Während der Pandemie polarisierte sich die Gesellschaft. Eine Politisierung der Wut gelang kaum. Eine Aufarbeitung auch nicht – fünf Jahre nach Ausbruch

„Op wackelege Féiss“

Paulette Lenert und Xavier Bettel während einer Covid-Pressekonferenz
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 28.03.2025

Rückblickend mutet der Optimismus der Geschäftswelt und der Regierung in der letzten Februarwoche 2020 fast surreal an. Seine Kanzlei EHP habe drei europäische Mitarbeiter aus dem Büro in Hongkong zurückgeholt, teilt der Geschäftsanwalt Luc Frieden dem Land mit. Sorgen machte sich Frieden nicht: Es war eine Maßnahme, „um die Familien zu beruhigen“. In seiner Funktion als Präsident der BIL erzählt er zudem, er habe die Aktionäre der Bank – zu 90 Prozent chinesischer Herkunft – seit einiger Zeit nicht mehr auf der Escher Straße gesehen. Im Bankensektor würden Videokonferenzen gerade zur neuen Normalität. Fast zeitgleich steht Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) während einer Pressekonferenz am Rednerpult und beschwichtigt: „Keine Panik, alles unter Kontrolle.“ Anlass für Aufregung war die Aufforderung zur zweiwöchigen Quarantäne einiger Schulklassen, die durch Risikogebiete gereist waren. Der Land-Journalist Pierre Sorlut verfällt alsbald dem Charme der neuen Ministerin, die erst seit zwei Monaten im Amt war; sie betreibe eine „sympathische und menschliche Kommunikation“.

Am letzten Februartag beruft Paulette Lenert für 21 Uhr erneut eine Pressekonferenz ein – diesmal, um den ersten Coronavirus-Fall zu bestätigen. Laut Regierungsplan löste dies eine sanitäre Krise aus, doch Paulette Lenert und Jean-Claude Schmit, der Direktor des Gesundheitsamtes, wollen weiterhin vermitteln: „Wir haben alles im Griff.“ Im Hintergrund aber arbeitet das Gesundheitsministerium unter Hochdruck – einige Mitarbeiter übernachten sogar in der Villa Louvigny. Die meisten anderen Ministerien betrieben hingegen business as usual: Anfang März brechen Finanzminister Pierre Gramegna und Wirtschaftsminister Franz Fayot nach Italien zu einer viertägigen Hightech-Wirtschaftsmission auf.

Am Mittwoch 11. März stehen Premier Xavier Bettel und Paulette Lenert gemeinsam vor der Presse. „Die Corona-Krise weitet sich aus. Schneller als man hätte meinen können, musste das erste Spital sein Sicherheitsprotokoll aktivieren“, titelte das Land. Die WHO erklärte an jenem Mittwoch Covid-19 zur Pandemie; 4 400 Todesfälle wurden zu dem Zeitpunkt verbucht. Dass die Eindämmungsversuche scheitern, wird nun offen ausgesprochen – „Wissenschaftler gehen davon aus, dass ein Ende noch nicht abzusehen ist.“ Von einem Lockdown ist allerdings noch keine Rede; die Regierung entschied vorerst nur Veranstaltungen mit über 1 000 Teilnehmern zu untersagen. Eine Woche später ruft Staatsminister Xavier Bettel wiederholt in den Internet-Stream: „Bleift doheem“. Und CHL-Generaldirektor Romain Nati twittert: „Mir sinn am Krich, hëlleft eis“; die Bevölkerung solle dem „social distancing“ nachkommen.

Das öffentliche Leben kommt zum Erliegen: Bars, Schulen und Kleiderläden halten die Eingangstür geschlossen. Wochenlang waren die Grenzen zu den Nachbarstaaten zu. Die Menschen zogen sich ins Internet zurück. Die gesetzliche Grundlage, mit der der Alltag außer Kraft gesetzt wird und der Notstand ausgerufen, steht allerdings „op wackelege Féiss“, wie Paulette Lenert zugibt. Man basiert sich zunächst auf einen Ministerialerlass, der sich auf ein Gesetz aus dem Jahr 1885 gegen die Ausbreitung ansteckender Krankheiten bezieht. Wer Grundrechte einschränkt und der Regierung die Entscheidungsgewalt zuweist, muss dies begründen können. Ein Eingriff in Grundrechte muss klaren Kriterien folgen und verhältnismäßig sein. Das Land bemängelt im Frühsommer die Intransparenz der Regierung: „Die blau-rot-grüne Koalition hat ihre Karten immer wieder verdeckt gehalten und Schlüsselinformationen nur auf Druck, stückchenweise oder in letzter Minute zugänglich gemacht.“ Um das Vertrauen und die Kooperation der Bevölkerung nicht zu verlieren, beginnt Lenert schließlich wöchentlich die Entwicklungen rund um die Pandemie zu erläutern.
Oktober-Dezember 2021

Man wolle ihn umbringen, teilte Premier Xavier Bettel dem Parlament Mitte Oktober 2021 mit. Die Morddrohungen habe er erhalten, nachdem er am 8. Oktober erklärt hatte, dass nur noch Geimpfte, Genesene und Getestete Zutritt zu Restaurants haben sollen. Nötig seien dabei zertifizierte Tests – auf eigene Kosten. Man habe keine Wahl, die Regierung wolle so eine Überlastung der Spitäler verhindern und den Druck auf Ungeimpfte erhöhen. Der Impfstatus polarisiert die Gesellschaft im Herbst 2021. Land-Journalist Bernard Thomas begibt sich Mitte Oktober auf eine Marche Blanche und traf dort „auf die Mittelklasse“. Etwa 3 000 Männer und Frauen in ihren Vierzigern und Fünfzigern demonstrieren gegen Impfappelle. Unterschiedliche Sorgen, wie die des Arbeitsplatzverlusts, die Einführung einer Gesundheitsdiktatur oder Impfvergiftungen, trieben sie an. Ungeimpfte fühlen sich am Arbeitsplatz zunehmend isoliert; der Demonstrationszug war eine Gelegenheit, um sich unter Impfkritikern zu solidarisieren. Den sogenannten „klassischen Medien“ trauen sie nicht, die Presse verheimliche die wahren Zahlen – „haut muss een alles hannerfroen, alles“, sagt eine Teilnehmerin.

An dem Umzug anwesend ist Benoît Ochs. Im Sommer 2021 avanciert er zum Star der Antivaxx-Bewegung und marschierte an der Spitze, dafür wird er mit Zuspruch überhäuft. Einige Maßnahmenkritiker sparen nicht mit Judenstern- und Holocaustvergleichen. Ochs sieht eine Parallele zwischen Ärzten, die Kindern einen Impfstoff gegen Covid-19 verabreichen und denjenigen, „die in Nürnberg angeklagt waren“. Solch extravagante Aussagen seien unter Impfkritikern nicht unbedingt der Normalfall, unterstreicht das Land, mehrfach hebt es hervor, dass die Teilnehmer friedlich waren.

Sechs Wochen später wurde eine Randgruppe während einer weiteren Demo gewaltbereit: „Auf der Place d’Armes stürmten sie einen Weihnachtsmarkt, und in Bonneweg demonstrierten sie vor dem Haus des Premierministers, bewarfen die Fassade mit Eiern und zerkratzten die Tür eines Autos, das dem Ehemann von Xavier Bettel gehört“, schrieb Land-Journalist Luc Laboulle. Die Veranstaltung war nicht angemeldet, sondern wurde über Social Media angekündigt – einem Aufruf, dem etwa 2 000 Personen folgten. Vor allem der zum Anti-Vaxx-Influencer mutierte Gefängniswärter Sasha Borsellini verbreitet Informationen über die geplante Demo. Auf seinen Kanälen warnt er vor einem „unausweichlichen Sozialismus“ und verbreitete die Ideen des Volkswirts Markus Krall, der einen Staat fordert, der vor allem Konzerne und Privateigentümer schützt. Die Rechte von Sozialhilfe-Empfängern hingegen sollen eingeschränkt werden. Für einen Teil der Demonstranten geht es darum, das Individuum als einzig relevanten Sozialakteur zu fetischisieren. Kollektive Lösungsvorschläge kamen von ihnen keine.

Dabei gibt es zu dem Zeitpunkt genug Punkte, die mit Blick auf das Gemeinwohl kritisch abgewogen werden können. Wie beispielsweise die wiederholte Isolierung von Alten und Pflegebedürftigen. „Wie ist es mit ihrer Würde zu vereinbaren, wenn Pflegebedürftige nicht einmal in der Schlussphase ihres Lebens entscheiden können, mit wem sie den Moment des letzten Atemzuges teilen wollen?“, fragte das Land. Oder wie es jungen Menschen geht, denen die Freizeit mit der Peergruppe verwehrt ist. Und die denken, ihr Abschluss sei nichts wert, weil Arbeitnehmer diesen als Home-Schooling-Wisch abtun würden. Das Gesundheitspersonal stößt an seine Grenzen, da die coronabedingte Ausdehnung der maximalen Tagesarbeitszeit auf zwölf Stunden erhöht wird. Zwischen Freunden und Familien führt die angespannte Situation zu Streit; einige sehen ihre Zukunftsaussichten dahinschmelzen, fallen gar in eine Depression.
Post-Pandemie

In den USA hat sich die Wut der Impfskeptiker in der MAHA-Gruppierung (Make America Healthy Again) politisch kanalisiert und stabilisiert. Der Impfkritker Robert F. Kennedy führt nun die Geschicke des Gesundheitsministeriums und empfahl Anfang März 2025 Vitamin A gegen einen Masernausbruch in West-Texas. Die ADR konnte hierzulande Stimmen kassieren, weil sie sich Maßnahmenkritisch gab. Dennoch verpuffte das Politisierungspotenzial größtenteils. Roy Reding, gutbetuchter Unternehmer, versuchte sich zwar bei den Wahlen 2023 als glaubwürdiger Antivaxx-Kandidat mit seiner Bewegung „Liberté“ aufzustellen – nachdem er in der ADR isoliert wurde und diese verlassen hatte. Seine ad hoc aufgestellte Partei scheiterte allerdings krachend bei den Wahlen 2023. Ob Donald Trump ein Vorbild für ihn sei, wurde Roy Reding gefragt. Die libertäre Seite des US-Amerikaners spreche ihn durchaus an, antwortete er. Zu dem Zeitpunkt war Covid aus den meisten Köpfen verschwunden, bei Liberté war es als Hintergrundrauschen ständig präsent.

Das Virus verlor seine öffentliche Dauerpräsenz, nachdem am 22. Februar 2022 der Ukraine-Krieg begann. Oder vielleicht schon am 11. Februar, als eine vorgezogene Lockerung die Rückkehrs des Nachtlebens noch für den gleichen Tag versprach; zugleich wurde 3G am Arbeitsplatz fakultativ. DP-Premier Xavier Bettel hatte es eilig zu verkünden, der Staat ziehe sich aus der Verantwortung zurück. Noch am 19. Januar stellte Bettel im Parlament eine Impfplicht für Über-50-Jährige sowie für Mitarbeitende des Gesundheitssektors in Aussicht. Paulette Lenert ihrerseits wollte eine Impfpflicht-Debatte umgehen. Da sich die Omikron-Variante als weniger aggressiv herausstellte und sich im Frühjahr 2022 eine hohe Immunität herauskristallisierte, trat schließlich keine Impfpflicht in Kraft.  Der Pandemie-Exit gelang; die meisten schoben das Covid-Thema in Quarantäne. Für Covid-Long-Erkrankte, blieben die Nachwehen jedoch spürbar.

Fünf Jahre nach Beginn der Pandemie vermisst man eine transparente Aufarbeitung der Coronajahre – über die medizinischen, politischen, ökonomischen und sozialen Aspekte. Strafrechtsprofessor Stefan Braum von der Universität Luxemburg meinte diese Woche im Wort, ein guter Anfang wäre, wenn die Politik gesteht, „dass die Maßnahmen zum Teil schwerwiegende Eingriffe in Grundrechte und den Rechtsstaat waren.“ Die juristische Grundlage für den Fall einer erneuten Pandemie stehe immer noch „op wackelege Féiss“. Es liege immer noch kein Pandemieschutzgesetz vor. Beschleunigte Gesetzgebungsverfahren, wie in der Pandemie durchgeführt, dürften sich nicht normalisieren – denn sie könnten „die Demokratie weiter aushöhlen“. Julie-Suzanne Bausch, Mitglied des nationalen Ethikrates, forderte am Samstag im RTL-Background ein Strategiepapier. Eine Art „Think-Tank“, in dem unterschiedliche Akteure zu Wort kommen, solle einen Plan ausarbeiten, damit man auf die nächste Pandemie vorbereitet ist. Offen ist weiterhin auch wie schnell das Polarisierungspotenzial sich reaktiviert.

Note de bas de page

Stéphanie Majerus
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