Wie beeinflusst uns „künstliche Intelligenz“ (KI)? Wie werden Jugendliche sich im KI-Zeitalter zurechtfinden? Ein Gespräch mit Candi Carrera, Country Manager von Microsoft in Luxemburg

„Covid hat gezeigt, dass Technologie nicht das Allheilmittel ist“

d'Lëtzebuerger Land du 17.12.2021

Candi Carrera leitet seit 2014 die Geschicke von Microsoft in Luxemburg. Der gebürtige Differdinger studierte Informatik und Mathematik. Vor seinem Wechsel zu Microsoft managte er die Beratungs- und Ingenieurdienstleistungen von Telindus und das European Business Reliance Centre (EBRC). Seit Januar 2020 gehört Carrera dem Vorstand des Luxembourg Institute of Science and Technology (List) an. Carrera ist zudem ehrenamtlich tätig: Bei der gemeinnützigen Vereinigung Ryse engagiert er sich als Mentor für junge Geflüchtete, die im Großherzogtum ankommen.

d’Land: Herr Carrera, wann haben Sie heute zum ersten Mal künstliche Intelligenz verwendet?

Candi Carrera: Ich fuhr Auto und sprach mit meinem Telefonassistenten, um eine SMS an meine Frau zu senden. Mein Sprachassistent nutzte also die Spracherkennung, um meine Stimme in geschriebene Worte zu übersetzen. Davon mache ich recht oft Gebrauch, damit ich konzentriert auf die Straße schaue, statt zu tippen.

Trügt der Schein oder ist KI mittlerweile überall anzutreffen?

Nein, noch nicht. Es gibt die Tendenz, dass jedem physischen Gut immer häufiger bestimmte digitale Attribute zugeschrieben werden. Sie haben vielleicht schon von dem Begriff „digitaler Zwilling“ gehört? [Ein digitaler Zwilling ist ein virtuelles Modell, welches ermöglicht, Daten zu verbinden und die Realität virtuell nachzubilden, seien es Menschen, Maschinen oder Städte.] Wir sind zwar noch nicht so weit, dass jedes physische Gut einen digitalen Zwilling erhält, aber ich glaube, das wird in den nächsten Jahrzehnten passieren. Wenn das geschieht, werden die digitalen Zwillinge natürlich riesige Datenmengen erzeugen. Diese Daten werden dann ermöglichen, dass KI in die Gegenstände „einfließt“. Wir lassen zum Beispiel KI in Microsoft 365 einfließen. Künstliche Intelligenz wird immer mehr zu einem Gebrauchsgegenstand. Microsoft ermöglicht schon heute eine Echtzeitumwandlung von Sprache in Text. Das wird in Zukunft den Weg für eine Echtzeitübersetzung zwischen verschiedenen Sprachen ebnen: Ein Telefonat einer französischsprachigen und einer deutschsprachigen Person beispielsweise wird unmittelbar übersetzt werden können. Wir sind jedoch nicht so weit, dass die KI in jeden Prozess einfließt. Das wird noch einige Jahrzehnte dauern, wird aber kommen. Wenn in zehn, zwanzig Jahren ein neues Gebäude oder ein neues Auto gebaut wird, werden sie einen digitalen Zwilling in sich tragen.

Bedeutet dies, dass nicht nur physische Gegenstände digitale Zwillinge haben werden, sondern auch wir selbst?

Absolut. In der gesamten Diskussion um KI geht es um die Verwendung von Big Data: Wenn man keine Big Data hat, kann man keine KI haben. Je mehr künstliche Intelligenz mit Daten trainiert werden kann, desto besser wird sie sehr wahrscheinlich sein.

Und wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie einen digitalen Zwilling hätten?

Der Besitz und die Autorität über die Daten müssen beim Menschen bleiben. Ich möchte meine körperliche Unversehrtheit als Person schützen. Schließlich geht es um meine Privatsphäre, und ich würde erwarten, dass die Unversehrtheit meines digitalen Zwillings ebenfalls gewahrt wird. Das ist unverhandelbar. Gleichzeitig wird dieser digitale Zwilling uns Erfahrungen ermöglichen, die wir bis dato nicht haben, personalisierte Medizin etwa.

Was verstehen Sie unter personalisierter Medizin und warum sind digitale Zwillinge hierzu erforderlich?

Könnte man Ernährungs-, Schlaf- und biologische Aktivitätsdaten analysieren, außerdem Familiendaten, Medikamente, vielleicht sogar die DNA, dann, glaube ich, ließen sich mit diesen Daten präzisere Diagnosen stellen. Derart Medizin zu betreiben, ist eine Chance: Ich denke, gerade hieran werden die Menschen die Vorteile eines digitalen Zwillings erkennen. Ein digitaler Zwilling kann dann durch KI ergänzt werden. Es geht also nicht um die Verfügbarkeit von Daten allein, sondern um das Arbeiten mit den Daten. Der individuelle Mensch muss jedoch die Kontrolle darüber haben, mit wem er oder sie Daten teilt. Das schließt auch Kinder ein.

Apropos Kinder: Haben für Sie Ihren Nachwuchs bildschirmfreie Zeit eingerichtet?

Ja, in unserer Familie haben wir ein Regelwerk, sei es für Bildschirm- oder Gaming-Zeit. So dürfen die Kinder zum Beispiel unter der Woche nicht spielen. Sie haben eine begrenzte Zahl von Stunden, die am Freitag nach der Schule beginnt und am Sonntag endet. Das gilt auch für die Bildschirme: Sie müssen ihre Bildschirme tagsüber während einer bestimmten Zeit ausschalten, damit ihre Schlafqualität nicht leidet.

Welche Werte sollten Kindern vermittelt werden, wenn es um Technologie geht?

Kinder müssen von klein auf mit Technologie interagieren können. Ich sehe einige Werte von fundamentaler Bedeutung und würde drei nennen: Ethik, Vielfalt und Inklusion. Diese drei grundlegenden Werte sollten wir unseren Kindern von Anfang an beibringen. Das erfordert kognitive Fähigkeiten. Unsere Kinder sollten in der Lage sein, kritisch zu sein. Im Berufsleben werden sie auf das stoßen, was wir bereits angeschnitten haben: Digitale Zwillinge, Big Data, KI, die in alle Arten von Prozessen einfließt und mit uns Menschen interagiert. Kinder sollten sehr früh erkennen, worin eine gute und worin eine schlechte Interaktion mit Technologie besteht.

Kommt dem Lehrpersonal dabei eine Schlüsselrolle zu?

Für Lehrer war es absolut nicht einfach, unsere Kinder während der Pandemie zu betreuen und beschäftigt. In naher Zukunft werden Lehrer hingegen Technologie nutzen, um den Kindern einen persönlichen Lehrplan anbieten zu können, der angepasst ist an die einzelnen Schüler. Die Kinder werden daher einen digitalen Zwilling besitzen, insbesondere wenn wir über Bildung sprechen. Genauso wie wir eine bessere medizinische Diagnostik erwarten, werden wir innerhalb des nächsten Jahrzehnts eine schülerzentrierte Bildung haben. Das ist sicher.

Was halten Sie von dem Modell einer Schule im Silicon Valley, in der Smartphones und Tablets nicht erlaubt sind?

Ich glaube, je früher unsere Kinder mit Technologie in Berührung kommen, desto eher müssen sie von den Eltern und den Lehrern einen Rahmen erhalten, der es ihnen erlaubt, sinnvoll zu unterscheiden zwischen einer mit digitalen Geräten „verbundenen Zeit“ und einer „Zeit zum Abschalten“. Beziehungsweise ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen beiden herzustellen.

Aber neigt unsere heutige Gesellschaft nicht zum bloßen Technikkonsum?

Im Großen und Ganzen tendiert sie leider dazu. Es wird einfach zu viel konsumiert, ohne darüber nachzudenken, warum. Dennoch meine ich, dass Kinder sehr früh mit Technologie in Kontakt kommen sollten; nicht nur als Konsumenten, sondern zugleich als engagierte Akteure im Umgang mit Technologie. Die Gesellschaft sollte mehr Technologie nutzen, um kreativ zu sein oder Wissen zu vertiefen, statt nur als Konsumenten zu agieren.

Die Netflix-Dokumentation The Social Dilemma zeigt, wie die sozialen Medien das Selbstwertgefühl von Jugendlichen aushöhlen. Schaden diese KI-gesteuerten Plattformen der heutigen Jugend?

Die großen Plattformen tragen eine Verantwortung, das ist sicher. Ich möchte hier auf niemandem mit dem Finger zeigen. Obwohl sich die Geschäftsmodelle der großen Tech-Firmen unterscheiden, sind alle gefragt. Es muss in gewissem Umfang ein Denkprozess stattfinden und eine Rechenschaftspflicht erfüllt werden. Es gibt bereits Kontrollinstanzen, und ich glaube, dass die Verantwortung nicht allein auf Jugendliche oder ihre Eltern abgewälzt werden kann.

Es bedarf also weiterer Kontrollansätze, um die Kehrseiten von KI zu bewältigen?

Es besteht eine kollektive Verantwortung. Ich nenne drei Akteure: Die Familie spielt natürlich eine Rolle. Das bringt uns zurück auf die Frage, wie technikaffin die Eltern sind und wie digital versiert mit Blick auf technologische Interaktionen. Ebenso muss die Regierung in gewissem Maß eine regulierende Rolle spielen. Und schließlich müssen die großen Technologieunternehmen selbst angemessen agieren. Ich glaube, wenn diese drei Akteure zusammenarbeiten, kann die Jugend gedeihen. Verantwortung tragen aber auch die Medien. Persönlich würde ich zum Beispiel viel mehr positive Nachrichten sehen wollen – auch in der Presse. Es gibt so viele positive Dinge, die jeden Tag passieren, auch in Luxemburg, deren die Menschen sich nicht bewusst sind. Wir neigen dazu, eine Gesellschaft zu werden, in der Angst und Sensationslust überwiegen. Angesichts dieses Hangs zum Negativen müssen wir alle, nicht nur die Tech-Leute, sondern auch die Medien eine Rolle dabei spielen, positive Geschichten zu verbreiten und ins Bewusstsein der Gesellschaft hineinzutragen.

Es gibt bereits KI-gesteuerte Technologien, die ihre eigenen Texte schreiben. Damit gerät der Journalismus in Bedrängnis.

In der Tat, ja. Aber ich schätze immer mehr, dass wir über die Evolution der Denkweisen sprechen, zurzeit auch im Journalismus. In den letzten Jahren habe ich vermehrt gesehen, dass in der Presse ein Faktencheck eingerichtet oder im Fernsehen zur besten Sendezeit über Fake News berichtet wurde. Wahres wird also von Falschem geschieden. Das hatten wir vor fünf Jahren nicht: Dass zur Hauptsendezeit Fakten überprüft werden und über Fake News gesprochen wird. Wir erwähnten vorhin die Bildung der Kinder: Erfährt ein Kind zur Hauptsendezeit eines Magazins, dass Fake News existieren, dann fördert dies sein kritisches Denken.

Am 24. September demonstrierten auf der ganzen Welt Jugendliche für Klimaschutz. Glauben Sie, dass Technologie ein Mittel ist, um uns bei dieser großen Herausforderung zu unterstützen?

Die Natur wird immer stärker als die Menschen sein. Niemand braucht jetzt weitere Studien über die Heftigkeit der Wetterphänomene, die wir derzeit erleben. Ich zähle darauf, dass Big Data und KI uns dabei unterstützen werden, die Ressourcen der Erde effizienter zu nutzen, damit wir eine viel nachhaltigere Gesellschaft werden. Beispielsweise könnte KI erkennen, dass sich niemand in diesem Konferenzraum befindet, in dem wir eben noch sitzen und dann das Licht ausschaltet. Schon solche Nano-Details können einen Beitrag leisten. Wir sind ernsthaft gefordert, um auf dieser Erde weiterleben zu können. Wir können viel über Produktivität und Wirtschaftswachstum sprechen – wenn keine Ressourcen da sind, können wir Produktivitätssteigerungen vergessen. Dazu gehört auch, dass wir den Menschen noch mehr in den Mittelpunkt rücken.

Auch das künftige Wohl der Kinder?

Ich habe begonnen, diese Art von Gesprächen mit meinem 14-jährigen Sohn zu führen, weil er anfängt, eine Weltanschauung und Erwartungen zu entwickeln, die er an das Leben, an familiäre Beziehungen und an die Gesellschaft stellen kann. Wir unterhalten uns darüber, was seine Definition von Glück ist. Denn, so hoffe ich, streben wir alle letztendlich nach Glück.

Welche Rolle spielt der technologische Fortschritt für das gesellschaftliche Glück?

Technologie ist dazu da, Menschen zu unterstützen, nicht sie zu ersetzen. Da sich unser Gehirn in den letzten 40 000 Jahren nicht sonderlich weiterentwickelt hat, wird der Bedarf an physischer Interaktion mit der Welt im Allgemeinen, das heißt mit Menschen und Objekten, bestehen bleiben und vielleicht nie durch Technologie ersetzt werden. Eben dieses Bedürfnis ist die Stärke, die wir dank unseres Gehirns entwickelt haben: Menschen zu treffen. Bei Microsoft Luxemburg fand am Montag (das Interview wurde am 24. September geführt) seit langer Zeit wieder eine Teambesprechung vor Ort statt. Ich war froh darüber, dass das Team zusammensaß und wir miteinander scherzten. Diese Art von lebendiger Interaktion hat man durch die Technologie nicht. Technologische Mittel können Geselligkeit zwar nachahmen, aber es wird nie dasselbe sein. Interaktionen unter Menschen kann KI nicht ersetzen. Ich brauche nur auf die Emotionen zu schauen, die wir während der Teambesprechung gemeinsam empfanden. Covid hat gezeigt, dass Technologie nicht das Allheilmittel ist.

Jeff Simon
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