Die kleine Zeitzeugin

Ein Pony steht Spalier

d'Lëtzebuerger Land vom 23.09.2022

Den ganzen endlos langen Tag dauert der Zirkus, mit zahllosen Mitwirkenden. Mit Akrobaten, Tieren, exotisch Kostümierten und originellen Darbietungen. Die Manege ist gewaltig, die Schauplätze vielfältig, das Publikum andächtig. Das Publikum ist auch Teil des Zirkus. Manche sind in Fahnen gehüllt, oder tragen Haarschleifen im Minnie-Look in den Nationalfarben oder lustige Hüte. Alles dreht sich um eine magische Kiste mit einer zauberhaften Decke, auf der eine Krone thront. Ein knisterndes Funkeln geht von ihr aus, fein wie das Funkeln von Sternen. Die Kiste ist ein Sarg, und drinnen liegt eine tote Königin. Der Zirkus ist ein Trauerzirkus.

Gerade hatte die Königin ein paar Tage Ruhe, wann ist endlich ewige? Aus dem fernen Schottland war sie angereist, der Todestrip dauert schon so lang, mit all seinen Hürden, Herausforderungen, Hoppalas. Wobei alles perfekt geplant ist, durchinszeniert. Die Rituale geprobt. Die Feierlichkeiten durchexerziert. Quadrate aus hübsch kostümiertem Menschenmaterial schieben sich über nackte Plätze. Trompeter blasen in Trompeten, es wird salutiert, paradiert, marschiert, eigenwillige Schrittkompositionen wechseln sich ab, fremdartige Objekte werden geschwungen und balanciert.

Bärenfellmützen werden von Männern mit Bärenkräften ertragen. Die Bärenfellmützen sind echt und echte Bären sterben dafür echt. Sie sind beinahe einen halben Meter hoch und werden so tief in die Schädel gerammt, dass die Bärenfellmützenmänner Experten in der Kunst des feierlich blinden Schreitens werden. Dann gibt es wiederum mit goldenen, von giftroten Schleiern umwehten Kelchen garnierte Häupter. Oder welche, die von zerschnittenen weißen Vorhängen kunstvoll umflattert sind. So ein Augenschmaus! Man weiß nicht wohin zuerst schauen, alle schauen aus, als wären sie einem König-Artus-Bilderbuch entsprungen. Mit weißen Schimmeln. Alice steht hinter einem Baum und wundert sich.

Endlich war die Königin dem Tohuwabohu entronnen und in einer Halle angelangt ganz aus Stein und Totenstille. Wären da nicht die Abertausenden von Fan*innen gewesen, sie hatten Ewigkeiten ausgeharrt, um sich tränentröpfelnd an ihr vorbei zu schieben. Um ihren Safe standen katatonisch starre Wachleute mit Bärenfellmützen, deren Riemen sich tief ins Kinn gruben. Plötzlich bumm! fiel einer um, im Fernsehen kommt ein Bild mit Themse. Vom im Dienst ihrer Majestät Gefallenen hörte man nichts mehr.

Aber schon musste die Queen wieder auf Tour und der bleischwere, weil mit Blei ausgefasste Sarg unter der Zauberdecke wurde von Jungs, die sich mutig gegen die Schwerkraft stemmten, über einen Stufenberg in die berühmte Kathedrale gehievt. Der traurige König und seine schüchterne Gemahlin mit dem gebrochenen Zeh gingen hinter dem Sarg, und all ihre Nachkommen, die internationalen Adelsexpert*innen interpretierten das Aussehen und Dreinschauen der Selbstdarsteller*innen, die weltweit besser gebucht sind als der Kardashian-Clan. Die Lippenleser*innen schoben Überstunden.

Im Gänsefüßchentempo ist der Leichenwagen, den die Königin selber mitdesignt hat, mit dem wundersam verhüllten Sarg in der Vitrine unterwegs, zwischen Weiden und Bäumen und trauerndem Volk. Schon seit Jahrzehnten hat der Sarg auf sie gewartet, seit Jahrzehnten wurden die Begräbnisfeierlichkeiten geprobt. Es hat sich gelohnt, von überall her ist das zahnlose Volk geströmt, um zu weinen, in den Pubs tropfen die Tränen rotgesichtiger Männer ins Bier, vor den Bildschirmen weinen würdige Greise und unwürdige Greisinnen. Alle, alle vereint. Und vier Milliarden schauen dem Weinen zu.

Das Pony der Königin steht Spalier. Die Hunde der Königin, die ihr Mahl auf goldenen Tellerchen zu sich zu nehmen pflegen, sind präsent. Der Paddington Bär winkt. Auch der zähe alte Adel kommt angerückt, die resolute Beatrix aus Holland, das reservierte Schwedenpärchen, der verstoßene Don Juan aus Spanien mit Gemahlin.

In der Kapelle des Hosenbandordens sinkt plötzlich der Sarg mit der englischen Königin in die Tiefe. Wie durch eine Geheimtür in einem Abenteuer- Roman von Enid Blyton. Langsam, langsam entschwindet er den Augen derer die an der Oberfläche zurückbleiben.

Michèle Thoma
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