Kino

Lass ihn gehen

d'Lëtzebuerger Land du 12.02.2021

Auf der Suche nach Mythologie und Sagenfiguren – derer es den jungen Vereinigten Staaten sicherlich fehlte –, tauchten in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts gerade dort welche auf, wo eher herablassend hingeschaut wurde. In Hollywood wurde bereits zu Beginn der Filmindustrie der Western und Ende der 1930-er an der Ostküste dann Superman geboren. Einige Jahrzehnte später sollte Kevin Costner mit diesen Mythen ein ums andere Mal weiterarbeiten. Er tanzte mit den Wölfen und versuchte in Man of Steel den zukünftigen Superman Clark Kent als Adoptivvater großzuziehen. Mensch kann Zack Snyders Superheldenfilmen alles vorwerfen, aber die Familiendynamik der Kents gehört zu den wenigen Höhepunkten dieser Filme. Dessen war sich Costner bewusst, der wenige Jahre später Let Him Go produzierte.

Zusammen mit Diane Lane – die schon die Mutterfigur in Zack Snyders Filmen verkörperte –, trauert er um den gemeinsamen Sohn, der nach einem Unfall Frau und kleinen Sohn hinterlässt. Einige Jahre später heiratet sie einen nur dem Anschein nach netten Typen. Diane Lanes Margaret beobachtet gar, wie die ehemalige Schwiegertochter und das Enkelkind von ihm auf offener Straße geschlagen werden. Und plötzlich ist die junge Familie wie vom Erdboden verschluckt. In der anschließenden Aufruhr und vor allem Sorge entscheidet das Paar, sich mit dem Truck auf die Suche nach der Familie zu machen. Von North Dakota geht die Reise durch Montana. Wer Fargo der Coens-Brüder kennt, weiß, dass dort Angelegenheiten des öfteren blutig geregelt werden.

Mit Thomas Bezucha sitzt ein unscheinbarer Mann im Regiestuhl. Bisher ist er durch seine wenigen Regiearbeiten wenig aufgefallen. Schauspielstar und Produzent Kevin Costner beweist mit dieser Wahl für den Regieposten aber – wahrscheinlich wegen des überschaubaren Budgets – einen guten Riecher. Let Him Go ist ein überraschend kurzweiliger Genrefilm, der Western, Familiendrama und Rachethriller sauber miteinander verbindet. Die angelsächsische Kritik störte sich an einer angeblichen Unentschiedenheit, was der Film sein wolle. Aber genau dieser Mix ist gewollt.

Let Him Go führt anfänglich Figuren ein, die, einer Blaupause ähnlich, das Geschehen ins Rollen bringen. Es spricht für Diane Lane und Kevin Costner, dass diese Figuren mehr sind als stilistische Schablonen. Costner weiß, die Flammen seiner Stars auf mittelhoch zurückzuschrauben und insbesondere Lane den Vortritt zu lassen. Dass sich die Schauspieler/innen nicht gegenseitig in den Schatten stellen, ist nicht der einzige Umstand, wieso dieser Film funktioniert. Bezuchas Drehbuch lässt seinen Figuren den nötigen Raum und die Zeit, um ihre Motivationen die nötige Kohärenz zu geben. Erdet sie sozusagen und es wird – Western verpflichtet – nicht alles zerredet. Über zwei Ecken wird Let Him Go so zu einem Riff auf John Fords The Searchers - insofern, als die Figuren ihre potenziell egoistischen und mit dem Gesetz nicht in Einklang zu bringenden Motive hinterfragen und das zum Thema des Films machen. Costners Figur ist ein Sheriff im Ruhestand.

Vor allem aber, darauf spielt nicht zuletzt der Titel an, beleuchtet die Handlung die menschlichen Gefühle von Verlust und Trauer. Guy Godfree liefert dazu die elegischen Landschaftsbilder, die nach Neo-Western schreien. Kevin Costner braucht nicht viel mehr, als seinen weltmüden Blick gen Horizont zu werfen, um das emotionale Innenleben seiner Rolle zum Ausdruck zu bringen. Es ist ein Film, der bekannte Hollywood-Schauspieler/innen über 50 Jahre in den Mittelpunkt stellt, die aber nicht nur als dekorative Ballwerfer der Handlung fungieren, sondern wirklich etwas mitzuteilen haben.

Langer Rede, kurzer Sinn: Regisseur, Kameramann, Komponist Michael Giacchino und die Schauspielcrew vollbringen in der ersten Filmhälfte den Akt, den Zuschauer/innen psychologisch schlüssig gestrickte Chraktere vorzustellen, mit denen mensch sich identifizieren kann: Wenn der Rest der Familie Weboy – an deren Spitze als Chefmutter Lesley Manville, bekannt noch von Phantom Thread und etlichen Mike Leigh-Filmen – vorgestellt wird, dann wird parallel die Wende zum harten Genrefilm eingeleitet. Gut, dass die Protagonist/innen zuvor ausführlich eingeführt wurden, sonst wären es schale Vehikel und würden die spannungsgeladenen Ensemble-Szenen und die wenigen durchaus blutigen und gewaltvollen Momente nicht so funktionieren.

Let Him Go ist ein sehr spezielles Western-Familiendrama mit langwierigen Szenen, weiß dabei aber ganz genau, was es wirken möchte. Und der unscheinbare Regisseur Thomas Bezucha beweist, dass ein Film manchmal auch zwei in einem sein können.

Tom Dockal
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