Türkei

Ein Virus befällt den Autokraten

d'Lëtzebuerger Land vom 15.05.2020

Die Corona-Epidemie erwischte die Türkei auf dem falschen Fuß. Als Mitte März die ersten Fälle in der Millionen-Metropole Istanbul bekannt wurden, war das Land mit den Auslandseinsätzen der türkischen Armee in Syrien und Libyen beschäftigt. Zunächst redete die Regierung in Ankara die Gefahr klein. Als sie die Ausmaße der Epidemie erkannte, zog sie plötzlich alle Register: Menschen unter 20 und über 65 durften mehrere Wochen ihr Haus nicht verlassen. Der Rest durfte höchstens zur Arbeit und zum Einkaufen gehen.

Auf die wirtschaftlichen Folgen der Epidemie ist das Land jedoch nicht vorbereitet. Wie in anderen Ländern, kämpfen Unternehmer ums Überleben. Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter buchstäblich auch. Viele von ihnen wurden fristlos entlassen, andere in unbezahlten Zwangsurlaub geschickt. Zwar verabschiedete das Parlament ein Gesetz zur Kurzarbeit, doch in der Türkei sind mehr als die Hälfte der Beschäftigten offiziell nicht angemeldet und damit rechtelos.

Dass die Türkei so wenig vorbereitet auf die Pandemie war, verdankt das Regime in erster Linie Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan persönlich, sowie seinem Schwiegersohn Berat Albayrak, dem Wirtschaftsminister. Beide betrachten die Wirtschaft nicht wie eine Wissenschaft, mit eigenen Gesetzmäßigkeiten, sondern als einen Spielball ideologischer Erwägungen.

Als Erdogan seinen Schwiegersohn im Juli 2018 zum Finanz- und Wirtschaftsminister kürte, steckte das Land bereits in einer tiefen Wirtschaftskrise, welche teilweise aus falscher Invesitionspolitik entstanden war. Ausgelöst wurde sie durch Erdogans politisches Vabanque-Spiel. Damals beschimpfte Erdogan gerne westliche Politiker und Institutionen, versuchte – der Nato zum Trotz – Waffengeschäfte mit Russland abzuwickeln. Gleichzeitig erhöhte er den Druck auf die türkische Zentralbank, damit sie die Zinsen senkte. Laut Experten, alles falsch.

Die Märkte reagierten prompt. Die türkische Lira, die ohnehin seit dem erfolglosen Putschversuch im Sommer 2016 schwächelte, verlor innerhalb weniger Tage 30 Prozent ihres Wertes. Albayrak, Pudel seines Schwiegervaters, trötete ins gleiche Horn und tönte, es handele sich um eine antitürkische Verschwörung des Westens. Damals kostete ein US-Dollar noch 4,70 Türkische Lira. Heute schon knapp sieben Lira.

Während Albayrak die negative Entwicklung fortwährend kleinredete, versuchte das Regime die unzufriedenen Bürgerinnen und Bürger mit nationalistischer Demagogie und Aktionen abzulenken. Ganz erfolglos waren sie
damit nicht.

Die Türkei muss allein dieses Jahr 170 Milliarden US-Dollar Auslandsschulden zurückzahlen. Die Mittel dazu hat sie nicht: Die Reserven der Zentralbank sind leer und nur durch Swapgeschäfte zwischen den tükischen und ausländischen Banken kann noch ein positiver Haben-Wert erreicht werden.

Unter normalen Umständen wäre die Wirtschaft des durchaus erfolgreichen Exportlandes Türkei in der Lage, die Schuldenlast zu tragen. Doch die Epidemie läßt sämtliche Unternehmen ruhen. Dadurch wachsen gegenwärtig nur noch die Schuldenberge und die Finanzlöcher in der Staatskasse.

Die Folgen dieser Entwicklung bekommt die Bevölkerung direkt zu spüren. Zunächst merkten es die Hausfrauen, die nach wie vor die Einkäufe der türkischen Familien erledigen. Die Lebensmittelpreise schossen jüngst rasant in die Höhe. Zuletzt stieg auch der Spritpreis, obwohl die Preise weltweit sinken. Bürokraten konnten nur noch durch komplizierte Tricks verhindern, dass die Verteuerung in den Statistiken in ihrer wahren Dimension ersichtlich wurde. Dennoch stieg die Inflation innerhalb sechs Monate von 8 auf heute 12 Prozent.

Die Arbeitslosigkeit hingegen sei statistisch sogar gesunken, was die Regierung laut und demonstrativ feiert. Doch so richtig will das niemand glauben, da viele Menschen nun zuhause sitzen und warten. Was die Bevölkerung schon längst weiß, erklären Wirtschaftsexperten damit, dass die Arbeitslosenstatistik der Realität mit dreimonatigem Abstand hinterherhinkt. Die Effekte der Coronakrise werden also erst Ende Juli statistisch sichtbar.

Allmählich greift nun die Opposition das Thema auf. Der Vize-Parteichef der größten Oppositionspartei, der Republikanischen Volkspartei, Faik Öztrak, verbindet denn auch die Finanzkrise mit der institutionellen Krise. „Erdogan hatte uns versprochen, mit dem Präsidentialsystem werde die Wirtschaft Flügel bekommen. Der Einzige, der Flügel bekommen hat, ist der US-Dollar“, ätzte er letzte Woche. Solche Kritik sitzt und beängstigt die Machthaber um Erdogan.

Sie suchen nach einem Ausweg, aber einfache Lösungen sind nicht zu finden. Sie versuchen ihre Bürger mit Nebendebatten über Putsche und Terroristen abzulenken. Keine der verbleibenden realistischen Maßnahmen schmeckt dem ideologisch denkenden Erdogan: Sparmaßnahmen à la Internationaler Währungsfonds, Zinserhöhungen, neue Auslandsschulden mit noch höheren Kosten oder die Einschränkung des freien Kapitalverkehrs.

Cem Sey
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