Deutschland

Wer will nochmal

d'Lëtzebuerger Land du 14.06.2019

Es sind harte Zeiten für die deutschen Volksparteien. Zunächst muss sich die Sozialdemokratie auf die Suche nach einer neuen Führungskraft begeben, dann hadert auch die Christdemokratie mit ihrer Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer. Zu ungelenk sind den Parteimitgliedern die Auftritte der Saarländerin, so dass sie den Automatismus von Partei-Vorsitz und Kanzleramt in Frage stellen. Erste Stimmen in der Partei fordern bereits die Urwahl der Kanzlerkandidatin oder des Kandidaten. Und das nicht nur hinter vorgehaltener Hand. Diese Ereignisse treffen beide Parteien in ihrem Mark – und ihrem machtpolitischen Selbstverständnis.

Denn die Art und Weise wie CDU und SPD ihr Spitzenpersonal bestellen, zeigt auch deren Verständnis von Transparenz und Demokratie. In Deutschland gilt seit langer Zeit das Hinterzimmer, der engere Parteikreis, die Seilschaft als der Hort der Ernennung. Hier wird ausgehandelt, durchgesetzt und bestimmt, wer die wichtigsten Posten und Positionen in der jeweiligen Partei bekommt – und was die Kompensationen für unterlegene Kandidaten sind. Meist sind dies umfangreichere Personalentscheidungen, denn schließlich wollen alle Flügel, alle Landesverbände und alle Organisationen der Partei bedacht werden. Wer weiß, wann und bei welcher Entscheidung man auf die Unterstützung, sprich Stimmen, der jeweiligen Abteilung angewiesen sein wird.

Doch in Zeiten des zunehmenden Populismus und aufkeimenden Extremismus sind gerade Beteiligung, Mitbestimmung und Transparenz die Mittel und Werkzeuge der Abgrenzung gegenüber autoritären Machtstrukturen. Die Folge ist, dass wichtige Positionen in demokratischen Parteien nicht länger von einem Strippenziehergremium vergeben werden dürfen. Denn das gelebte, tradierte Vorgehen schadet der Akzeptanz der Parteien – was sich bei den etablierten Parteien bei der letzten Europawahl deutlich zeigte – und der Demokratie an sich. An dieser Bruchstelle ihres Lebenszyklus stehen sowohl Sozial- als auch Christdemokraten in diesen Tagen.

Doch das Verlassen des politischen Hinterzimmers verändert die politische Landschaft. Denn solche Menschen, die sich zu einer Führungsposition in einer Partei berufen fühlen, müssen nun gänzlich andere Fähigkeiten mitbringen, auch eine andere Ernsthaftigkeit der eigenen Bewerbung. Wer künftig Chefin oder Chef sein möchte, der muss vor der Parteibasis bestehen. Dort wird er mit anderen Meinungen und Ansichten konfrontiert, mit Forderungen, aber auch mit Ängsten und Nöten. All dieses müssen Kandidaten beantworten können und Lösungen präsentieren. Ein offenes Auswahlverfahren bietet Chancen für Außenseiter, die keine jahrelange Funktionärslaufbahn absolviert und ihren Anspruch angemeldet haben. Es ist jedoch keine Garantie dafür, den besten und geeignetsten Kopf zu finden, aber es bietet die Chance auf neue Denkweisen, neue Gesichter, neue Ansätze. Es ist zudem die einmalige Chance für die beiden Krisenparteien, neues Vertrauen zurückzugewinnen, neue Prozesse aufzusetzen. Ein Procedere, das sich auch für wichtige politische Entscheidungen und Meinungsfindungen etablieren könnte. Auch wenn die SPD mit ihrer Urabstimmung über die Große Koalition scheiterte und viele, die gegen ein Zusammengehen mit CDU und CSU ablehnten, sich als schlechte Verlierer präsentierten. Denn die Urwahl bedingt einen Lernprozess auf beiden Seiten und dazu gehört auch, die getroffene Entscheidung zu akzeptieren und nicht fortwährend in Frage zu stellen.

„Die Werteunion fordert angesichts der verheerenden Umfragewerte eine Urwahl des Kanzlerkandidaten durch die Mitglieder und startet kurzfristig eine Initiative zu deren Umsetzung“, forderte etwa Alexander Mitsch, Sprecher der konservativen Werteunion innerhalb der CDU am vergangenen Wochenende in einem Interview mit Die Welt. Es war dies der eindeutige Warnschuss für CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer. Der Satz machte ihr einige Dinge deutlich: Viele in den konservativen Schwesterparteien CDU und CSU sehen die Große Koalition mit der SPD am Ende. Ebenso gibt es einige, die die Parteichefin schlichtweg als ungeeignet als Regierungschefin.

Und so beginnt das politalltägliche Ränkespiel der alten Machart. Ralph Brinkhaus, Fraktionsvorsitzender der Konservativen im Bundestag, dementierte, dass Kramp-Karrenbauer alsbald den glücklosen Peter Altmaier im Wirtschaftsressort ersetzen und sich mit einem Wechsel an den Kabinettstisch für die Kanzlerschaft warmlaufen würde. Dann wird auf Zeit gespielt, indem der Landesvorsitzende aus Nordrhein-Westfalen, Armin Laschet, die Klärung der Kanzlerfrage auf den Parteitag 2020 vertagt. Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier spielt den Bewahrer und erinnert an das Erstzugriffsrecht der Parteivorsitzenden. Dann ist da noch Friedrich Merz, der Kramp-Karrenbauer bei der Wahl zum den Parteivorsitz unterlag. Er verwies auf seine schlechten Erfahrungen mit der Urwahl. Es sind erstaunliche Reflexe, in die Parteientscheider verfallen – und dies trotz oder wegen des Modernisierungsschocks, den die CDU seit der Europawahl durchleben muss.

Martin Theobald
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