Die Bilanz einer liberalen Reformkoalition

Fünf Jahre CSV-Staat ohne CSV

d'Lëtzebuerger Land du 12.10.2018

Pattsituation Zum dritten Mal in dem Jahrhundert seit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts, nach 1925-26 und 1974-79, wurde das Land von einer Regierung geführt, der die CSV/Rechtspartei nicht angehörte. Die liberale Koalition aus DP, LSAP und Grünen von 2013 bis 2018 war eine Folge der großen Wirtschafts- und Finanzkrise, die vor zehn Jahren das internationale Finanzwesen und das Vertrauen in die ungehemmte Entfesselung der Marktkräfte erschüttert hatte.

In diesen unsicheren Zeiten hatten sich viele Wähler nach Sicherheit gesehnt und konservativ gewählt: Die CSV hatte 2009 ihr bestes Wahlergebnis in 40 Jahren erzielt. Premierminister Jean-Claude Juncker setzte die Koalition mit der geschwächten LSAP fort, um eine wirtschaftliche und politische Stabilisierung unter Einbindung der organisierten Arbeiterschaft zu erreichen.

Als Auswege aus der Krise hatten sich verschiedene Optionen angeboten. Binnen kürzester Zeit gelang es in den meisten europäischen Ländern, die Krisenfolgen zum Anlass zu nehmen, die bis dahin praktizierte Wirtschafts- und Sozialpolitik voranzutreiben: die Märkte – mit Ausnahme des Bankgewerbes – weiter zu liberalisieren, das Arbeitsrecht weiter aufzulösen, den öffentlichen Dienst weiter zu privatisieren, die Staatsausgaben weiter zu senken, den Sozialstaat weiter auf karitative Funktionen zu beschränken... Dank der in der Euro-Krise eingeführten Regeln von Europäischem Semester, Sixpack, Two-Pack und Schuldenbremse konnte diese angebotsorientierte Politik im Dienst der Exportwirtschaft selbst widerspenstigen Ländern unter Umgehung parlamentarischer Prozeduren und unter Androhung von Strafen aufgezwungen werden.

Hierzulande erwies sich nach der Krise und den Wahlen von 2009 der radikal liberale Durchmarsch als beschwerlich. Denn es herrschte eine Art Pattsituation zwischen politisch gleich einflussreichen Unternehmern und Gewerkschaften, in der die Austeritätsversuche von CSV-Finanzminister Luc Frieden und die Angriffe auf den Index versumpften, bis die Tripartite daran zerbrach. Dank des ungenierten Rückgriffs auf die Steuerbemessungsgrundlage fremder Länder waren das Haushaltsdefizit und die Verschuldung nicht groß genug, um die in Maastricht geschmiedeten Waffen der Euro-Zone politisch wirksam einsetzen zu können.

Also machte Ende 2012 der eine oder andere am Sturz der Regierung Interessierte mit Schützenhilfe verselbstständigter Srel-Agenten den Geheimdienstskandal publik, von dem sämtliche Parlamentsfraktionen seit 2009 wussten und über den der abgekämpfte Herz-Jesu-Marxist Jean-Claude Juncker schließlich stürzen sollte. Schon vor Junckers Sturz hatten Unternehmer und die Handelskammer die Vereine 5 vir 12 und 2030.lu Ambition pour le futur gegründet, um aufwändig für einen Regierungswechsel und liberale Reformen zu werben. Der Dachverband sämtlicher Unternehmen hatte sie in seiner Broschüre Élections législatives 2013: Les Essentiels de la Compétitivité. Considération de l’UEL à l’adresse des partis politiques aufgelistet: neben Steuersenkungen die Desindexierung der Löhne, Renten, Mieten, öffentlichen Ausschreibungen und Verträge, die Abschaffung des Beamtenstatuts und des gesetzlichen Mindestlohns in seiner bisherigen Form, die Senkung der Arbeitslosenentschädigung und des Krankengelds, die Erhöhung der Lebensarbeitszeit, die Aufweichung des Kündigungsschutzes und die Förderung atypischer Arbeitsverhältnisse. Erklärtes Ziel war es, die Lohnstückkosten auf das ­Niveau des Haupthandelspartners und Exportweltmeisters Deutschland zu senken.

Anlauf Die DP/LSAP-Koalition von 1974 bis 1979 war das Ergebnis einer Massenbewegung. In der gesellschaftlichen Aufbruchsstimmung von Mai ’68 entstand sie nach dem Generalstreik vom 9. Oktober 1973. Während der gesamten Legislaturperiode war es immer wieder zu gewerkschaftlichen Kundgebungen gekommen, darunter einer gemeinsamen von LAV, LCGB, CGFP, FEP und anderen im Dezember 1976, um die sozialen Auswirkungen der Wirtschafts- und vor allem der Stahlkrise abzuwenden. Neben der Abschaffung der Todesstrafe oder der Lockerung des Abtreibungsverbots hatte die Regierung wichtige Sozialreformen vorgenommen.

Ganz anders die DP/LSAP/Grüne-Koalition von 2013 bis 2018: Ihre soziale Basis war eine Allianz von Mittelschichten, die liberale Reformen in der Gesellschaft forderten, und Unternehmern und Selbstständigen, die liberale Reformen in der Wirtschaf verlangten. Deshalb fehlt der Regierungsbilanz Mir hu Wuert gehal, die die LSAP nun im Wahlkampf verteilt, sogar ein Kapitel über Sozialreformen. Andere Reformen, wie die der Fami­lienzulagen oder des Garantierten Mindesteinkommens nach Arbeitsmarktkriterien, stellen für einen Teil der Betroffenen sogar Leistungskürzungen dar. Dabei regierte die liberale Koalition diesmal nicht in einer tiefen Krise, sondern in einem anhaltenden Wirtschaftsaufschwung.

Die Masse der Arbeiter, kleinen Angestellten und Rentner, die zu wenig verdienen, um nennenswert von Steuersenkungen zu profitieren, ging bei dieser Regierung weitgehend leer aus. Weil es sich um eine ursprüngliche LSAP-Kundschaft handelt, vertröstet die vorübergehend mit Asteroidenbergbau beschäftigte Partei sie nun mit Wahlversprechen von Mindestlohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzung auf ein nächstes Mal.

Als Verbindung einer mittelständischen und einer ökologischen Mittelschichtenpartei, früher Kleinbürgertum genannt, mit einer linksliberalen Sozialdemokratie überschneiden sich die Wählerschaften von DP, LSAP und Grünen bei den besser gestellten Beamten, Angestellten, Selbstständigen und Freischaffenden. Sie wurden mit gesellschaftspolitischen Reformen bedient, wie der Privatisierung des katholischen Klerus, einer weiteren Lockerung des Abtreibungsverbots, der Reform des Eherechts, einer Kürzung der staatlichen Bezuschussung von Hausfrauenehen, Frauenquoten bei Wahlen, einer Neuregelung der Prostitution und des amtlichen Geschlechtsvermerks. Solche Reformen kosten in der Regel nichts oder helfen sogar, Geld zu sparen.

Um daneben liberale Wirtschaftsreformen durchzudrücken, die auf Kosten eines Großteils des Wahlvolks zu gehen drohten, hatten DP, LSAP und Grüne in ihrem Regierungsprogramm abgemacht, „[d’]atteindre d’ici la fin de la période de législature un solde structurel des finances publiques d’au moins +0,5% du PIB“ (S. 21). Der von der Europäi­schen Union als Sachzwang erfundene mittelfristige Haushaltssaldo sollte der modernen Sparkoalition bis zum Ende der Legislaturperiode als Hebel für ihre Finanzpolitik dienen. Zur allgemeinverständlichen Illustration dieses drastischen Sparwillens ließ die Regierung vier Monate nach ihrem Antritt 727 Laternen an den Autobahnen umlegen. Der bisherige Direktor der Handelskammer, ­Pierre Gramegna, sollte als DP-Finanzminister eine „kopernikanische Wende“ der Staatsfinanzen nach privatwirtschaftlichen Kriterien vornehmen und ein Zukunftspak getauftes Sparpaket mit 258 Steuererhöhungen und Sparmaßnahmen durchsetzen.

Unfall Um einschneidende Reformen durchzusetzen und unumkehrbar zu machen, organisierte die Koalition schließlich am 7. Juni 2015 tollkühn ein Referendum, das die soziale Zusammensetzung der Wählerschaft auf Kosten der Beamtenschaft und zugunsten für reformfreudig gehaltener Erstwähler verändern sowie die Rechenschaftspflicht der Minister gegenüber ihren Wählern beschränken sollte. So wie 1919 die Einführung des Frauenwahlrechts den Anteil linker Arbeiter an der Gesamtwählerschaft verringern sollte, hatte die Handelskammer Anfang 2013 für die Einführung des Ausländerwahlrechts zu werben begonnen, mit der der Anteil angeblich reformresistenter Beamter an der Gesamtwählerschaft verringert werden sollte.

Doch nach der Ablehnung des Sparpakets und einer ersten Niederlage bei den Europawahlen endete die Volksbefragung in einem politischen Desaster, vier von fünf Wählern erteilten der Regierung eine Abfuhr. Soziale und ökonomische Interessenunterschiede waren wieder erfolgreich in nationale umgebogen worden; CSV und DP, Grüne und ADR versuchen nun im Wahlkampf, die Übung fortzusetzen.

Nach dem Referendum waren die schwungvollen jungen Männer am Boden zerstört. Nicht zuletzt auf Druck der um ihre Wählerschaft von qualifizierten Arbeitern, mittleren Angestellten und Beamten der unteren und mittleren Laufbahn besorgten LSAP nahm die Regierung eine spektakuläre Kehrtwende vor: Ende 2015 warf die DP ihre tollkühne Sparpolitikerin Maggy Nagel aus der Regierung. Der bisherige Spar­apostel und Finanzminister Pierre Gramegna verkündete im April 2016 vor dem Parlament, dass „Luxemburg ein neues mittelfristiges Ziel“ für seine öffentlichen Finanzen beschlossen habe, die Europäische Kommission habe „–0,5 Prozent ausgerechnet, und die Regierung hat beschlossen, sich dieser Prognose anzupassen“. Um den OGBL zu besänftigen, überging danach Wirtschaftsminister Etienne Schneider die Unternehmer bei der Reform der Referenz­arbeitszeit.

Hatte die DP/LSAP-Koalition von 1974-79 unter dem Druck der Wirtschaftskrise gegen Mitte der Legislaturperiode einen Kurswechsel vornehmen müssen, so nutzte die DP/LSAP/Grüne-­Koalition diesmal das Ende der Wirtschaftskrise für einen Kurswechsel in der Mitte der Legislaturperiode: Es folgten neben einer Senkung der Körperschaftssteuer auch Steuersenkungen für Privathaushalte und kleine Aufmerksamkeiten für die Wählerschaft der einzelnen Koalitionsparteien. Statt endlich zum von manchen erhofften neoliberalen Durchmarsch anzusetzen, versuchte die Koalition panisch, sich bis zu den Wahlen die Sympathien der Wähler zurückzukaufen. Ein Teil der Unternehmer, die die Koalition und insbesondere die DP unterstützt hatten, fühlte sich verraten: Das politische Personal hatte sich verselbstständigt, weil ihm das Hemd näher als der Rock war. Die Ironie der Geschichte gipfelt vielleicht darin, dass die von Jean-Claude Juncker angekündigte und von François Biltgen und Octavie Modert mit der CGFP abgemachte Senkung der staatlichen Anfangsgehälter auf das Niveau der Privatwirtschaft wieder zurückgenommen wird. Was dann auch ein wenig wie die späte Siegerprämie des Referendums von 2015 für die Beamten aussieht.

Dieser Kurswechsel war nach zweieinhalb Jahren das Ende der modernen Spar- und Reformkoali­tion. Die Unternehmer und Selbstständigen, die geholfen hatten, Jean-Claude Junckers Regierung zu stürzen, um das Reformprogramm der UEL oder eine neoliberale Agenda wie in anderen Staaten durchzusetzen, schienen, mit einem apokryphen Zitat von Winston Churchill, „das falsche Schwein geschlachtet“ zu haben: Sie hatten zwar den Abgang der CSV unterstützt und bejubelt, aber nach den Wahlen war die ihnen nahestehende DP zu schwach, um sich gegen die LSAP und damit auch den von ihnen gehassten OGBL durchzusetzen. DP-Präsident Xavier Bettel fehlte das Zeug dazu, um als Luxemburger Gerhard Schröder eine lokale Neuauflage von dessen Agenda 2010 durchzusetzen (d’Land, 5.10.2018); innenpolitisch stand er oft im Schatten seines Vizepremiers Etienne Schneider. Dabei hätte die LSAP ohne Regierungskrise 2013 wahrscheinlich die für 2014 geplanten Wahlen verloren.

Statt eine radikal liberale Reformagenda umzusetzen, legte Wirtschaftsminister Etienne Schneider nur noch ihre Karikatur vor, den Bericht des Wunderheilers Jeremy Rifkin. Der Bericht sollte die technokratisch und ökologisch verbrämte Rechtfertigung für eine neue Wirtschafts- und Sozialpolitik liefern, aber nach dem politischen Desaster von 2015 war die neue Wirtschafts- und Sozialpolitik erst einmal abgesagt worden.

Nach der Krise, zwischen 2009 und 2014, war der Anteil der Löhne am gesamten Bruttosozial­produkt gefallen, so die Ameco-Datenbank der Europäischen Union. Doch seit 2015 steigt die Lohnquote in Luxemburg wieder kontinuierlich an, anders als im Durchschmitt der Euro-Zone. Das hat in verschiedenen Wirtschaftszweigen auch konjunkturelle Ursachen, aber es drückt auf die einfachstmögliche Art das Scheitern einer liberalen Wirtschaftspolitik aus.

Aggiornamento Am Ende hinterlässt die Koalition neben der gewissenhaften Verwaltung der staatlichen Einrichtungen und Infrastrukturen einige gesellschaftspolitische Reformen, die eine sich aufgeschlossen und modern gebende CSV offen unterstützte, wenn sie aus Rücksicht auf ihren rechten Rand nicht heimlich froh darüber war, dass sie sie nicht selbst vornehmen musste. Auch die antiklerikale Koalition von 1974-79 hatte in vorübergehender Abwesenheit der CSV das Eherecht und das Abtreibungsverbot schon einmal geändert.

Die schwungvollen, liberalen jungen Männer, die die Fenster des verstaubten CSV-Staats weit aufreißen wollten, haben sie 2015 rasch wieder geschlossen und scheinen fast wieder dort angekommen zu sein, wo die müden alten Männer, die katholischen und laizistischen Sozialdemokraten, vor fünf Jahren aufgehört hatten. Sie haben den CSV-Staat vorübergehend treuhänderisch übernommen und upgedated, damit die CSV ihn am Sonntag wieder vertrauensvoll übernehmen kann.

Nachdem die nach gesellschaftspolitischen Reformen rufenden Mittelschichten nun wieder für eine Zeit zufriedengestellt sein dürften, schlägt CSV-Spitzenkandidat Claude Wiseler in wirtschaftspolitischen Fragen sehr liberale und unternehmerfreundliche Töne an. Kein Unternehmer oder Selbstständiger, der vor fünf Jahren Jean-Claude Juncker zum Teufel gewünscht hatte, soll die DP heute für wirtschaftsfreundlicher halten als die CSV. Schon gibt es genügend Leute, die diesmal das richtige Schwein schlachten wollen und eine rechtsliberale CSV/DP-Koalition herbeireden und -schreiben.

Romain Hilgert
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