Das fundamentale Problem mit der Indexierung ist die Inflation, sagt Michel Wurth, Präsident der Union des entreprises luxembourgeoises (UEL)

Verpasste Chancen

d'Lëtzebuerger Land du 20.09.2013
D’Lëtzebuerger Land: Herr Wurth, In den Essentiels de la compétitivité, welche die UEL den Parteien vor den Wahlen zugeschickt hat, heißt es, wenn sich Luxemburg entwickeln wolle, müsse man die „Wahltermin-orientierte Kurzsichtigkeit“ hinter sich lassen. Wenn Sie eine solche Kurzsichtigkeit beklagen, welche Zensur stellen Sie der letzten Regierung aus? Michel Wurth: Die letzte Regierung hatte ein schwere Zeit. Die Legislaturperiode überschnitt sich mit der schlimmsten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Luxemburger Wirtschaft ist in diesem Zeitraum nicht gewachsen und in der Folge hat sich bei der öffentlichen Hand ein strukturelles Defizit gebildet – deswegen hat das Land heute Probleme. Man muss sich zu allererst fragen, weshalb nach der Regierungsbildung ein Jahr lang nichts passiert ist. Die Wahlen waren im Juni 2009, dann wurde ein antizyklischer Haushalt angenommen und abgewartet, was geschehen würde. Was geschah, war, dass die Tripartite 2011 gescheitert ist, und sich die Situation verkrampft hat. Deshalb würde ich von einer Zeit der verpassten Chancen reden. Die zweite Beobachtung betrifft den Arbeitsmarkt, wo man ein Scheitern feststellen muss. Die Arbeitslosenzahl hat sich seit 2008 verdoppelt – von 8 743 Ende 2007 auf 17 695 im Juli 2013 – , obwohl 40 000 neue Stellen geschaffen wurden, teils über geliehenes Geld. Es wurden keine Akzente gesetzt, um dieses strukturelle Ungleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt auszubalancieren. Als ersten ihrer zehn Schwerpunkte zählt die UEL die gouvernance auf. Auch die Fedil hat eine Reform der gouvernance in ihren Forderungskatalog an die Parteien aufgenommen. Was die Arbeitgeberverbände da fordern, geht über die reine Entbürokratisierung weit hinaus. Die Fedil fordert beispielsweise eine neue Entscheidungsgewalt für den Regierungsrat. Da kann man sich fragen, in welcher Rolle die Arbeitgeber das Parlament sehen. Wünschen sich die Arbeitgeber eine Technokratenregierung à la Monti wie in Italien oder eine Troika, wie die, die den Griechen sagt, welche Strukturreformen sie durchsetzen müssen? Ich möchte unterstreichen: Wir Arbeitgeber sind uns ganz bewusst, dass wir in einem Rechtsstaat leben und sind diesem Rechtsstaat sehr verbunden. Wir sagen Folgendes: Wir müssen unsere gouvernance anpassen, um mehr Effizienz zu erreichen. Die Regierung zählt heute viel mehr Mitglieder als früher, die Kompetenzen der großen Ressorts sind auf verschiedene Minister aufgeteilt und wir beobachten oft ein Silo-Denken und -Handeln. Deshalb dauert es so lange, bis Entscheidungen getroffen und umgesetzt werden. Wir fordern daher eine Straffung des Entscheidungsprozesses innerhalb des bestehenden Rechtsrahmens. Wir glauben, es wäre besser, der Premierminister wäre nicht nur ein Primus inter pares, wie er es heute ist, sondern der Präsident der Regierung. Dann könnte er, dem Regierungsprogramm entsprechend, Prioritäten und eine Marschrichtung vorgeben – vorausgesetzt, es gibt keine Regierungskrise. Außerdem müssten die Ressorts den Hauptfunktionen des Staates entsprechend aufgeteilt werden, dann wären große politische Orientierungen leichter durchzusetzen, ob das nun die Schule, die Wirtschaft oder sonstige Politikfelder betrifft, die dann von den Ministern umgesetzt würden. Die Regierung muss mit einer Stimme sprechen. Verhindert denn der aktuelle Aufbau der Regierung, ihre Struktur, Ihrer Meinung nach, dass der Staatsminister Prioritäten vorgibt? Wendet man sich als Unternehmen mit einem Problem an die Regierung, sitzt man oft drei oder vier Ministern gegenüber, weil die Kompetenzen verstreut sind. Das ist die Problematik der Entbürokratisierung: Man weiß nicht wirklich, wo die Zuständigkeiten der einen Verwaltung aufhören und die der anderen beginnen. Das könnte alles effizienter sein, wenn die Regierung wirklich die politische Richtung vorgeben würde und die Ministerien und Verwaltungen diese Entscheidungen auf ihrer Ebene ausführen. Eine weitere Forderung in ihrem „Wettbewerbsfähigkeitsprogramm“ ist die Desindexierung der gesamten Wirtschaft. Tragen die UEL-Mitglieder aus Handwerk und Einzelhandel diese Forderung voll und ganz mit? Gerade sie brauchen eine zahlungskräftige Kundschaft und bauen Indexierungsklauseln in Dienstleistungsverträge ein. Damit unsere Mitbürger zahlungskräftig bleiben, müssen wir zu erst die Inflation in den Griff bekommen. Im Moment ist sie niedrig, aber wenn man die Entwicklung der Preise über zehn oder fünfzehn Jahre betrachtet, ist die Inflation in Luxemburg systematisch höher als in den Nachbarländern und bei unserem Haupthandelspartner Deutschland ... ... in diesem Zeitraum ist aber nicht nur die Inflation, sondern auch die Luxemburger Wirtschaft schneller gewachsen als die der Nachbarländer. Aber seit fünf Jahren verzeichnet Deutschland höhere Wachstumsraten als Luxemburg und dennoch haben wir jährlich zwischen einem halben und einem Prozent mehr Inflation. Über die Jahre kumuliert, ist das eine große Differenz und wenn diese über den Indexierungsmechanismus ausgetauscht wird, verlieren die Unternehmen an Wettbewerbsfähigkeit. Das fundamentale Problem mit der Indexierung ist die Inflation; die Indexierung ist eigentlich ihre Folgeerscheinung. Wir bedauern daher, dass in den Parteiprogrammen zwar viel über die Indexierung gesprochen wird, aber nur wenig über die Inflation. Durch den Index sind die Löhne im mittleren und im Niedriglohnsegment sehr schnell gestiegen, was einerseits dazu geführt hat, dass Stellen in diesem Bereich gestrichen wurden. Andererseits ist unser Arbeitsmarkt durch die attraktiven Löhne vollkommen aus dem Gleichgewicht geraten und die Arbeitslosigkeit in Luxemburg steigt. Das ist ein Problem und wir schlagen vor, es mit einer generellen Desindexierung anzugehen, um einen Schock in der Wirtschaft auszulösen, durch den die Inflation gebremst würde. Wir haben uns nicht dazu geäußert, wie lange diese Desindexierung durchzusetzen wäre, darüber kann man diskutieren. Wenn man sich die bisher veröffentlichten Wahlprogramme anschaut, hat man nicht den Eindruck, dass sich die Arbeitgeber mit ihrer Forderung sehr viel Gehör verschaffen. Ist das heute schwieriger als früher? Es gab noch nie ein so großes Bewusstsein dafür, dass wir ein Problem mit der schwindenden Wettbewerbsfähigkeit haben, und noch nie vorher haben sich fast alle Wahlprogramme auf die eine oder andere Art mit der Indexierungsproblematik auseinandergesetzt. Es ist natürlich ein sehr sensibles Thema, deshalb gibt es wenig konkrete Vorgehensvorschläge, aber niemand verneint die Verbindung zwischen Index und Konkurrenzfähigkeit. Nicht umsonst wurde ja während eines großen Teils der vergangenen Legislaturperiode kein integraler Index angewandt und in den vergangenen zehn Jahren war der Index für lange Perioden auf die eine oder andere Art moduliert – das war vorher nicht so. Das liegt auch daran, dass sich die Parteien des Problems der Konkurrenzfähigkeit bewusst sind und das betrifft nicht mehr nur große, exportorientierte Unternehmen, sondern auch die Handwerker und den Einzelhandel, die im Wettbewerb mit den Kollegen aus der Großregion stehen. Wenn man dann noch berücksichtigt, dass in Luxemburg der Mindestlohn höher ist als das mittlere Einkommen in den Nachbarländern, bringt das Probleme für eine ganze Reihe von Branchen. Sowohl die UEL als auch die Fedil fordert erneut mehr oder weniger direkt die Abschaffung des sozialen Mindestlohns. Auf diese Forderung ist bisher keine Partei eingegangen. Auch das ist ein sehr sensibles Thema. Aber fest steht, dass jedesmal, wenn der Mindestlohn angepasst wird oder über den Index steigt, die Zahl der Arbeitslosen sich auch erhöht. Und viele Leute wollen nicht zuhören, wenn wir sagen, wenn der Mindestlohn sinkt, soll den Betroffenen die Differenz zwischen dem Einkommen und dem Betrag, den sie brauchen, um ein dezentes Leben zu führen, durch Sozialtransfers kompensiert werden. Wir würden es begrüßen, wenn unsere Vorschläge in ihrer Gesamtheit berücksichtigt und diskutiert würden. Wir wollen nicht die Lebensqualität derjenigen schmälern, die in unserer Gesellschaft ohnehin am wenigsten haben. Im Gegenteil, wir wollen für die Betroffenen eine bessere Integration in den Arbeitsmarkt, und in dieser Diskussion spielen auch die Wohnungskosten eine Rolle. Wir kritisieren, dass durch die staatlich organisierte Lohnpolitik via Mindestlohn die Arbeitslosigkeit zunimmt, weil die hohen Löhne überqualifiziertes Personal aus der Großregion anlocken. In Verbindung mit der Ausbildungspolitik hierzulande, die nicht die richtigen Ergebnisse bringt und wodurch viele junge Leute ohne Abschluss auf den Arbeitsmarkt kommen, führt das dazu, dass die Zahl derer, die ganz unten im sozialen Netz hängen, steigt. Aber gibt es noch eine „Patronspartei“? Wenn ich die Wahlprogramme lese, finde ich darin viele Analysen wieder, die sich mit unseren decken. Zum Beispiel, was die Staatsfinanzen betrifft und die Notwendigkeit, Wachstum zu schaffen. Unser Vorschlag für eine staatliche Beteiligungsgesellschaft wurde beispielsweise auch schon aufgegriffen. Die scheinbare Distanz zwischen Politik und Wirtschaft ist meiner Ansicht nach auch darauf zurückzuführen, dass die Wirtschaft vor allem von Ausländern getragen wird. Die Arbeitnehmer in der Privatbranche sind mehrheitlich Nichtwähler. Es ist normal, dass sich die Kommunikationsstrategen der Parteien nicht an die ausländischen Firmenchefs oder Arbeitnehmer wenden, um sie von ihrer Partei zu überzeugen. Es gibt einen Konsens darüber, dass nach den Wahlen eine Steuerreform kommt. Die UEL geht in ihrem Programm auch auf die soziale Verantwortung der Unternehmen ein, Sie selbst haben davon gesprochen, dass die Firmen „gute Bürger“ sein sollen. Zahlen „gute Bürger“ nicht gerne Steuern, damit der Staat funk­tioniert? Worauf kommt es bei einer Steuerreform für Sie an? In erster Linie müssen wir die Staatsfinanzen sanieren. Wenn man sich zum Beispiel den Haushalt von 2012 anschaut, sind die Einnahmen um 5,6 Prozent gestiegen und die Ausgaben um acht Prozent. Dabei ist die Wirtschaft nicht gewachsen und die Inflation betrug rund zwei Prozent. Das heißt, dass Firmen und Haushalte mehr Steuern gezahlt haben und ihre Kaufkraft, mit der sie die Wirtschaft hätten ankurbeln können, gesunken ist. Wir finden das ungesund und fordern deswegen, zuerst etwas auf der Ausgabenseite zu unternehmen. In punkto Steuerreform warnen wir davor, zu hohe Steuern zu fordern, von den Unternehmen, wie auch von den Privatpersonen, weil eine attraktive Steuerlandschaft inklusive soziale Beiträge zu den Standortfaktoren gehört. Ich lese oft, seit der Jahrtausendwende habe sich das Verhältnis zwischen den Steuereinnahmen von den Unternehmen einerseits und den Privatpersonen andererseits zu Ungunsten der Privatpersonen entwickelt. Man sollte nicht vergessen, dass wir uns seit fünf Jahren in einer Wirtschaftskrise befinden und die besteuerbaren Gewinne der Unternehmen gezwungenermaßen sinken. Brauchen wir also eine Steuerreform? Darüber kann man diskutieren. Sicherlich brauchen wir eine vorhersehbare Steuerpolitik, um Planungssicherheit zu gewähren, und wir brauchen attraktive Steuersätze, um ausländische Investoren und Hochqualifizierte anzuziehen. Auf der Ebene der EU, der OECD und der G-20-Staaten wird die Firmenbesteuerung immer genauer unter die Lupe genommen. Glauben Sie, dass eine Steuerpolitik, die auf niedrigen Steuersätzen basiert, durchzuhalten ist? Die neuen EU-Länder haben nominale Körperschaftssteuersätze von zehn bis 15 Prozent. Irland auch. Unserer liegt bei über 30 Prozent. Dafür musste Irland auch schon viel Kritik einstecken. Weil der irische Staat fast bankrott war. Deswegen ist es wichtig, dass Luxemburg ein reiches Land bleibt, dass wir nicht noch fünf Jahre Nullwachstum haben und wir die Ausgaben in den Griff bekommen. Konkret: Glauben Sie, dass Luxemburg in der aktuellen Stimmung seine nominalen Steuersätze senken kann? Ich glaube, es ist eine Überlegung wert. Bis auf weiteres bleibt die Steuerpolitik nationales Hoheitsrecht. Steueroptimierung ist nicht illegal, wenn sich der internationale Rechtsrahmen ändert, müssen wir uns natürlich anpassen. Die neuesten Vorwürfe betreffen die tax rulings, die übrigens in Übereinstimmung mit den OECD-Regeln sind. Durch die rulings sinkt der effektive Steuersatz unter den nominalen Satz. Deswegen sollte man überlegen, die nominalen Sätze zu senken und gleichzeitig die ganzen Sonderabzugsmöglichkeiten zu überdenken. Die UEL fordert eine „Anpassung“ der Tripartite. Wie soll die Dreierrunde in Zukunft arbeiten? Ich möchte vorausschicken, dass wir den Sozialdialog, sei es auf Unternehmensebene, sei es auf nationaler Ebene, sehr wertschätzen. Die gemeinsame Suche nach Lösungen ist einem offenen Konflikt immer vorzuziehen. Angesichts der geringen Zahl offener Arbeitskämpfe stelle ich fest, dass der Sozialdialog in den Betrieben eigentlich immer noch ganz gut funktioniert. Die Institution Tripartite bleibt nach wie vor ein nützliches Instrument. Damit sie wieder funktioniert, brauchen wir eine Tagesordnung, einen seriösen Dialog über die Fakten und ab einem bestimmten Zeitpunkt auch konkrete Vorschläge von der Regierung, die wir diskutieren können. Die gab es in der Vergangenheit also nicht? Nein, in den vergangenen Tripartite-Runden gab es wenig konkrete Vorschläge. Wir brauchen Themenkomplexe, einen Dialog, Vorschläge und eine Regierung, die anschließend Entscheidungen trifft. In den letzten zwei Runden war das nicht der Fall. Im Gegenteil, die Regierung hat versucht, in Zweierrunden Abkommen zu treffen. Das trägt nicht zur Qualität des Sozialdialogs bei und auch nicht dazu, dass das gegenseitige Verständnis zwischen den Sozialpartnern wächst.
Michèle Sinner
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