Eine Chronik der Pandemie innerhalb und außerhalb der Intensivstation

Bio-politische Mutationen

d'Lëtzebuerger Land vom 01.07.2022

Wohnung suchen, Umzug von Paris nach Luxemburg organisieren, eingewöhnen in den Arbeitsalltag der Intensivstation am CHL – so begann der Januar 2020 für den Intensivmediziner Jean Reuter. Er erinnert sich: Zwischen Kartons ein- und auspacken erreichten mich die ersten Nachrichten über eine Epidemie in China. Dann kam es zu ersten Fällen in Europa. In Paris wurden Patienten im Hôpital Bichat isoliert – dort wo ich einen Großteil meiner Ausbildung absolviert hatte. Ehemalige Kollegen berichteten von einem Krankheitsbild, das ähnlich wie eine Lungenentzündung bei einer viralen Grippe sei, und man deshalb beispielsweise keine Kortikoide geben sollte. Später entpuppte sich das als Fehler, weil Kortikoide bei Covid Überreaktionen des Immunsystems eindämmen – so tasteten wir uns an die Krankheit heran. Vieles blieb zunächst vage: die Symptombeschreibung war noch nicht solide, die WHO war weit davon entfernt, eine Pandemie auszurufen – man sprach von Clustern, die zu zähmen seien. Mitte Februar kippte die Zuversicht; es zeichnete sich ab, dass sich das Virus ungebremst in Italien ausbreitete. Am 29. Februar war in Luxemburg der erste Covid-19-Patient ermittelt worden. Und im Team standen wir unter Druck: Was tun, wenn die ersten Patienten in den Klinikbetten liegen, können wir das Spital verlassen oder sollten wir hier übernachten? Wir hatten Angst, Familienangehörige anzustecken. Gänzlich neu sind solche Fragen für uns nicht, wir sind ausgebildet, um Infektionskrankheiten zu behandeln; im CHL sind Schutzausrüstungen für Ebola-Patienten und hochwertige technische Geräte vorhanden.

Erst am Mittwoch, den 11. März, stufte die Weltgesundheitsorganisation Covid-19 als Pandemie ein. An dem Tag zählte man weltweit mehr als 120 000 offiziell infizierte Menschen und fast 4 400 Todesfälle; in Luxemburg gab es sieben bestätigte Fälle; weitere 79 Personen harrten in häuslicher Quarantäne aus. Von einem Lockdown war noch keine Rede: Die Regierung entschied, Veranstaltungen mit mehr als 1 000 Teilnehmern zu untersagen und dies optimistisch lediglich bis Ende März. An jenem Mittwoch dachte man noch, das Virus verbreite sich ähnlich häufig über Schmier- wie über Tröpfcheninfektion, weshalb Premier Xavier Bettel (DP) während eines Pressebriefings dreimal in den Raum rief: „Und: Händewaschen!“. Der deutsche Virologe Christian Drosten sagte an dem gleichen Nachmittag, zu hoffen, dass bald Impfstoffe und Medikamente gegen Covid-19 zur Verfügung stehen werden, sei „Sciencefiction“. 

Samstags, am 14. März 2020, klingelte bei mir das Telefon; ein Covid-Patient müsse dringend auf die Intensivstation eingeliefert werden, er leide an akutem Sauerstoffmangel. Am gleichen Abend habe ich den Patienten intubiert – so gingen Ärzt/innen weltweit zunächst vor. Sechs Monate später zeigten Forschungsresultate, dass eine nicht-invasive Beatmung, bei der Patienten bei Bewusstsein bleiben, sich problemfreier umsetzen lässt als zunächst gedacht. Bei dieser Behandlungsart werden Patienten nicht in ein Koma versetzt, sie rehabilitieren sich besser und leiden nicht an Muskelschwund. Der erste CHL-Patient überlebte; aber es kamen weitere und innerhalb kurzer Zeit war die Station mit Personen belegt, die nahezu alle die gleiche Pathologie aufwiesen. Ausgerüstet wie Astronauten arbeiteten wir auf der Station; das schafft Distanz: Der Blickkontakt ist begrenzt, der Patient erkennt das Individuum unter seiner Schutzuniform nur mit Mühe. Hinzu kam, dass in der ersten Pandemie-Phase Besuche nicht erlaubt waren; nur über I-pads waren Videogespräche möglich. Das medizinische Personal, das auf einer Intensivstation arbeitet, macht sich keine Illusionen über Unsterblichkeit, jede fünfte Person stirbt hier, in diesem Beruf lernt man mit dem Tod umzugehen. Trotzdem war es bedrückend mitzuerleben, wie Covid-Erkrankte alleine, ohne die Anwesenheit von Angehörigen, starben. Rückblickend mag man uns vorhalten, das sei übertrieben gewesen, aber damals wussten wir nicht, wie schnell sich das Virus überträgt, und wie hoch die Sterberate ist. Das Umfeld in dem sich die Intensivpatienten befinden, ist zudem ungewöhnlich. Bei uns beispielsweise gibt es zwar große Fenster, aber das ist häufig nicht der Fall. Dann wissen die Kranken nicht, ob es draußen hell oder dunkel ist. Hintergrundgeräusche und Lichtsignale von Geräten wie Elektrokardiogramm (EKG) und Beatmungsgeräten durchwimmern den Raum. Ein Patient erzählte unserer Psychologin, er habe die medizinischen Geräte mit einem DJ-Set verwechselt, aus dem eine furchteinflößende Musik ertönte. Viele berichteten ihr auch von Erstickungsangst und Albträumen, in denen sie dachten, sie würden sterben, andere erwähnten außerkörperliche Erfahrungen.

Von Ausnahmesituationen wie in Norditalien, wo auch die Normalstationen stark überlastet waren, blieb Luxemburg verschont. Verhindert wurde dies durch einen Lockdown, der Mitte März umgesetzt wurde und der die ungezügelte Verbreitung des Virus zunächst eindämmte. Eine Woche nachdem die WHO eine Covid19-Pandemie ausrief, mahnte Xavier Bettel nicht mehr nur, man solle sich die Hände waschen, sondern: „Bleift doheem!“ Und CHL-Generaldirektor Romain Nati twitterte: „Mir sinn am Krich, hëlleft eis“; die Bevölkerung solle dem „social distancing“ nachkommen – und daheim bleiben. Das Parlament stand vereint hinter der Regierung, als diese den Ausnahmezustand ausrief; die CSV-Abgeordnete Martine Hansen betonte die parteiübergreifende Natur der Pandemie: „In der Krise sitzen wir alle in einem Boot.“ Im Ausnahmezustand kann die Regierung ohne das Einverständnis der Abgeordneten Entscheidungen treffen – ein besonders prekärer Zustand für eine Demokratie. Am Tag nach Bettels „Bleift doheem!“-Ansage wurden 335 Fälle ermittelt und knapp zehn Tage später, am 28. März, bereits 15 Tote gemeldet. Das gesellschaftliche Leben in ganz Europa stand still: Restaurants, Schulen und Geschäfte hielten die Eingangstür geschlossen. Das öffentliche Leben außerhalb des Internets war zum Erliegen gekommen. Die Grenzen zu den Nachbarstaaten waren wochenlang zu.

Auf der Intensivstation kam das Personal nicht zur Ruhe. Fortlaufend wurde versucht, die neue Krankheit zu verstehen – wie kann man sie besser behandeln, was wissen die Kollegen im Ausland? Die Mortalität war zu Beginn relativ hoch, wir hatten kaum Erfahrungswerte und Therapien, um die Patienten erstklassig behandeln zu können. Zuhause war es eng – einer Wohnung im vierten Stock mit zwei kleinen Kindern. Wir drehten uns im Kreis. Mit der Romantisierung des Lockdowns als Zwangsentschleunigung konnte meine Familie nichts anfangen. So ging es nicht nur uns. Zugleich kam es zu einer Anerkennung von prekären Berufen und dem Gesundheitswesen – natürlich war das ein erfreulicher Aspekt.

An der politischen Front bereitete man ein Large-Scale Testing vor, das von Ende Mai bis Ende Juli 2020 dauern sollte. So könnte die Gesellschaft sorgenloser die Lockerungen der Maßnahmen angehen. Inwiefern das Large-Scale Testing eigentlich als Forschungsprojekt angedacht war, denn als Projekt zur Förderung der öffentlichen Gesundheit, muss noch geklärt werden. Bisheriger Höhepunkt der Kritik am Large-Scale Testing war, als der Arzt Gérard Schockmel im RTL-Kloertext anprangerte, ein positiver Test hätte „de Präis vun engem neie VW Golf“. In einer ersten Phase wurden etwas mehr als 1 000 Fälle bei mehr als 550 000 Tests entdeckt, so seine Rechnung.

Der Spiegel titelte im Juli 2020: „In Luxemburg gibt es so viele Coronafälle pro Einwohner wie sonst nirgends in Europa“. Und Deutschland wollte Luxemburg mitten in der Urlaubszeit zum Corona-Risikogebiet erklären. Daraufhin klingelten die diplomatischen Telefonleitungen und Jean-Asselborn (LSAP) behauptete gegenüber dem Tageblatt: „Ich habe mit meinen Leuten alles unternommen, damit in Berlin eingesehen wird, dass das nicht gut ist.“ Was er auch schaffte. Das Sozialleben findet eingeschränkt wieder statt; Begegnungen in öffentlichen Innenräumen nun mit Masken. In öffentlichen Verkehrsmitteln müssen Nutzer den Mund-Nasen-Schutz noch bis Mitte Juni 2022 tragen. Im CHL wurden ab Sommer 2020 nicht mehr wie in der Anfangsphase zuvorderst Rückkehrer aus dem Ski-Urlaub und Personen aus deren Umfeld behandelt, sondern überwiegend über 60-Jährige, mit Vorerkrankungen wie Diabetes. Allerdings sahen wir wenige Immunsupprimierte – wahrscheinlich hat diese Risikogruppe sich im ersten Pandemiejahr am konsequentesten geschützt.

In der zweiten Welle im Herbst 2020 kam es zu mehr oder weniger virulenten Meinungsunterschieden zwischen Eltern, Lehrern und der Regierung. „Stoppt die Märchenstunde!“, lautete der Appell der Lehrergewerkschaft Feduse/CGFP an Erziehungsminister Claude Meisch (DP). Er solle eine Maskenpflicht an allen Schulen einführen und über partiellen Distanzunterricht nachdenken. Der Bildungsminister blieb Ende Oktober jedoch gelassen, Hauptinfektionsquelle sei nicht die Schule, sondern das Familienumfeld. Zugleich zeigten neue Studien, dass der Sicherheitsabstand von zwei Metern für die Maskenabnahme womöglich nicht ausreicht, da sich das Virus über Aerosole ausbreitet – das Lüften wurde zum neuen Händewaschen.

Zu dem Zeitpunkt waren die Fallzahlen bereits sehr hoch. In der letzten Oktoberwoche wurden 3 629 Personen positiv getestet, weshalb Jean Reuter twitterte: „Vous voyez le mur qui nous attend? Le confinement, c›est pour quand?“, und verlinkte das Gesundheitsministerium. Es war frustrierend zu wissen, dass wir nicht mehr die bestmögliche Behandlung bieten konnten. Anders als in der ersten Welle waren wir besser ausgestattet, wir hatten mehr Beatmungsgeräte aber weiterhin Personalmangel. Wenn man 200 Busse besitzt, aber nur 100 Fahrer, hat man ein Problem. Mit meinem Tweet wollte ich darauf Aufmerksam machen. Über dem ganzen Personal- und Platzmangel-Trubel schwebte dennoch Zuversicht, weil vielversprechende Ergebnisse zu den mRNA-Impfstoffen vorlagen; die Hersteller sprachen gar von einem möglichen Impfschutz von 90 Prozent. Anders als im Frühling versuchte die DP-LSAP-Grüne-Regierung das gesellschaftliche Leben möglichst aufrechtzuerhalten. Aus der Wirtschaft und vom Statec-Direktor kamen mahnende Worte: So behauptete Serge Allegrezza im Luxemburger Wort, es würde zu einer Arbeitslosenquote von zehn Prozent kommen, falls die Bürgersteige erneut hochgeklappt würden.

Am 11. November wurden 750 Covid-Fälle unter Altenheim-Bewohner/innen und 610 unter Mitarbeitenden ermittelt. Eine völlige Isolierung von älteren Menschen über Wochen wird im Herbst über Schutzkleidung vermieden; ohnehin hatte die Ethikkommission geurteilt, Angehörigen den Zutritt zu Covid-19 Schwererkrankten zu verwehren, sei „eine nicht hinnehmbare Diskriminierung“. Das Personal in dem Gesundheits- und Pflegebereich stößt an seine Grenzen, die coronabedingte Ausdehnung der maximalen Tagesarbeitszeit wurde auf zwölf Stunden erhöht. Die DP-Ministerin Corinne Cahen wird von der Presse und Opposition kritisiert: Die Lage in den Heimen sei unübersichtlich, die Ministerin kommuniziere nicht und von Clusterbildungen erfahre man nur auf Nachfrage. Während das Zutrauen in die DP-Politikerin sank, führte Gesundheitsministerin Paulette Lenert in der Beliebtheitsskala mit 90 Prozent im November 2020. Ein Jahr zuvor kam sie im Politmonitor nur auf 28 Prozent. Mit ihrer unaufgeregten Art hinterließ die zuvor unbekannte LSAP-Politikerin bei den Wählern Eindruck.

Im Internet radikalisierten sich derweil Verschwörungsgläubige und verbreiteten Falschinformationen. Vor allem der ehemalige RTL- und DNR-Animateur Bas Schagen avancierte mit BasTV zu einem Verschwörungsguru; seine Gesprächsgäste hielten Monologe über gefälschte Positivitätsraten und mit den Maßnahmen werfe die Regierung „mit Atombomben auf Spatzen“. Kurz vor Weihnachten 2020 besetzen Maßnehmengegner die Place d’Armes. Ich war schockiert über ihre weißen, anonymisierenden Masken sowie Kostümierung. Aus ihren Lautsprechern dröhnte ein düster-dystopischer Sound über den Platz. Mit dieser Demo war klar, dass der Hygiene-Demo-Zynismus und Hydroxychloroquin-Verdrehungen aus den Nachbarländern übergeschwappt waren. Die ersten Demonstranten zog es dabei in die Öffentlichkeit, als die zweite Infektionswelle das Pflegepersonal zu Überstunden zwang und die Intensivstation überlastet war. Wou leeë mer den Patient hin? – es war nahezu kein Platz mehr im Krankenhaus.

Im Januar 2021 dominierten zunächst die Impfdrängler die medialen Schlagzeilen: „Mir hunn eis net virgedréckt“, behauptete der damalige Präsident der Robert-Schuman-Krankenhausstiftung und früherer CSV-Minister, Jean-Louis Schiltz, auf einer Pressekonferenz, nachdem bekannt wurde, dass sie sich impfen ließen, obwohl laut Richtlinie zunächst Einladungen an das Spitalpersonal gingen, das im direkten Kontakt mit Patienten/innen stand.

Während eine Mehrheit auf den Impfstoff wartete, schürten Impfgegner/innen Ängste – er mache unfruchtbar und sei nicht ausreichend getestet worden. Die laute Minderheit der Impfgegner blieb nicht außerhalb der Spitalmauern. Ein paar kehrten als Patienten auf die Intensivstation ein: Ich erinnere mich an einen Mann, dessen Arzt ihm dringend empfohlen hatte sich zu impfen, da er Vorerkrankungen hat. Erst auf der Intensivstation sah er ein, dass das Virus tatsächlich existiert. Ein nicht-geimpfter Mediziner versuchte sich mit Hydroxychloroquin, chinesischen Kräutern und Ivermectin selbst zu behandeln. Über mehrere Wochen war er an ein Ecmo angeschlossen und mir ist nicht klar, ob er nach den drei Monaten erkannt hat, dass seine Eigentherapie nichts nutzte. Ein Weiterer wehrte sich gegen eine Bluttransfusion, da er befürchtete, über dieses Blut mit der Corona-Impfung kontaminiert zu werden. Wir haben versucht ihm zu erklären, dass er riskiere zu sterben, woraufhin er uns antwortete, dass er dies akzeptiere. Der ADR-Politiker Roy Reding unterstützte solche Ängste, indem er an die Gesundheitsministerin eine parlementarische Anfrage richtete, in der er wissen wollte, wie Patienten sich im „Ernstfall“ gegen „das Risiko der Aufnahme eines mRNA-Impfstoffes über eine Blutspende“ auflehnen können. Diese vehemente Ablehnung von Bluttransfusionen kennt man als Arzt eher von den Zeugen Jehovas. Sie argumentieren, Blut sei gemäß der Bibel etwas Heiliges, mit dem umzugehen Gott vorbehalten sei. Nun sind wir in den Pflegeberufen mit der Frage konfrontiert, wie religiös aufgeladen die Furcht vor nicht körpereignen Substanzen bei Impfgegnern ist.

Der Sommer 2021 wurde zur Covid-Check-Kontrolle: Wer ins Ausland fuhr oder in ein Restaurant wollte, dem wird die Einreise oder den Zugang durch den „Geimpft-“ und „Genesen“-Status erleichtert oder muss zu einem „Getesteten“ werden. Zeitgleich wurde die Covid-Check-Einführung von der Delta-Variante begleitet, die der Premier Xavier Bettel im Juni noch „déi indesch Variant“ nannte und die die Infektionszahlen sowie virologischen Unbekannten hoch hielt. Am 27. Juni machten sich beim Staatsminister die ersten Symptome bemerkbar, eine Woche später kam er wegen unzureichender Sauerstoffsättigung für eine paar Tage ins Krankenhaus. Die Presse berichtete von Feiern am Vorabend zu Nationalfeiertag, unter anderem in dem Nachtclub Saumur, wo sich der Premier möglicherweise angesteckt habe.

Der Impf-Enthusiasmus der ersten Jahreshälfte war Ende 2021 verflogen. Mitte November waren laut EU-Seuchenschutzzentrum ECDC 65,2 Prozent der Luxemburger Bevölkerung (ab zwölf) zweimal geimpft. Um den Prozentsatz zu erhöhen, organisierte die Regierung im Dezember eine „Impfwoche“ und plazierte landesweit Pop-up-Impfstellen auf Weihnachtsmärkten und in Einkaufszentren. Eine Impfpflicht-Debatte wurde von der Regierung stets gescheut, im Winter jedoch kochte sie hoch. Xavier Bettel behauptete gegenüber Le Quotidien sie sei „toujours une possibilité“. Der Virologe Claude Müller erklärte im gleichen Zeitraum gegenüber dem Land: „Man müsste sich darüber klarwerden, ob man damit bestimmte Bevölkerungsgruppen schützen will oder die gesamte Bevölkerung. Oder ob sie vor allem dazu dienen soll, die Krankenhäuser vor einer Überlastung zu bewahren, oder man hofft, damit das Coronavirus auszumerzen“. Bis heute sind diese Fragen noch nicht geklärt (siehe S. 4).

Zudem kristallisierte sich im Zuge der Impfdebatte heraus, dass in Spitälern bestimmte Berufsgruppen impfskeptisch sind. Bereits vor zwölf Jahren kam das Robert Koch Institut nach einer Umfrage zu dem Schluss, insbesondere Hebammen hätten eine impfkritische Haltung und lehnten eine Reihe an offiziell empfohlenen Impfungen ab. Am Anfang der Pandemie war ich eigentlich gegen eine Impfpflicht für das Personal im Gesundheitswesen. Mittlerweile habe ich meine Meinung geändert: Weshalb in einer Institution arbeiten, deren Standard, der auf evidenzbasierter Medizin beruht, man nicht akzeptiert? Als Krankenhaus müssen wir einen möglichst verlässlichen Schutz vor dem Coronavirus bieten.

Während der Corona-Pandemie ergriffen immer mehr Wissenschaftler und Ärzte das Wort. Zunächst waren Forscher mit wenig klinischem Hintergrund wie Ulf Nehrbass und Paul Wilmes öfters im Fernsehen oder Radio zu hören. Später vermehrt ausgebildete Ärzte wie Gerard Schockmel, Claude Muller und Jean Reuter. Ich dachte es sei von gesellschaftlichem Nutzen, wenn Personen aus dem Fach von ihrer Arbeit erzählen. Warum sollte die Gesundheitsministerin Lenert den Vorgang auf Intensivstationen erklären müssen? Wenn Politiker über medizinische Therapien berichten, ist die Medizin weniger vor einer Politisierung gefeit. Deshalb habe ich mich während der Pandemie auch nicht zur Immobilien- oder Verkehrspolitik geäußert, obwohl ich politisch interessiert bin, aber ich wollte als Experte für medizinische Fragen fungieren. Ich habe mich in Interviews auch nie gegenüber einer allgemeinen Impflicht, also für Einwohner, die nicht in einem Gesundheitsberuf tätig sind, positioniert, weil das sind politische Fragen. Jetzt, nach zwei Jahren Pandemie, äußere ich mich wieder als Bürger zu politischen Fragen.

Bevor ich an Live-Sendungen teilnahm, überlegte ich mir, welche Hauptbotschaft ich übermitteln wollte und wie ich diese für ein Publikum, das nicht vom Fach ist, möglichst anschaulich und einfach darlegen könnte. Während dem Studium gibt es keine Unterrichtseinheit, die in die Wissenschaftskommunikation einführt, Ratschläge holte ich bei Familienmitgliedern ein. Zumeist begrüßten die Zuhörer, mehr über das Innenleben des Spitals zu erfahren. Aber mit dem Fortdauern der Pandemie, häuften sich zugleich die Anfeindungen: Mir wärten Iech ukloen, Big-Pharma-Reuter, crime contre l’humanité, antworteten mir Social-Media-Nutzer. Das ist nicht angenehm. Als im Dezember 2021 eine radikalisierte Impfgegner-Minderheit auf der place d’Armes den Weihnachtsmarkt stürmte und in Bonneweg die Fassade des Premierministers mit Eiern bewarf und das Auto von seinem Ehemann zerkratzte, war ich beunruhigt. Fir d’Famill ass et net einfach.  

Immer wieder wird seit Sommer 2020 über Long-Covid berichtet; von Personen, überwiegend Frauen, die an Erschöpfung, Muskelschmerzen, Blutdruckproblemen und brain fog leiden und deshalb zum Teil arbeitsunfähig sind. Im Parlament griffen vor allem Josée Lorsché (Déi Gréng) und Claude Wiseler die Problematik auf und forderten Maßnahmen zur Nachversorgung. Über 600 Long-Covid-Patienten sind bisher in einem interdisziplinären Reha-Programm eingeschrieben, in dem somatische Interventionen und eine psychotherapeutische Begleitung angeboten werden. Die Regierung und die Wissenschaftler informieren kaum über Long-Covid: Wie gravierend sind die Fälle und wieviele gibt es? In dem Zusammenhang müsste ebenfalls über das Post-Vakzin-Syndrom, das Long-Covid sehr ähnelt, aufgeklärt werden, und das nach einer mRNA-Impfung auftreten kann. Der Arzt Eckart von Hirschhausen wies am Mittwoch bei Maischberger (ARD) auf diese „unbequeme Wahrheit“ hin, die man nicht der Boulevard-Presse überlassen sollte.

An diesem Mittwoch wurden 1 365 Neuinfektionen gemeldet und 22 Hospitalisierte. Modellierungen der Uni.lu zeigen, dass sich die Omikron B.A.5-Variante zwar schnell ausbreitet, aber die Krankhäuser wohl nicht außerordentlich belastet werden. Die Impfquote liegt derzeit bei nahezu 80 Prozent und viele haben eine Omikron-Infektion durchgemacht, so dass eine Grundimmunität in der Gesellschaft vorhanden ist. Zu den kommenden Monaten äußerte sich der Abgeordnete Mars Di Bartolomeo (LSAP) am Mittwoch in der Kammer: „Das Virus lauert weiter und alles hängt davon ab, wie es sich entwickelt und mutiert.“ Jean Reuter urteilt: Das Virus hat immer wieder für Überraschungen gesorgt, man sollte sich auf unterschiedliche Szenarien vorbereiten und die Politik sollte ihre Covid-Maßnahmen der vergangenen zwei Jahre evaluieren, um künftig möglichst angemessen handeln zu können.

Seit Beginn der Pandemie sind 1 093 Menschen an Covid gestorben. Eine öffentliche Zeremonie zum Gedenken der Verstorbenen fand nach zwei Jahren Pandemie noch nicht statt.

Stéphanie Majerus
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