Leitartikel

Ein Heim ist kein Gefängnis

d'Lëtzebuerger Land du 01.05.2020

Es war die von vielen ersehnte Nachricht, die Familienministerin Corinne Cahen am Dienstag mitteilte: Angehörige können ihre im Alten- oder Pflegeheim lebenden Lieben unter bestimmten Auflagen wieder besuchen. Das heißt mit Schutzmaske und Zwei-Meter-Sicherheitsabstand. Die Familienministerin, aus dessen Budget über Konventionen das Gros der Heime im Land subventioniert wird, hat den Trägern empfohlen, familiäre Zusammenkünfte im Rahmen der sanitären Auflagen zuzulassen. Besonders im Falle eines nahenden Todes.

Doch die Einschätzung, ob die Rahmenbedingungen erfüllt sind oder nicht, hat Cahen nach wie vor den Trägern überlassen. Im Klartext: Die Heimleitung entscheidet darüber, ob Oma ihren Enkel noch vor ihrem Tod sieht oder nicht. Ob jemand ihrer Mutter oder ihrem Vater, dem Bruder oder der Schwester auf eigenes Risiko die Hand hält und sie tröstet, wenn sich diese in den letzten Stunden des Lebens Beistand wünscht. Cahen wird in ihrer Position von Marc Fischbach, Präsident des Dachverbands der Pflegeheimdienstleister Copas, unterstützt.

Beide liegen falsch. Allein aus moralischen Gründen ist schwer zu vermitteln, warum Heimbewohner, die dies wünschen, nicht in ihrem Zimmer Besuch empfangen können. Was ist das Risiko? Ja, alte Menschen haben oftmals Vorerkrankungen wie Diabetes, sind gebrechlich und können daher nach einer Infektion schwerer erkranken, ja, sie haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, an Covid-19 zu sterben. Und ja, darum gehören sie und andere Heiminsassen besonders vor Ansteckung geschützt.

Doch ist es ihnen zuzumuten, ihren Lebensabend ohne Beistand allein in ihrem Zimmer zu verbringen, weil draußen ein Virus grassiert und sie zur Risikogruppe zählen? Dass demente Leute diese Wahl schwieriger treffen können, ist nachvollziehbar. Aber Erwachsenen, die noch Herr oder Herrin ihrer Sinne sind, diese Abwägung abzunehmen, offenbart einen überholten paternalistischen Blick auf Pflegebedürftige, der symptomatisch ist für das Wohlfahrtsverständnis der vergangenen Jahrzehnte und teilweise bis heute anhält. Zum Leben gehört, wählen zu können. Und Gefahren abzuwägen und bewusst einzugehen. Sogar, wenn sie dabei den eigenen Tod in Kauf nehmen.

Alte und Pflegebedürftige in ihren letzten Stunden abzuschotten, ist aber nicht nur aus moralischen Gründen bedenklich. Sondern auch aus rechtlichen. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Wie ist es mit ihrer Würde zu vereinbaren, wenn Pflegebedürftige nicht einmal in der Schlussphase ihres Lebens entscheiden können, mit wem sie den Moment des letzten Atemzuges teilen wollen? Wenn andere das für sie beschließen? Viele können die zwangsweise Einsamkeit schon jetzt, nach sechs Wochen Lockdown, psychisch kaum mehr verkraften, werden depressiv, apathisch oder aggressiv. Kein Video, kein Anruf ersetzt den direkten zwischenmenschlichen Kontakt.

Und wie ungerecht und ungleich ist es, wenn die einen Angehörigen ihre Oma oder den Opa nicht sehen können, weil sie oder er zufällig in einem Altersheim wohnt oder in eine Klinik eingeliefert wurde, die keinen Besuch erlaubt? Während andere schon seit zwei Wochen ihre im Heim Lebenden persönlich treffen und sich austauschen können.

Statt Heimträgern diese Entscheidungskompetenz zuzuschieben, täte die liberale Ministerin besser daran, das Recht auf einen würdigen Abschied verbindlich für alle zu regeln. Oder muss erst jemand vor Gericht ziehen? Nicht das Personal oder den Raum für einen angemessenen Schutz vor Ansteckung zu haben, kann in Pandemiezeiten ohnehin kaum als triftiges Argument gelten: Die Kliniken sind längst auf Covid-19 eingestellt. Heimeinrichtungen sehen heute schon Isolierungen und erhöhte Schutzvorkehrungen für den Ernstfall vor, sollte jemand Covid-19-positiv sein. Das Pflegepersonal ist im Umgang mit Ansteckungsgefahren geschult. Es trägt Plastikbluse, Gesichtsmaske und Brille und hält weitere Schutzmaßnahmen parat.

Heime sind keine Gefängnisse, hat der einstige Justizminister Marc Fischbach während der Pressekonferenz mit Corinne Cahen betont. Eben weil sie keine Gefängnisse sind, müssen BewohnerInnen und BesucherInnen ihr Grundrecht wahrnehmen und frei wählen können, was ihnen wichtiger ist: der intime Moment im geteilten Abschied oder der Schutz vor einer möglicherweise tödlich verlaufenden Krankheit.

Ines Kurschat
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