Einheitsstatut schaft Riesenberufskammer

Ständeparlament

d'Lëtzebuerger Land vom 09.08.2007

Wenn es ab Ende nächsten Jahres keine Arbeiter und Angestellten mehr gibt, sondern nur noch abhängig Beschäftigte der Privatwirtschaft, wird dies auch institutionelle Folgen haben. Dies gilt unter anderem für die Berufskammern.

Die Berufskammern sind eine jener seltenen Einrichtungen, wie sie sonst vor allem noch aus Belgien und Österreich bekannt sind. Auch wenn sie bis heute nicht in der Verfassung erwähnt werden, sind die Berufskammern als Embryonen eines in der Zwischenkriegszeit erwogenen Ständeparlaments direkt an der gesetzgeberischen Prozedur beteiligt, indem sie Gutachten zu Gesetzesvorlagen abgeben, die in ihren Zuständigkeitsbereich fallen. In den Kammern sind alle Erwerbstätigen und
Unternehmen zwangsweise beitragszahlende Mitglieder.

Gibt es derzeit drei Arbeitgeber- und drei Arbeitnehmerkammern – für Handel, Handwerk und Landwirtschaft sowie für Angestellte, Arbeiter und Beamte – sollen die 1924 durch Gesetz geschaffenen Arbeiter- und Privatbeamtenkammern am 1. Januar 2009 zu einer einzigen Chambre des salariés einschließlich der Eisenbahnbeamten verschmelzen. Dann stehen den drei Arbeitgeber- und nur noch zwei Arbeitnehmerkammern gegenüber – eine für die Privatwirtschaft und eine für den öffentlichen Dienst.

Wie ihre Vorgängerinnen soll die neue Kammer nach Branchen eingeteilt sein. Bei den Angestellten sind es derzeit sechs mit insgesamt 38 Mitgliedern aus der Stahlindustrie, der sonstigen Industrie, Banken und Versicherung, Handel und Dienstleistungen,
Gesundheit und Soziales sowie Eisenbahn. Bei der Arbeiterkammer stammen die 32 Mitglieder aus der Stahlindustrie, vom Bau, aus der Lebensmittelindustrie, der sonstigen Industrie, den Dienstleistungsunternehmen und dem öffentlichen Sektor.

Wieviele Mitglieder welche Branchen in der neuen Berufskammer vertreten werden, wird erst nächstes Jahr durch ein großherzogliches Reglement festgelegt. Auf Wunsch des OGB-L und gegen den Widerstand des LCGB sieht der Gesetzentwurf
auch vor, dass branchenübergreifende Mitglieder als „groupe à vocation interprofessionnelle“ ernannt werden können.

Die Vermögen, insbesondere die Immobilien der beiden Kammern, zu denen auch der eben fertig gestellte Neubau des Ausbildungszentrums der Arbeiterkammer in Remich gehört, gehen bei der Fusion in den Besitz der neuen Kammer über. Diese
Fusion der Arbeiter- und der Angestelltenkammer könnte allen Mitgliedern zugute kommen. Denn die Privatbeamtenkammer ist derzeit dynamischer, sie verfügt über größere personelle und finanzielle Mittel, um auch umfangreiche Gutachten und
Veröffentlichungen vorzulegen, und meldet sich öfters zu wirtschaftspolitischen Fragen zu Wort als die Arbeiterkammer, die noch stärker ihrer traditionellen Rolle verhaftet bleibt.

Da die Privatbeamtenkammer nach eigenen Angaben rund 135 000 Mitglieder und die Arbeiterkammer rund 110 000 Mitglieder vertritt, entsteht eine neue Berufskammer mit rund 250 000Mitgliedern. Da sie damit die große Mehrheit aller Erwerbstätigen im Land vertritt, wird ihre demokratische Legitimation in keinem Verhältnis zu derjenigen der anderen vier Kammernstehen. Mehr
noch: Der durch die zahlreichen Grenzpendler verursachte hohe Anteil der Erwerbstätigen im Vergleich zur Wohnbevölkerung wird dazu führen, dass die Wählerbasis der neuen Berufskammer deutlich größer sein wird als diejenige der auf dem allgemeinen Wahlrecht fußenden Abgeordnetenkammer – was immer das für das Verhältnis zwischen den Institutionen bedeutet.

Das politische Gewicht dieser Kammer wird nämlich noch durch eine weitere Neuerung vergrößert. Die Vertreter der Berufskammern werden alle fünf Jahre durch allgemeine Wahlen bestimmt, zuletzt im Jahr 2003. Der Gesetzentwurf zur Einführung des Einheitsstatuts soll künftig aber auch den Pensionierten das Wahlrecht zu allen Berufskammern erteilen.

Die Ursache dafür ist übrigens weder bei den Berufskammern, noch beim Einheitsstatut zu suchen, sondern bei der Sozialversicherung. Denn bisher finden jeweils zwei Wahlen gleichzeitig statt, zu den Berufskammern und zu den Selbstverwaltungsgremien der Sozialversicherung; ein Umstand, der für viele Wahlberechtigte schwer verständlich ist, insbesondere für Immigrierte und Grenzpendler, denen Einrichtungen wie Berufskammernoft fremd sind. Auch kennen wohl nur die leidenschaftlichsten Gewerkschaftsmilitanten die Kandidaten für die verschiedenen Gremien und können deren individuelle
Eignung bewerten.

Deshalb wurden sich Regierung und Gewerkschaften einig, die Prozedur zu vereinfachen und die Wahlen zu den Sozialversicherungsorganen abzuschaffen. Stattdessen sollen ihre Vertreter nach dem Proporz der Wahlergebnisse bei den Berufskammern bestimmt werden. Und weil bisher auch die Pensionierten ihre Delegierten für die Kranken- und Pensionskassen
wählen dürfen, sollen sie nicht von den Wahlen zu den Berufskammern ausgeschlossen bleiben.

Welche Auswirkungen die Änderung der Wählerbasis auf die Wahlergebnisse bei den Berufskammern haben wird, ist schwer abzusehen. Denn bereits heute ist der OGB-L als größte Gewerkschaft sowohl bei den Angestellten wie bei den Arbeitern tonangebend. Voraussichtlich im November nächsten Jahres sollen erstmals Wahlen zu der neuen Kammer stattfinden, die dann für die Periode 2009 bis 2014 im Amt sein wird.

Romain Hilgert
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