MOSTRA INTERNAZIONALE D’ARTE CINEMATOGRAFICA

Die David gegen Goliaths

d'Lëtzebuerger Land vom 16.09.2022

Hätte vergangenes Wochenende die Preisverleihung der Berlinale stattgefunden, dann hätten die film vincitori nicht so überrascht. Aber Venedig ist nun mal nicht Berlin. Von daher wurden eben nicht die Favoriten Khers Nist (No Bears) von Jafar Panahi oder Saint Omer von Alice Diop mit dem Leone d’oro ausgezeichnet, sondern Laura Poitras’ Dokumentarfilm All the Beauty and the Bloodshed. Diese Überraschung war letzten Endes aber keine frustrierende, wurden die zwei anderen Spielfilme doch mit dem Spezialpreis der Jury sowie dem Großen Jurypreis gekrönt. Bei der Berlinale hätte das politische Statement, den Hauptpreis an den iranischen Film zu überreichen – dessen Regisseur und viele andere vor Kurzem eine jahrelange Haftstrafe antreten mussten – , alle andere Argumente übertrumpft. Die drei Filme wären legitime Gewinner des Goldenen Löwen gewesen.

All the Beauty ist somit der zweite Dokumentarfilm in der Geschichte des Festivals, der den wichtigen Preis gewonnen hat, und Laura Poitras die dritte Regisseurin in Folge, die mit dem Löwen ausgezeichnet wurde. Es gab vereinzelt Stimmen, die den Wettbewerbsplatz in Frage stellten: Wo in ihrem Porträt von Nan Goldin das Kino geblieben sei. All the Beauty ist vielleicht nicht das Kammerspiel von Citizenfour, hat aber trotzdem seine ästhethische Daseinsberechtigung. Poitras räumt den Fotografien der Künstlerin einen nicht zu unterschätzenden Platz ein und verlängert den Gestus ihrer Arbeiten durch den ganzen Film. Er ist das Porträt von Goldin, aber auch von New York und seiner Kunstszene der späten 1960-er bis heute, von Warhol bis Aids, und seiner schwulen uns lesbischen Misfits. Und es ein Film über Goldins Kampf gegen den Pharmakonzern Purdue und die Sackler-Familie, die einerseits für die Opioiden-Krise in den Staaten mitverantwortlich ist, andererseits kulturelle Institutionen und Museen – MoMA, Guggenheim, et cetera, in deren Sammlungen Goldins Arbeiten sind – mit Geld überhäuften. All the Beauty erzählt von Goldins aktivistischen Anstrengungen mit P.A.I.N., die Sacklers zur Verantwortung zu ziehen. Eine David gegen Goliaths. Die David ist hierbei nicht nur eine unkaputtbare Heldin, sondern auch noch eine coole Sau, wie sie vorm Herrn steht.

Für objektives Stirnrunzeln sorgte dann doch die Verleihung des Luigi de Laurentiis Venice Award für den besten Debütfilm an Saint Omer. Alice Diops Film mag vielleicht auf den ersten Blick ihr erster film de fiction sein. Doch wer sich mit ihrer Arbeit beschäftigt, erkennt, dass sie schon immer Elemente des Dokumentarischen und der Fiktion vermischt. Und ihr erster abendfüllender Film ist Saint Omer sowieso nicht. All das hätte Jurypräsident Michaelangelo Frammartino wissen müssen. Und dann einem Dokumentarfilm den Hauptpreis übergeben? Zu viele Jurys verderben den Filmbrei. Nun gut.

Saint Omer ist eine überwältigende Reflektion zur Mutterschaft. Eine Autorin – vielleicht ein Alter-Ego von Alice Diop – macht sich auf den Weg nach Saint Omer bei Lille, um einem Gerichtsprozess beizustehen, bei dem eine junge Frau des Mordes an ihrem eigenen Kleinkind angeklagt ist. Diop versucht gar nicht, das Unerklärliche zu erklären, zeichnet aber ein vielschichtiges Psychogramm aller Beteiligten, auch das der Zuschauer/innen, und schreibt die Regeln, was ein Gerichtsdrama sein kann, neu. Panahi seinerseits schreibt mit No Bears sein explizitestes Kapitel seines selbstreferenziellen Kinos. Selbstreferenziell, weniger im ironischen Augenzwinker-Modus, wie man es sonst kennt, sondern selbstreferenziell, weil es um alles geht. Für Panahi und alle anderen auch, die versuchen, Kino zu machen und das Theater des iranischen Daseins zu leben und zu überleben. Irgendwie. Oft macht die Fiktion die (totalitäre) Realität oft erst aushaltbar. Das beweist das – vereinfacht gesagt – Metakino von Panahi, aber zum Beispiel auch der iranische Orizzonti-Gewinnerfilm World War III, in dem sich ein unwissender Tagelöhner plötzlich auf dem Set eines Nazi-Kriegsfilmes befindet und nicht lange danach im Hitler-Kostüm vor der Kamera steht.

Die beiden Preise an Bones and All von Luca Guadagnino – der für die Regie und der für das emerging talent – bleiben schleierhaft. Sein coming of age-Film über Kannibalismus und Vampirismus, der sich wie ein Riff auf Badlands verstehen will, bringt in keinerlei Hinsicht etwas Neues ans Licht, und auch die Chemie zwischen den von Timmy Chalamet und Taylor Russell gespielten Figuren bleibt auf der Strecke. Beide Preise hätten an Romain Gavras’ Film Athena gehen können. Man kann von diesem Film halten, was man will, aber die Inszenierung der ersten Dreiviertelstunde ist so atemberaubend, dass einem der Mund offenstehen bleibt, und die Energie von Sami Slimane ist fast haptisch greifbar. Am Ende ging Netflix – mit vier Filmen im Wettbewerb – komplett leer aus. Sogar Favorit Brandon Fraser hat es nicht geschafft. Nur auf eines war Verlass: Wenn Cate Blanchett eine lesbische Figur in einem von einem Todd Fields inszenierten Film spielt, regnet es potenziell Preise. Coppa volpi – verdient! – für die Australierin in Todd Fields TÁR.

Tom Dockal
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