Interview mit dem Bildungsforscher Romain Martin

"Die Reformen reichen nicht"

d'Lëtzebuerger Land vom 18.09.2008

d’Land: Herr Martin, Sie haben die dritte Pisa-Studie mit herausgegeben. In ihrem Buch analysieren Sie mit anderen Wissenschaftlern Mechanismen unseres Bildungssystems. Ist über die Luxemburger Schulen nicht schon alles gesagt?

Romain Martin: Die Untersuchungen der letzten Jahre sind ein Abschluss und ein Anfang. Es stimmt, die Defizite des Schulsystems sind erkannt und nicht mehr von der Hand zu weisen: Wir haben ein sehr selektives Schulsystem, das in doppelter Weise überholt ist. Erstens wurde es für eine Bevölkerung konzipiert, deren Erstsprache Luxemburgisch ist. Zweitens geht es von einem Arbeitsmarkt aus, in dem eine kleine Elite in Kaderstellen unterkommt, während der große Rest als Arbeiter oder Handwerker arbeitet. Beides trifft nicht mehr zu.

Um die Bildungschancen von nicht-luxemburgischen Kindern zu erhöhen, plant Unterrichtsministerin Mady Delvaux-Stehres Reformen vor allem in der Grundschule und im Sprachenunterricht. Reicht das??Ganz sicher nicht, und das weiß die Politik wohl auch. Das heißt aber nicht, dass die Reformen, die nun ge­macht werden, nicht gut wären. Sie sind Schritte in die richtige Richtung.

Die Grundschulreform sieht vor, Schüler individueller zu fördern. Zweijahreszyklen sollen helfen, dass Kinder in ihrem Rhythmus lernen können. Sitzenbleiben soll nur noch in Ausnahmefällen erlaubt sein.Die Reform lässt Spielraum bei der Interpretation. Die Lehrzyklen kann man so auslegen, dass schwache Schüler, die ein bestimmtes Niveau in zwei Jahren nicht erreichen, noch ein Jahr dran hängen. Damit wäre in punkto retard scolaire nicht viel gewonnen. Ziel muss sein, mit unterschiedlichen Lerngeschwindigkeiten anders umzugehen, sie zu akzeptieren und die Unterrichtsmethoden danach auszurichten. Dann werden ausgrenzende Maßnahmen wie das Klassenwiederholen unnötig. Dass das geht, zeigen die Erfahrungen anderer Länder, wie Finnland oder Schweden, in denen es kein Sitzenbleiben gibt.

In diesen Ländern gibt es aber auch weniger Einwandererkinder und keine Dreisprachigkeit.Das stimmt. Wir haben viele Kinder, deren Eltern nicht aus Luxemburg stammen und die zuhause kein Luxemburgisch sprechen. Unsere Schülerpopulation ist besonders heterogen – und gerade deshalb brauchen wir besonders innovative Methoden. Stattdessen wird versucht, mit überholten Methoden homogene Lern- und Leistungsgruppen herzustellen. Das kann nicht funktionieren.

Wie dann??Es gibt kein allgemeingültiges Rezept. Aber Schulen müssen Prozesse der Qualitätsentwicklung in Gang setzen. Lehrer müssen ihren bisherigen Umgang mit der Schülervielfalt stärker hinterfragen. Es heißt, Abschied nehmen vom Einzelkämpfer-Dasein. Was wir brauchen, ist mehr Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams mit klaren Zuständigkeiten, mehr Reflexion und mehr Innovation.

Sie haben in Ihrer Studie Lehrer zu ihrer Unterrichtspraxis befragt und festgestellt, dass viele eher dem Typ „Individualist“ zuzuordnen sind. Offenbar ist die Botschaft der Kooperation noch nicht angekommen.Nein, und das müssen wir ändern. Es gibt aber noch ein anderes Problem: Viele Lehrer schauen nach wie vor zu sehr auf den Input: Welche neuen Bücher muss ich nehmen, was für Klassentests kommen auf mich zu? Das aber sind bloß Mittel zum Zweck. Pisa zufolge sind 40 Prozent der 15-Jährigen in Luxemburg mindestens einmal sitzen geblieben. Das ist dramatisch. Die Politik muss konkret vorgeben, was sie für eine Änderung wünscht. Wenn der retard scolaire die Ausnahme sein soll, müsste die Zielvorgabe vielleicht bei zwei Prozent liegen. Das bringt das System in Bewegung. Dann müssen sich Schulen zwangsläufig anders organisieren.

Können Lehrer diesen Wandel denn alleine leisten? Braucht es dafür nicht professionelle Anleitung? Die Unterrichtsministerin hat sich gegen Schuldirektionen in der Primärschule entschieden.Ob Direktor oder Präsident, das sind zunächst nur Bezeichnungen. Entscheidend ist, dass jemand den Prozess leitet und die Verantwortung dafür trägt, dass die Qualitätsentwicklung wirklich in Gang kommt. Es gibt keine gute Fußballmannschaft ohne Trainer. Eine gewisse Ausbildung ist wichtig, die gibt es hierzulande bisher nicht. Viele Länder haben extra Masterprogramme für angehende Schulleiter und -leiterinnen.

Der Gesetzentwurf zur Grundschule sieht eine Qualitätsagentur vor, welche die Schulen evaluieren soll. Und dann sind da noch die Inspektoren...Das Bildungsmonitoring allein reicht nicht. Im Idealfall ist das Monitoring eine Seite der Medaille, deren andere Seite Autonomie und Schulentwicklung sind. Evaluation kann nur funktionieren, wenn sie von Lehrern als Unterstützung gesehen wird. Es darf kein Kontroll- oder Strafinstrument sein, sondern ein externes Feedback, das hilft, schulinterne Prozesse zu analysieren und zu optimieren. Dafür braucht es einen kontinuierlichen Konzertationsprozess zwischen den Akteuren in den Schulen. Das eigentliche Ziel muss aber lauten, den einzelnen Schüler besser zu fördern. 

Die Unterrichtsministerin will deshalb den Unterricht auf Kompetenzen ausrichten, ein Konzept, das im Ausland seit längerem angewandt wird.Kompetenzen verlagern den Akzent beim Lernen: Statt reines Wissen zu pauken, kommt es verstärkt auf die Anwendung an. Im Zeitalter von Wikipedia und Google ist es nicht mehr sinnvoll, als wandelnde Enzyklopädie herumzulaufen. Insofern sind Kompetenzen eher als eine Anpassung an die Erfordernisse der Zeit zu sehen. Das Grundproblem der Luxemburger Schule lösen sie aber nicht. Lehrer können auch über Kompetenzen ausgrenzen.

Wie lässt sich verhindern, dass Lehrer in diese Falle tappen?? Bildungsstandards müssen realistische Zielvorgaben sein. Mindeststandards (socles de compétences, d. Red.) bedeuten, dass grundsätzlich jedes Mädchen und jeder Junge sie erreichen können muss. Zugleich sind sie für den Lehrer ein Feedback über seinen Unterricht: Werden die Standards erreicht, tipptopp; wenn nicht, muss er den Lehrprozess analysieren und ihn gegebenenfalls anpassen. Standards haben in erster Linie einen Aufforderungscharakter an die Schule. Koppeln wir die Standards lediglich an den Schüler, indem wir ihn nicht versetzen oder in einen niedrigeren Schulzweig orientieren, wenn er ein gewisses Kompetenzniveau nicht erreicht, haben wir denselben Selek-tionsmechanismus wie zuvor.

Die Lehrergewerkschaft Apess fordert, die Kompetenz Schreiben auch in Zukunft (mit 65 Prozent) höher zu bewerten als Lesen oder Textverstehen. Vielen Schülern bereitet aber gerade das Schriftliche die meisten Schwierigkeiten.Die Diskussion um Gewichtungen geht am Kern der Sache vorbei. Sie macht nur Sinn, wenn man Noten in erster Linie als Versetzungskriterien betrachtet und nicht als Indikator für den Lernprozess des einzelnen Schülers. Wenn wir es ernst meinen mit der Bildungsreform, dann brauchen wir eine Evaluation, die uns zeigt, was der Schüler kann und wo er noch Hilfe benötigt. Es muss darum gehen, einen optimalen Lernprozess zu gewährleisten und nicht darum, Schüler auszusortieren.

Pisa-Chefkoordinator Andreas Schleicher sieht eine der Ursachen für die starke soziale Segregation in Deutschland im mehrgliedrigen Schulsystem. Auch in Luxemburg zwingt die Orientierung nach dem sechsten Schuljahr die Lehrer dazu, Kinder verschiedenen Schulzweigen zuzuordnen – aus denen sie später meistens nicht mehr herauskommen.Die Gesamtschule, auf die Sie anspielen, wird das Problem nicht lösen, solange wir uns nicht über die Ziele einig sind. Ich kann damit leben, das gegliederte Schulsystem beizubehalten, abgesehen vielleicht vom régime préparatoire, das sich für viele als Sackgasse entpuppt. Im Moment werden Kinder den Schulzweigen mit dem Ziel zugeteilt, leistungshomogene Gruppen zu schaffen, die angeblich besser zu unterrichten sind. Die Annahme ist aber falsch: Auch auf den verschiedenen Schulzweigen haben wir es mit ganz unterschiedlichen Kindern zu tun. Es geht darum, das zu akzeptieren und Unterricht so zu gestalten, dass wir einer heterogenen Schülerpopulation von vornherein Rechnung tragen.

Reicht das wirklich? Tatsache ist doch, dass die soziale Segregation entlang der Schulzweige verläuft: Arbeiter und Ausländerkinder haben es in Luxemburg besonders schwer, das Abitur zu machen. Es stimmt schon, dass gegliederte Schulsysteme Segregationsprozesse verstärken. Das belegen die Pisa-Daten. Sie zeigen aber auch, dass Gesamtschulsysteme nicht unbedingt zu besseren Schülerleistungen führen. Gesamtschulen würden unsere Probleme also nicht automatisch beheben, könnten aber eine sinnvolle Bereicherung der Schullandschaft sein. Entscheidend ist – und das gilt für die Gesamtschule ebenso wie für unser gegliedertes Schulsystem –, dass den unterschiedlichen Kompetenzprofilen der Schüler viel stärker Rechnung getragen wird. Warum nicht auch ein Abitur einführen, das dem Schüler am Ende seiner schulischen Karriere ein Sprachenprofil zertifiziert, das sämtliche Sprachkompetenzen, auch Portugiesisch oder Italienisch, berücksichtigt? Dafür müssten wir aber bereit sein, Wasser in unseren Wein zu schütten, und uns von einer für alle verbindlichen Sprachnorm verabschieden.

Danach sieht es momentan nicht aus. Die Dreisprachigkeit wurde auch von dieser Regierung bekräftigt. Und von einer Gesamtschule redet keiner mehr.Es ist wahrscheinlich illusorisch, in Luxemburg einfach die Schulzweige abzuschaffen. Aber ich bin zuversicht­lich, dass mehr Schulautonomie erste Türen öffnen könnte und wir eine größere Vielfalt der Schullandschaft bekämen. Wirkliche Autonomie bedeutet, dass Schulen selbst entscheiden, ob sie ihre Schüler lieber trennen oder bis zum neunten Schuljahr zusammenhalten, ob sie mehr Naturwissenschaften oder mehr Englisch anbieten wollen. Unsere Rechtslage erlaubt dies nicht, deshalb mussten für das Neie Lycée und Eis Schoul eigens Gesetze geschrieben werden.

Bei den Abschlüssen gibt es eine gewisse Differenzierung, zum Beispiel mit dem Bac international.Ja, und das ist auch gut so. Wir haben schon heute an der Uni Studenten aus aller Welt, die mit ganz unterschiedlichen Abschlüssen kommen. Für die Luxemburger Abitursprüfung und die dahinführende Schulkarriere wäre es aber gut, wenn man etwas mehr Flexibilität bei den Sprachen zulassen könnte. Der Straßburger Europarat hatte in seinem Gutachten empfohlen, zwischen Basis- und Fortgeschrittenenkursen bei den Sprachen zu unterscheiden und den Schülern die Wahl zu lassen. Das halte ich für eine gute Idee.

Das Ministerium ist dem Rat aber nicht gefolgt.Die Umsetzung ist ja auch nicht einfach und darin liegt genau das Problem: In der Problemanalyse sind sich alle einig. Jeder sieht Handlungsbedarf wegen der Heterogenität, der sozialen Segregation, der Sprachensituation. Aber wenn es um konkrete Änderungen geht, klammert sich doch jeder fest an dem, was er oder sie schon kennt, die Eltern an die Klassenwiederholung, die Lehrer an das 60-Punkte-Notensystem. Das sind die heiligen Kühe, die keiner schlachten will. Wir können immer wieder die Heterogenität beklagen. Niemand wird uns davon befreien, im Gegenteil, die Daten zeigen, dass die zukünftigen Schülergenerationen eher noch bunter werden. 

Bis die Reformen greifen, wird es noch Jahre dauern. Die Diskriminierung von Einwanderer- und Arbeiterkindern geht aber weiter. Müsste die Politik nicht eine Frist vorgeben, ab wann radikaler reformiert werden muss?? Die nächsten Jahre machen mir keine Angst, solange die Ziele von allen Akteuren geteilt werden. Das Problem einer dirigistischen Herangehensweise ist, dass man sich seiner Sache sicher sein muss, damit der Wandel greift. Womit ich nicht sage, dass das Szenario nicht möglich ist. Andere Länder, wie Finnland oder Kanada, haben gezeigt, dass und wie es gehen kann. Dort war ein klarer politischer Wille vorhanden, der allerdings auch in der Bevölkerung auf Akzeptanz gestoßen ist.  

Ines Kurschat
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