Die kleine Zeitzeugin

Wählerevidenz

d'Lëtzebuerger Land vom 21.06.2024

Das hätten Sie im März machen müssen! Also bis März, spätestens! Das müssen Sie ja beantragen! Ohne Antrag geht so was doch nicht! Das Kopfschütteln das aus dem österreichischen Innenministerium mein Handy-Ohr heimsucht ist geradezu dröhnend.

Was habe ich mir auch wieder vorgestellt! So was Utopisches! Einfach wie Bonjour! Einfach in ein Wahlbüro reinmarschieren. Einfach den Ausweis zücken, einfach sich ausweisen als jemand Toller, jemand Doppeltoller. Zunächst einmal als Bürgerin eines selbstbewussten Landes, das nur noch Sitzengebliebene Schurkenstaat nennen und in dem Migrant/innen und Ureinwohner/innen wie im Paradies nebeneinander leben ohne sich allzu sehr mit gegenseitigem Interesse zu belästigen, in vielen Sprachen nicht miteinander reden und die paar Rechten eher komisch als bedrohlich rüberkommen. Und als Teil des tollsten Weltteils überhaupt. Klar, wegen der Freiheit und der Demokratie, sie kostet nichts, nicht mal das Leben, wegen des Regenbogens, der schmucken Ruinen, der Neubauviertel mit umweltfreundlichem Unkraut. Und, ja, verhungern tut hier auch keine/r, theoretisch, und es gibt Anti-Depressiva auf Krankenkasse.

Dass ich dann, so habe ich mir das vorgestellt, nachdem ich meinen Ausweis gezückt und einen Wahlzettel in Empfang genommen habe, mich in die Wahlkabine zurückziehe um dort höchst Intimes, vermutlich gar Analoges zu treiben. Etwas, was mich als valides Mitglied dieser Gesellschaft bestätigt. Zum ersten Mal seit… Jahrzehnten! Ich gehöre zu euch, zu uns! Zu den Wertevollen! Europa, hier bin ich!

Zwei Mal habe ich immerhin die luxemburgische Botschaft in dem Land, in dem ich meinen verlängerten Auslandsaufenthalt absolviere, angerufen um sicherzugehen. Dass es wirklich klappt, dieses Mal! Zu viele Flash Backs habe ich von Wähler/innenlisten, auf denen ich nie registriert bin, von den skeptischen Blicken der Wächter/innenfront in den Wahlbüros, vor der ich regelmäßig abpralle um mich dann zu schleichen, wie es hierzulande so charmant heißt. Zwei Mal bestätigt mir die nette Botschaftsdame, ich könne zwar nicht für Luxemburg wählen, für Österreich aber sehr wohl. Nur hingehen, reingehen, wählen, alles gut.

Um noch sicherer zu gehen, rufe ich das österreichische Innenministerium an. Das sieht mein Vorhaben nicht so locker. Aber ich bitte Sie! Da hätten Sie sich in die Wählerevidenz eintragen müssen!

Eintragen. Müssen. Bis März. Wählerevidenz. Neues Wort. Für das man schon jenseits der deutschen Grenze ein Wörterbuch braucht. Aber die haben sicher auch ein passendes parat. Die Luxemburger/innen sicher auch, und die Rumän/innen und Portugies/innen, so ein glattes abweisendes Wort das alle kleinen braven europäischen Streber/innenträume platzen lässt. Ja, ich wollte wählen, aber es ging nicht!

Wie oft habe ich das dann gehört. Der junge Österreicher, der in Deutschland wählen will. Aber Sie hätten sich bis April eintragen lassen müssen! Ja, ok, jetzt ist Juni. Dann halt nicht. Der junge Luxemburger, der in seinem Wohnsitz Arlon wählen möchte. Ja, dann halt nicht. Die Spanierin in Paris, die Holländerin in Luxemburg, der diese Wahl nicht spätestens 86 Tage davor eingefallen ist. All diese pflichtbewussten europäischen Bürger/innen, denen man die Ohren voll getönt hat während Monaten. Demokratie. Teilhabe. Verantwortung. Wahrnehmen. Rechtsruck. Verhindern. All diese Europäer/innen, die verstreut in Europa leben, hier, dort, eine kurze Zeit, aus der vielleicht eine lange wird, eine Ewigkeit, ein Leben. Die aus irgendeinem, vielleicht ihnen selbst unbekannten Grund ihre Nationalität nicht abstreifen wie eine alte Haut, und das Land in dem sie leben hat die Doppelstaatsbürgerschaft noch nicht erfunden. Sie bleiben Ausländer/innen, Jahre, Jahrzehnte lang, lebenslänglich.

Allein in Deutschland wären über vier Millionen EU-Ausländer/innen wahlberechtigt gewesen. Ganze fünf Prozent haben dieses Recht in Anspruch genommen. Warum die andern nicht? Könnte es sein, dass es außer mir noch Menschen gibt, die nicht schon im Februar im Sommer stattfindende Wahlen im Kopf haben? Blöd nur, dass es sich bei ihnen ausgerechnet um die vermutlich europäischsten Europäer/innen handelt.

Michèle Thoma
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