Bei ihren Recherchen zur Verfolgung von luxemburgischen Widerstandskämpferinnen im Nationalsozialismus ist die Historikerin Kathrin Meß auf sogenannte „Asoziale“ gestoßen. Über diese Opfergruppe wird bis heute geschwiegen – und auch in der Geschichtsschreibung wird sie selten erwähnt

„Die ‚Asozialen’ gab’s gar nicht“

d'Lëtzebuerger Land du 03.12.2021

Anina Valle Thiele: Menschen, die die Nationalsozialisten mit dem Etikett „asozial“ stigmatisierten, wurden bei der Inhaftierung mit dem schwarzen Stoffwinkel gebrandmarkt. Welche Menschen betraf diese herabwürdigende Kategorie?

Kathrin Meß: Das war sehr unterschiedlich. „Asozial“ – das war eine Verfolgungskategorie. Sie betraf überwiegend ärmere Leute. Im Prinzip war das der Kampf gegen Ärmere und von der Gesellschaft Ausgeschlossene, wie Frauen, die ihren Lebensunterhalt nicht als Magd auf einem Bauernhof verdienen konnten, sondern die zum Beispiel der Prostitution nachgingen; aber auch Frauen, denen „Arbeitsbummelei“ unterstellt wurde. In Deutschland betraf es vor allem Frauen, die von zu Hause weggelaufen waren, junge Mädchen, die Probleme hatten und dann ausrissen. Wenn das ein paar Mal passiert ist, wurden sie schon als „asozial“ stigmatisiert, kamen ins Kinderheim und von da aus weiter... Also oft waren es Frauen, die von Sozialzuwendungen leben mussten, die ihre Kinder nicht selbst ernähren konnten und etwa über Gesundheitsämter staatliche Hilfe benötigten. Ich bin auf eine Frau gestoßen, die von der ihr zugewiesenen Arbeit weggelaufen ist und schon dann als „asozial“ galt, weil es ja den Zwang gab, die Arbeitspflicht. Überwiegend waren es also Frauen, die aus nicht gefestigten Familienbeziehungen kamen.

Unter den 13 Frauen aus Luxemburg, die den Stempel „asozial“ erhielten, befand sich Therese Müller. Was wurde ihr konkret vorgeworfen, weswegen wurde sie inhaftiert und dann deportiert?

Therese Müller war tatsächlich diejenige, durch die ich auf das Thema gestoßen bin. Ich habe sie interviewt, und sie hat erzählt, dass ihr vorgeworfen wurde, von der Arbeit weggelaufen zu sein. Sie hat in Trier gearbeitet und kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges 1939 versucht, nach Luxemburg zu kommen. Sie ist an der Grenze festgenommen und dann inhaftiert worden, hat eine Odyssee durch die verschiedenen Gefängnisse und Konzentrationslager durchlaufen. Und diese Frau tauchte eben nirgendwo in den Luxemburger Archiven auf. Ihr Name wurde nirgendwo registriert, also weder in den Unterlagen in der Villa Pauly, noch im Nationalarchiv. Sie hat dann einfach eine Nachricht hinterlassen in einem Gästebuch... Ich lege bei meinen Ausstellungen gern Gästebücher aus, und da hat sie reingeschrieben: „Ich war auch da“. Und dann hab’ ich recherchiert und sie in Remich gefunden. Sie war eine unglaublich freundliche, aufgeschlossene, geistig sehr fitte Frau.

Mitunter wurde den betroffenen Frauen Arbeitsunwilligkeit und/oder ein „liederlicher Lebenswandel“ vorgeworfen. Welches nicht erwünschte Verhalten oder welche (vermeintlichen) Einstellungen wurden mit diesen Begriffen von den NS erfasst?

Ja, ein als „liederlich“ gebrandmarkter Lebenswandel. Überwiegend betraf das Frauen, die eben nicht so angepasst lebten. Bei Therese Müller lässt sich das nicht so genau sagen, also unter die Kategorie „asozial“ wurden ganz verschiedene, abweichende Verhaltensweisen gefasst... Es gibt eine junge Frau, die sollte in den Kasematten arbeiten und ist dann da mehrfach weggelaufen und auch inhaftiert worden, aber es ist so, dass diese Kategorie „asozial“ auch mehrfach erweitert wurde, also das war jetzt nicht genau rechtskräftig festgeschrieben. Es gab ein Buch über die sogenannten „asozialen Sitten“. Da wurde dann ganz genau festgeschrieben, was asoziales Verhalten beinhaltet und dazu gehörte auch Trunksucht; schon, wenn die Eltern Alkoholiker waren, wurden die Kinder in der Regel auch stigmatisiert. Die Kategorie ist schwer zu fassen gewesen, war weit auslegbar und richtete sich überwiegend gegen ärmere und ausgestoßene Bevölkerungsteile.

Welche Behandlung erfuhren die als „asozial“ geltenden Frauen? Vielleicht auch im Vergleich mit anderen Opfergruppen... Stimmt es, dass ihnen der Schädel rasiert wurde?

Ja, daran erkannte man sie auch. Es gibt einige luxemburgische politische Häftlinge, die auch darüber berichtet haben, dass sie mit als „asozial“ stigmatisierten Frauen nach Ravensbrück deportiert wurden und dass sie die dort nicht als solche erkannten. Therese Müller hat erzählt, dass sie sich nicht mit anderen Luxemburgern befasst hätte und gar nicht mit denen zusammen war, denn die politischen Häftlinge hätten die Schwarzwinkligen abgelehnt. Die Gruppe der politischen Häftlinge – das war ja eine Gruppe für sich und Leute, die nicht aus politischen Gründen inhaftiert waren, die zählten nicht für sie. Die waren in den Konzentrationslagern zum Teil isoliert, weil es da nicht diesen starken Zusammenhalt gab, wie bei den kommunistischen Häftlingen zum Beispiel. Yvonne Useldinger hatte eine enge Freundschaft mit verschiedenen politischen Häftlingen. Die haben sich viel geschrieben, sich gegenseitig betreut und besucht, wenn einer krank war. Diese Solidarität gab es bei den als „asozial“ stigmatisierten Frauen nicht. Sie waren zum großen Teil Einzelkämpferinnen, mussten sich selbst durchs Leben schlagen. Therese Müller hat erzählt, dass sie mit niemandem gesprochen und Kontakt hatte, sich von allen ferngehalten hat. Jeder war für sich und dadurch war es viel schwerer zu überleben. Therese Müller hat berichtet, sie hätte immer nur Trockenbrot gegessen, sie hätte nie schwarze Brühe getrunken, weil da immer komische Schnecken drin herumschwammen. Sie hatte ein regelrechtes Überlebensprogramm. Die war ja selber schon als junge Frau an den Rand gedrängt, weil sie eben nicht aus einem begüterten Haus kam... Das waren viele Leute, in Frankreich nannte man sie „Système D“, die sich immer durchschlagen mussten und das hat sie im KZ auch gemacht, immer geguckt, immer durchgehalten.

Welche Übergriffe haben die sogenannten „Asozialen“ noch von den Nationalsozialisten erfahren? Und inwiefern wurden diese mit dem NS-Gedankengut gerechtfertigt?

Wie Therese Müller wurden viele „Asoziale“ zwangssterilisiert. Sie galten nach „rassehygienischen“ Konzepten als „minderwertige“ Menschen und sollten sich auf keinen Fall vermehren. Die Frauen aus einer „asozialen Sippe“ sollten keine Kinder kriegen, weil jeder, der nicht selbst für seinen Lebensunterhalt sorgen konnte – ob sie in Fürsorgeheimen waren, arbeitslos oder arm, sie wurden prinzipiell sterilisiert, weil sie dem Staat nicht auf der Tasche liegen sollten. Sie galten wie Behinderte als „lebensunwertes Leben“.

Kann man denn sagen, dass die als „asozial“ klassifizierten Menschen nicht explizit politisch waren? Und wie wurde denn dann mit Menschen verfahren, die Anspruch auf mehrere Winkel hatten? Wie wurde etwa mit Anarchistinnen verfahren?

Es kam vor, dass Jüdinnen als „asozial“ kategorisiert wurden, aber dann galt die Kategorie „Jude“ als schlimmer bzw. als Hauptstigma, es war dann nicht ersichtlich, dass sie auch als „asozial“ galten. Sie waren ja ohnehin dem Vernichtungswillen ausgesetzt. In der Regel waren die Leute jedoch unpolitisch und zum Beispiel bei Therese Müller hatte ich den Eindruck, dass sie selbst nicht wusste, warum sie als „asozial“ kategorisiert war. Sie konnte mit dieser Fremdzuschreibung nichts anfangen...

Galten Sinti und Roma, seiner Zeit als „Zigeuner“ kategorisiert, ebenfalls als „asozial“?

Ja, die galten auch als „asozial“. Es gab eine Luxemburgerin, die wurde als „Vorbeugehäftling“ kategorisiert. Das ist auch eine Kategorie, die überwiegend als „asozial“ stigmatisierte Personen betraf. Das waren Frauen, die Klein-Delikte begangen hatten. Einer Frau wurde etwa vorgeworfen, dass sie ein Huhn gestohlen hat – dies in einer Situation von sehr viel Armut und Not.

Inwiefern wurde die Ausgrenzung der als „asozial“ stigmatisierten Frauen nach 1945 fortgesetzt?

In Luxemburg wurden nur die politischen Häftlinge registriert. Die aus anderen Gründen Inhaftierten wurden weder erfasst, noch spielten sie in der Erinnerungskultur eine Rolle. Wenn also gesagt wurde: Es gab 163 luxemburgische Frauen im KZ-Ravensbrück, ist es eigentlich nur die halbe Wahrheit, denn diejenigen Frauen, die aus nicht-politischen Gründen dort inhaftiert waren, wurden einfach gar nicht mitgezählt. Ich habe gerade über eine Frau recherchiert, die hatte einen roten Winkel bekommen, wurde in Luxemburg aber als Prostituierte verhaftet und ist auch im Gesundheitsamt registriert worden, weil sie eine Geschlechtskrankheit hatte... Und sie ist mit einem roten Winkel dorthin deportiert worden. Manchmal war die Vergabe der Winkel sehr willkürlich. Eigentlich hätte sie nach der nationalsozialistischen Logik einen schwarzen Winkel bekommen müssen, aber sie bekam einen roten. Als sie nach Luxemburg zurückkam, wurden Frauen wie sie nicht angenommen. Manche sind zu einer Stelle gegangen, wo sie registriert wurden und wollten Unterstützung, weil sie im Konzentrationslager waren. Sie haben aber keine bekommen. Die sind bis heute komplett verschwiegen worden. Dazu hat nie jemand geforscht. Ich habe vor zehn Jahren mal einen Antrag an der Uni Luxemburg gestellt. Ich wollte gern zu diesen Frauen forschen, da hat Therese Müller noch gelebt und ich hatte den Eindruck, dass man da noch viel mehr finden würde. Aber an der Uni Luxemburg war das alles so behäbig, der Forschungsantrag wurde abgelehnt. Jetzt habe ich es im Rahmen meines neuen Buches nur am Rande aufgreifen können. Das Resistenzmuseum möchte 2022 auch eine Ausstellung zu vergessenen Opfergruppen machen. Und dazu recherchiere ich gerade ein bisschen, aber normalerweise müsste sich jemand hinsetzen und eine richtige Arbeit darüber schreiben.

Die sogenannten „Asozialen“ haben also noch keinen Platz in der Geschichtsschreibung und der Gedenkkultur, woran liegt das? Gibt es evtl. gemeinsame Initiativen der Betroffenen?

Es ist eine Gruppe, die keine Lobby hat. Sie hatte auch nach 1945 keine Interessenvertretung. Meistens sind es Frauen, die sich dafür schämen, was ihnen angetan wurde. Diese Scham ist sehr groß, und das sieht man ja auch an der Entwicklung dieses Begriffes – also ich höre diesen Begriff „asozial“ ja auch noch bei Jugendlichen als Beschimpfung. Es sind in der Regel ärmere Leute, um die sich die Gesellschaft nicht groß schert. Es ist auch heute noch ein heikles Thema. Es gibt mittlerweile ein paar Forschungsarbeiten dazu, wie die Pionierstudie von Wolfgang Ayaß, der über die Verfolgung von Asozialen im Nationalsozialismus geforscht hat. Doch die Quellenlage ist sehr schwierig, und es gibt kaum Interviews mit den Betroffenen. In Luxemburg fiel mir auf – da, wo ich mit Verwandten von einer Frau gesprochen hab –, dass selbst die Verwandten nicht wussten, dass sie im Konzentrationslager gewesen war. Ich habe mit jemandem telefoniert, ich suche Verwandte von Frau soundso, und dann sagte er: Ja, das ist meine Verwandte, eine Tante, die in Esch gewohnt hat, aber sie ist schon in den 70er Jahren gestorben. Und als ich sagte: „Sie war im Konzentrationslager“, sagte er: „Das wusste ich überhaupt nicht.“ Und danach: „Ja, meinen wir denn überhaupt dieselbe?“ Ich habe ihm dann die gesamten Lebensdaten vorgetragen, woraufhin er bestätigte: „Das ist genau meine Tante! Aber bei uns in der Familie wusste niemand, dass sie im Konzentrationslager war.“ Sie hatte es geheim gehalten. Viele Frauen kamen aus dem Lager und waren weiterhin stigmatisiert. In der Regel trafen sie dann auf dieselben Personen, die im Krieg vor ihnen saßen und über sie bestimmt haben, falls sie denn weiter von Fürsorgeeinrichtungen abhängig waren und von Sozialgeldern. Luxemburg ist klein. Wenn jemand im KZ als „Asozialer“ war und die Person dies öffentlich thematisiert hätte, hätten sicher viele gedacht: „Ja, die hat bestimmt völlig zu Recht dagesessen. Wer weiß, was die gemacht hat!“ Es gab keine Entschädigungsmaßnahmen. In Deutschland sehr wenig, und in Luxemburg wurde kaum über sie gesprochen. Die gab’s gar nicht.

Mess, Kathrin: „Hier kommst Du nie mehr raus“, Luxemburger Frauen im Zweiten Weltkrieg zwischen Widerstand, Inhaftierung und Verfolgung, Institut für Geschichte und Soziales Luxemburg ASBL, November 2021

Anina Valle Thiele
© 2023 d’Lëtzebuerger Land