespräch zwischen Lehrer und Schüler und Lehrer und Eltern oft eine erste Hilfe sein. "Das Problem ist, dass wir uns mehr mit den Extrovertierten auseinandersetzen, und dabei die Introvertierten übersehen", sagt Gilbert Pregno, der für eine erhöhte Wachsamkeit und verbesserte Ausbildung plädiert.  Wie sehr ein geschärftes Bewusstsein und eine bessere Vernetzung Lebensmüden helfen können, haben Projekte im Ausland gezeigt. In Nürnberg etwa ließ die Stadt Ärzte, Lehrer und Sozialarbeiter im Umgang mit depressiven Jugendlichen und Erwachsenen schulen. Bestehende Angebote wurden zudem besser organisiert und koordiniert. Mit beträchtlichem Erfolg: Die Suizidrate der Stadt hat sich innerhalb von zwei Jahren halbiert.

Ines Kurschat
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