Die kleine Zeitzeugin

Europa, Fragespiel ohne Antworten

d'Lëtzebuerger Land du 24.11.2017

Europa, Hallo, wer bist du jetzt? Wir kennen uns nicht mehr richtig aus, du bist mal so, mal so, kaum haben wir eine Diagnose, hast du schon neue Symptome. Keiner weiß, was du hast. Keiner weiß, wohin du gehst, wie weit, zu welchem Preis. Wer dich steuert, also uns.

Und wenn wir wählen, wen wählen wir da eigentlich?

Niemand will mehr Partei sein, alle wollen Bewegung sein, En Marche, aber wohin nur? Und nimmst du, neues bewegliches Europa, dann deine Menschen mit, holst du sie ab, wie ja dauernd gesagt wird, oder lässt du sie zuhause, da ist es auch schön, in der schon etwas länger nicht mehr renovierten Wohnung, wo die Leute im Fernsehen hören, wie toll es doch nicht ist; sie dürfen auch gern in der besten aller Welten auf der etwas ausgeleierten Couch neben dem Kuscheltier sitzen bleiben. Und sich von niedlichen Robotern erzählen lassen, die machen das schon, die kriegen keine Periode, keine Kinder, noch nicht, und haben bessere Bandscheiben. Die müssen nicht aufs Klo und machen keine Rauchpause. Die sind einfach nicht so unappetitlich.

Nein, das willst du Europa natürlich nicht, aber es ist sehr schwer, Europa zu sein, das müssen wir ehrlich zugeben. Diese Demos, diese Demokratie, Menschenrechte, diese Gesetze, keine Todesstrafe, danke schön, es ist beruhigend, nicht geköpft zu werden, egal welche Stimmen plötzlich zu uns in uns aus uns sprechen. Demokratie ist eben nicht Fast oder Light, sie ist langsam und umständlich, nichts für Kokserinnen oder Cowboys.

Der junge Wolf reißt alle Lammfrommen! Ist Deutschland, die viel gerühmte Bastion der Stabilität, jetzt ein Opfer dieser Demokratie? Ganz durcheinander ist es jetzt, alle sprechen durcheinander Ohnmachtworte, aber die Expertinnen beruhigen, Deutschland wird weder Belgien noch Somalia. Es spielt Schwarzen Peter und zückt den bockigen Sündenbock. GrokoGroko, wird gebetet, klingt nicht Appetit anregend, aber denkt an die Kinder. Und an die Nachbarn. Denkt an Europa, und Augen zu und durch! Heiliger Strohsack Martin, zieh den Karren aus dem Dreck! Der Luther-Promoter mahnt, in einem Schloss redet der einsame Schlossherr den verirrten Schafsköpfen ins Gewissen. Die grünen Streber_innen sind pflichtbewusst, der biedere Anton, der brave Cem, die Frau, die immer so lieb müde ausschaut, sicher liest sie Gute-Nacht-Geschichten vor, wenn sie aus Jamaika kommt. Uff, gut, dass es die Grünen gibt! Denn wo ist Mutter Merkel? Alles geht drunter und drüber, es wird geschwänzt, jeder macht was er will, dann haut der Rotzlöffel ab und alles hin. Mutter!

Gerade waren noch die alten Damen in, schon sind sie wieder out. Ein Horror-Clown hat Hillary ausgebootet, die Kinder flüstern laut darüber, Mutter Merkel endgültig abzuschieben. Model Theresa High on Heels stolpert von Fettnapf zu Fettnapf und Madame le Pen blättert im Feindbilderbuch, welchen nehmen wir jetzt? Dauernd nehmen sie uns die besten Bösen weg.

Diese Jungs, die haben ein Tempo drauf! Junge Wölfe in eng geschnittenen Anzügen, Macron umarmt hektisch und hypnotisiert seine Beute. Während seine Mitmarschierer_innen plötzlich checken, dass sie auf einem Ego-Trip sind, leider nicht auf ihrem. Einen irritierenden jungen Mann, der kaum Alkohol und weder Kaffee trinke noch rauche, nennt der Kettenraucher und österreichische Bundespräsident den zukünftigen Kanzler seines Landes. Sebastian Kurz ein Islamist? Nein, dann würde er rauchen und Drogen nehmen. Er ist auf der Machtdroge.

Umspukt von Gespenstern und Widergängsterinnen aus dem Gauland, das es in ganz Europa gibt, tritt Mr. X derzeit epidemisch auf: der Clevere, der Smarte, der Gegelte, der Multi-Kompatible, der alles ist und nichts, für jede alles und für jede nichts. Die Anhänger_innen haben leuchtende Augen, sie haben etwas vor. Es schwebt ihnen sogar etwas vor, nur was es genau ist, können sie uns so schwer erklären. Es geht um Glauben. An etwas glauben.

Nur an was?

Michèle Thoma
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