Mit einiger Mühe hat die Regierung die Impfkampagne hochgefahren. Unter den schon wegen ihres Alters Vulnerablen sind viele noch ungeimpft.
Zeit für eine Impfpflicht ab 60?

‘t ass Impfwoch

d'Lëtzebuerger Land du 10.12.2021

Diese Panne ist mittlerweile schon fast legendär: Nach dem Regierungsrat vom 29. November hatte Premier Xavier Bettel erklärt, wer mit dem Covid-Vakzin von Astrazeneca geimpft wurde, könne schon nach vier Monaten und nicht erst nach sechs eine dritte Dosis mit einem mRNA-Impfstoff erhalten. Das betreffe „rund 45 000 Leute“. Man wisse, dass die Wirkung von Astrazeneca „schneller sinkt“.

45 000 potenzielle Konkurrenten um den „Booster“ – das war Motivation genug für so viele mit Astrazeneca Geimpfte, dass am Tag danach vor dem Impfzentrum in Limpertsberg der Verkehr zusammenbrach. Denn Xavier Bettel hatte auch angekündigt, man könne „spontan“ in die drei Impfzentren in Limpertsberg, Belval und Ettelbrück gehen. Am Nachmittag des 30. November musste das Gesundheitsministerium auf die Bremse treten: Die Auffrischungsimpfungen gebe es nur mit Termin. Lediglich die erste Impfdosis könne man in den Zentren einfach so empfangen.

Das Durcheinander ist ein Beispiel für die Mühe, die die Regierung hat, um ihre Impfkampagne hochzufahren und dabei die richtigen Schwerpunkte zu setzen. All dies in einer Zeit, da der Corona-Infektionsdruck wächst. Vor drei Wochen hatte die Inzidenz innerhalb von acht Tagen um 31 Prozent zugenommen. Vor zwei Wochen stieg sie um weitere 25 Prozent, vergangene Woche (bis zum 5. Dezember) um 14 Prozent. Diese Woche ist „Impfwoche“. Lëtzebuerg léisst sech impfen!, wirbt die Regierung und informierte vergangenen Freitag in Großanzeigen in der Tagespresse über landesweite Pop-up-Impfstellen auf Weihnachtsmärkten, in Einkaufszentren oder der Stater Gare. Bis ins neue Jahr soll es Pops-ups geben, sollen die Vakzine auf diese Weise nah zu den Bürger/innen gelangen. Erst 78 Prozent der über 18-Jährigen waren Mitte dieser Woche voll geimpft.

Doch derart mit den Impfungen durchstarten zu können, wie der Premier und Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) Ende November angekündigt hatten, ist vielleicht auch auf längere Sicht nicht selbstverständlich. Plötzlich heißt es wieder, „wenn Impfstoff geliefert wird“. Am Mittwoch kurz vor zwölf Uhr schrieb Xavier Bettel auf Twitter, 100 000 Dosen von Moderna seien angekommen. Deshalb werde am heutigen Freitag das Impfzentrum in Findel, in einer Halle der Air Rescue, vorübergehend wieder eröffnet und Booster-Impfungen vorbehalten sein. Allerdings nur auf Termin. 57 000 Einladungen würden noch am selben Tag verschickt. Vermutlich in erster Linie an mit Astrazeneca Geimpfte, unter denen sich vergangene Woche herumsprach, auf einen Booster-Termin sieben bis zehn Tage warten zu müssen.

Vergangene Woche hatten auch Hausärzte sich unvermutet zum Warten aufgefordert gesehen: Das Gesundheitsamt informierte die 260 Allgemeinmediziner/innen, die an der Covid-Impfung teilnehmen, dass der Impfstoff von Biontech/Pfizer nur noch begrenzt verfügbar sei und stattdessen auf Moderna gewechselt werde. Von Ärzt/innen, die daraufhin dieses Vakzin zu bestellen versuchten, erfuhr d’Land, dass sie zunächst den Bescheid erhielten, es sei Anfang dieser Woche lieferbar. Was dann korrigiert wurde: Selbst für die Woche danach könne das nicht garantiert werden. Nach der Lieferung, die diesen Mittwoch eintraf, stimmt das wahrscheinlich nicht mehr, aber trotzdem: Wenn überall in Europa geimpft und geboostert wird, scheinen Engpässe zwangsläufig.

Treten sie tatsächlich ein und dauern sie an, drohen delikate Situationen, wenn kommende Woche das nächste Update zum Covid-Gesetz verabschiedet wird und anschließend die „2G-Regel“ für alles gilt, was „Freizeit“ ist – vom Gang ins Restaurant über den Kinobesuch bis hin zum Spaziergang über einen Weihnachtsmarkt. Und wenn ab Mitte Januar „3G“ am Arbeitsplatz obligatorisch wird: Wer sich dann nicht impfen lassen will oder von Covid-19 vor spätestens sechs Monaten genesen ist, müsste jeden Tag einen zertifizierten Test vorweisen und für ihn bezahlen.

Ob das Impfangebot ungebrochen Schritt halten kann mit der gesteigerten Nachfrage, die aus dem erhöhten psychologischen Druck zum Impfen erwünscht ist, muss sich zeigen. Ob die Impfungen die richtigen Zielgruppen erreichen, auch. Der Ansatz der Regierung lautet, Impflücken zu schließen sowie schon Geimpfte mit einer dritten Dosis zu „boostern“. Eine Auffrischungsimpfung schraubt die Antikörper-Immunantwort für einige Monate wieder hoch und stimuliert das Immunsystem generell. Dadurch kann, das haben Studien aus Israel und Großbritannien gezeigt, die Übertragung der ansteckenden Delta-Variante des Virus um 90 Prozent gesenkt werden. Wenn etwas das Weihnachtsgeschäft von Einzelhandel und Gastronomie retten kann, dann das. Der Premier nannte es Ende November „einen Lockdown verhindern“. Wer sich neu impfen lässt, erreicht vollen Schutz erst sieben bis zehn Tage nach der zweiten Injektion, hilft damit natürlich sich selbst, aber der Beitrag zur Bremsung der Infektionen allgemein und zur Aufrechterhaltung des wirtschaftlichen und öffentlichen Lebens würde erst im Januar wirken.

Hilfreich ist, wie es derzeit aussieht, dass die Nachfrage nach Auffrischungsimpfungen von alleine hoch ist. Fast jeder fünfte Erwachsene hat sie bisher erhalten. Von den knapp 33 000 vergangene Woche verabreichten Impfdosen waren 26 000 Booster. Für die laufende Impfwoche gab die Gesundheitsministerin am Mittwoch in einem von Paperjam und Delano organisierten Webinar an, die Zahl der Erstimpfungen habe sich verdreifacht. Aber noch sind das kleine Zahlen: Am Dienstag etwa wurden 889 Erstdosen verabreicht sowie 690 zweite. Dagegen fast 5 000 Booster.

Unklar ist, inwiefern die ums Dreifache gewachsene Bereitschaft, sich impfen zu lassen, jene betrifft, denen das besonders dient. Zwölf Prozent der über 60-Jährigen sind noch ohne Impfung. Das entspricht mehr als 15 000 Personen, die wegen ihres Alters, beziehungsweise wahrscheinlicheren Vorerkrankungen besonders gefährdet sind. Ab 70 kann eine Covid-Infektion ohne Impfung schnell lebensbedrohlich werden. In der Covid-Statistik ist die Korrelation zwischen ungeimpften über Fünfzigjährigen und der Zunahme der Intensivbettenbelegung besonders stark.

Eine Land-Anfrage, ob ein spezieller Ansatz existiert, um ältere Ungeimpfte zu erreichen, hatte das Gesundheitsministerium bis zum Redaktionsschluss nicht beantwortet. Der offiziellen Statistik ist zu entnehmen, dass 93 Prozent der Bewohner/innen von Alten-und Pflegeheimen zwei Mal geimpft sind. „Fast alle“ hätten auch die dritte Dosis erhalten, sagte Joël Mossong, Epidemiologe im Gesundheitsamt, dem Land vor zwei Wochen (d’Land, 26.11.2021). Das sei ein „superguter“ Schutz. Von den schon zwei Mal geimpften über 60-Jährigen lassen offenbar viele sich ihre Impfung auffrischen: 46 Prozent waren Mitte dieser Woche ein drittes Mal geimpft, vor vier Wochen waren es nur 18 Prozent. Der Anteil der überhaupt, also zwei Mal Geimpften an dieser Altersgruppe nimmt bisher nur langsam zu: Vor zwei Monaten lag er mit 87 Prozent nur einen Punkt niedriger als derzeit.

Vielleicht kommen Pop-up-Impfangebote Älteren ja entgegen. Für Hausärzte als besondere Vertrauenspersonen gilt das sicherlich ebenfalls, und im nächsten Covid-Gesetz soll auch auf Apotheker gesetzt werden. Er höre von seinen Kolleg/innen, sagt Alain De Bourcy, Präsident des Syndicat des pharmaciens luxembourgeois, dass ältere Kund/innen angäben, „wenn bei Ihnen in der Apotheke geimpft wird, lasse ich mich vielleicht impfen“. Doch wie weit die Mitarbeit der Apotheker/innen wird reichen können, ist die Frage. Ganz abgesehen davon, dass dazu eine Zusatzausbildung absolviert werden muss: „Wir sind auf jeden Fall bereit zu helfen“, sagt Alain De Bourcy. „Aber die Hauptmission von Apothekern ist natürlich die Ausgabe von Medikamenten.“

Die Mitarbeit von Hausärzten hat ebenfalls ihre natürlichen Grenzen. „Wenn ein Hausarzt einen ganzen Arbeitstag lang nur impft, schafft er höchstens 50 Patienten“, sagt der Allgemeinmediziner Jean-Paul Schwartz, der auch dem Conseil supérieur des maladies infectieuses angehört. Denn in der Regel hätten die Patient/innen in einer Impfsprechstunde auch noch andere Wünsche. Eine Verschreibung für ein Medikament vielleicht oder für eine Runde Kiné. Oder sie suchen noch einen Rat. In einem Impfzentrum dagegen dauert die Impfung nur drei Minuten.

Latente Impfstoffknappheit, organisatorische Probleme, Schwierigkeiten bei der Bereitstellung von Fachpersonal zum Impfen und beim Akzentuieren der ganzen Aktion: Dass unter diesen Umständen eine liberale Impfpolitik zu viel mehr Impfungen führt, ist nicht selbstverständlich. Dass wer schon zweimal geimpft wurde, eine Auffrischung will, bleibt wahrscheinlich. Ob die noch Ungeimpften der demnächst für sie geltende Teil-Lockdown mit 2G in großer Zahl zum Impfen bewegt, ist nicht gesagt. Stattdessen könnten die Konflikte in der Gesellschaft zunehmen. Und über all dem schwebt neuerdings die „Omikron-Variante“. Noch weiß man wenig über sie. Pfizer und Biontech erklärten am Mittwoch, eigenen Untersuchungen zufolge lösten drei Dosen ihres Impfstoffs eine nennenswerte, Omikron „neutralisierende“ Antikörper-Immunantwort aus. Virologen der Universität Frankfurt hingegen schrieben am Dienstag auf Twitter, von ihnen durchgeführte Tests hätten ergeben, dass drei Monate nach der dritten Pfizer-Biontech-Dosis die neutralisierende Wirkung gegen Omikron auf 25 Prozent sinke, während sie gegen die Delta-Variante noch 95 Prozent betrage. Sechs Monate nach lediglich zwei Impfdosen in egal welcher Kombination der in der EU zugelassenen Vakzine sei sie gegenüber Omikron gleich null.

Meldungen wie diese werden die Kommunikation über Covid und die Impfungen schwieriger machen. Die Frankfurter Forscher fügten auf Twitter hinzu, dass ihre Befunde „nichts dazu aussagen, ob man weiterhin vor einem schweren Verlauf geschützt ist (Stichwort T-Zellen)“. Der Hinweis ist wichtig, denn auf diese Frage gibt es zu der neuen Variante noch keine Antworten. Noch ist nicht klar, wie krank die Omikron-Mutation macht, und die Erforschung der Immunantwort über das „Immungedächtnis“ und T-Zellen ist viel aufwändiger als die von Antikörperwirkungen. Aber alle derzeit verabreichten Impfstoffe basieren auf dem „Wuhan-Typ“ des Coronavirus, der im Infektionsgeschehen keine Rolle mehr spielt. Dennoch schützen sie vor schweren Verläufen bei Infektion auch mit der Delta-Variante, die im Frühjahr so viel Furcht auslöste. Solche Argumente müssen demnächst voraussichtlich all jenen entgegengehalten werden, die sagen: Ich warte lieber auf einen an Omikron angepassten Impfstoff.

Alles zusammengenommen, wird die Corona-Krise immer mehr zu einer der politischen Führung. Die Regierung hat stets davor zurückgeschreckt, unpopuläre Entscheidungen zu treffen. Im Grunde tun alle europäischen Regierungen das, aber die Luxemburger wartet besonders ab, was die anderen tun, um vielleicht nachzuziehen. Doch wer nicht einmal dafür sorgen kann, dass die besonders Vulnerablen schnell geimpft werden, sollte eine Impfpflicht zumindest für die ab 60-Jährigen erwägen. Sie würde obendrein Druck von den Kindern und Jugendlichen nehmen, die in den 21 Monaten Covid-Seuche besonders viele Opfer für den Schutz der Älteren und Vulnerablen gebracht haben, obwohl ihnen selber das Virus meist nur wenig anhaben kann.

Peter Feist
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