Die kleine Zeitzeugin

Schuld war nur der Bossa Nova

d'Lëtzebuerger Land vom 12.07.2019

Ja, jetzt weiß ich, dass ich über den Bossa Nova schreiben kann. Darf. Vielleicht gar muss. Weil wegen aktuell. Manieren auch.

Vor wenigen Tagen fiel mir mitten in der Nacht der Bossa Nova ein, es ging um Schuld, Schuld gibt es ja en masse, bei alten nachhaltig traumatisierten Katholikinnen jedenfalls, bei alten Jüdinnen vermutlich auch, und schon erklang in mir der Bossa Nova, aus irgendeiner fossilisierten Hirnwindung

quäkte er. Superalbern, ich gebe es zu, der Refrain der deutschen Schlager-Version auch noch. Im Schlager, wie mich Youtube am nächsten Tag mit meiner Vergangenheit konfrontiert, macht uns eine quietschend dahinschmelzende Sängerin Manuela mit Jane und Jim bekannt, und dann schon Töchterlein. Unter zusammen geballtem Haar bebt sie verhalten sinnlich auf Stöckelschuhen vor einem schmerzhaft blauen See. Sie trägt eine rotkäppchenkäppchenrote Schürze und wird von ihrer Leidenschaft im Zaum haltenden sich wiegenden Damen mit fest gegossenen Haarkonstrukten und schmachtenden fülligen Musikanten begleitet.

In der Nacht von Schuld und Sühne, in der der Bossa Nova in mir aufpoppte, war er nicht aktuell. So was von nicht. Wem hätte man so einen müden Bossa Nova Schuldscherz zuraunen können, nur die Nachbar_innen aus dem Altersheim hätten vielleicht aufgezuckt, und versonnen geguckt.

Aah ja, Bossa Nova, da war doch was. Aber was eigentlich? Was trällerte da in mir, was für ein Tanz, den ich nicht mal konnte, ich konnte Tänze nie, Tänze waren jenseits meines Kompetenzbereichs, Tänze waren wie Mathe, man musste Schritte zählen und sich quälen. Es gab Formeln, die man beherrschen musste, und um mühelos übers Parkett zu schweben, wie es so schön hieß, musste man schwitzen wie in einer Galeere. Im Tanzkurs schwänzte ich Walzer und Tango auf der Toilette, es waren immer die falschen Jungs mit den falschen Füßen, den falschen Händen, klischeehaft verschwitzt. Und ich war die allerfalscheste. Aber Tanzkurs war ein Must, wie das Abitur, so was hatte man einfach, hatte man zu haben, in sowas war man, wenn man nur ein bisschen was oder wer war bzw. werden wollte. Ein bisschen foxtrottelte ich also herum, ob es dort Bossa Nova gab, ich weiß es nicht mehr.

Und ich habe ihn sicher nie richtig getanzt. Aber etwas lag in der Luft ab da, etwas Frisch-Fröhliches wie dieser deutsche Schlager, der die Dorfbälle aufmischte. Das war zwar alles unter meinem Niveau, weil ich war Salut Les Copains und nicht deutscher Schlager, ich war ein Mädchen vom Belair, aber trotzdem, ab jetzt war alles anders, bald wurde geletskisst, alles wurde immer einfacher. Die Bamba war auch da, auch sie war einfach, einfach wie Bonjour, einfach wie Häschen in der Grube, mein erstes Lieblingskreisspiel. Dann auch wieder nicht, weil ich immer die männlichen Mauerblümchen küsste, ich wusste, was Schattendasein heißt. Dennoch, alles wurde luftiger, lustiger, easy going, Twiggy erlöste uns von den Lollobrigidabrüsten, dann waren die Beatles da, wir waren endgültig gerettet. Die Autist_innen eroberten die Tanzpiste.

Ja, aktuell, wegen aktuell kann ich jetzt also über den Bossa Nova schreiben, der jetzt nicht nur mein kleines relativ banales Wortspiel ist, das nur noch Langlebige checken. Weil es gehört sich so, sein Vater ist gestorben. Also der des Bossa Nova, des echten brasilianischen, der wurde in den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts geboren. In der gehobenen Mittelschicht, was ein bisschen enttäuschend klingt, Tänze sollen schließlich in nach Fisch stinkenden Häfen geboren werden, die es nicht mehr gibt, oder wenigstens in sozialen Brennpunkten, wo man keine Väter hat, höchstens Mütter. Der Bossa Nova aber hatte gar mehrere davon. Und einer von ihnen, João Gilberto, segnete jetzt das Zeitliche, und zwar so, wie es sich einem Künstler geziemt, einem echten. Arm und allein.

Und somit ist mein Bossa-Nova-Schub aktuell, jetzt gerade. Wenn natürlich geneigte Leser_in dieses Druckwerk in Händen hält, längst nicht mehr. Dann gibt es neue Tote, es gibt immer neue.

Michèle Thoma
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