Die kleine Zeitzeugin

Stell dir vor, es ist Tod und niemand geht hin!

d'Lëtzebuerger Land vom 02.11.2018

Manche Wünsche gehen in Erfüllung.

Vor langer, langer Zeit, als es noch Feiertage gab, die man oft nur beging, gab es einen Totentag. An dem waren die Toten Meister. Mit diesen Toten gab es no kidding, man konnte sie nicht ignorieren und von ihnen pfeifend davon spazieren. Oder argumentieren, dass das alles nicht richtig sei, nicht echt, nicht das echte Leben und nicht der echte Tod, sondern nur ein Brauch, den niemand braucht. Nicht die Lebenden und schon gar nicht die Toten. Weil die sind ja gar nicht da, oder? Und falls sie da sind, warum sollten sie sich diese trübseligen, trüben Trüppchen geben, die schon Wochen vorher wehklagten wegen Déi Deeg.

Der Tag war traditionell grau, selbst er wagte nicht, sich übertrieben lebhaft zu präsentieren. Meist nieselte es, das Laub roch faulig, durch das die zum Tode Verurteilten der Grabstätte entgegenraschelten. Die Alten hatten da schon gebucht, ihr Geburtsdatum wartete schon auf dem Grabstein, über den die Regentropfen rannen. Der Pfarrer und die Messdiener murmelten vorbei, der Pfarrer besprühte alle mit seiner Klobürste. Nachher gab es die rituell behüstelte Frage, wer der oder die Nächste sein würde, dann Kaffee und Kuchen bei der Matriarchin, es wurde noch ein super Nachmittag, auch für die Kinder. Denn eigentlich sahen sich alle ja nur am Totentag.

Und wie die vom Nachbargrab wieder gekluftet war!

Das war in der Zeit, als es noch für alles eine Zeit gab, obschon die Rituale schon vollkommen entleert waren und sie nur noch absolviert wurden. Die Menschen, die damals jung und stark waren, rochen den Tod, die Leblosigkeit, mit der er zelebriert wurde, zumindest waren sie überzeugt davon. Weil sie waren der Wahrheit hinterher, alles musste echt und authentisch sein, das Leben, der Tod, die Rockmusik, Blut und Tränen mussten echt sein oder gar nicht. Und warum sollte man pünktlich wehklagen? Und wenn, warum dann nicht wirklich, warum riss sich niemand die Haare vom Schädel? Weil das der Farah-Diba-Frisur nicht bekommen wäre? Warum zerriss niemand seinen Anzug, warum zerbiss niemand seinen Pelzmantel? Jeder Tag ist Geburtstag, dachten diese jungen starken Menschen, wir sterben, kaum dass wir geboren werden. Sie würden ab jetzt diesen langweiligen luxemburgischen Tod boykottieren, sie würden sich weigern, am Tag des offiziellen Todes einzurücken, sich dem Todeskommando anzuschließen. Sie würden die Familienaufstellung schwänzen, die subtile Blickkontrolle der familiären Kontrollorgane.

Wenn es wenigstens Russland wäre, schwärmten sie, wo die Nachkommen der Oma Zigaretten und Schnaps bringen, obschon sie ihre eigene Oma nicht damit assoziierten. Und man musste nicht mal tot sein, auch die Besucher_innen werden gespeist und getränkt, und es mussten sich auch nicht alle tot stellen, um den Tod nicht unnötig zu reizen. Wenn es wenigstens Mexiko wäre, alle würden sich in einem orgiastischen Totentanz vereinen. Das ist noch Kultur, die können Tod. Wenn es noch wenigstens Tibet wäre, wo Jenseits-Tripper_in von einem Begleitservice durch die Geisterbahn eskortiert wird, neun Tage und Nächte lang. Oder Bali. Oder bei den Menschenfresser_innen. Immer tollere Kulturen fielen ihnen ein, mit einem immer tolleren Tod.

Überall war der Tod besser als der tote Tod in Luxemburg. Der Tod im Pelzmantel.

Viele Jahre später ist der Wunsch der jetzt nicht mehr so großen, starken jungen Leute in Erfüllung gegangen. Alles kann, nichts muss, im Leben wie im Tod. Außer sterben, blöd, ja, noch. Jeder kann seine Todesparty organisieren, oder die best friends kümmern sich drum. Mit Luftballons. Oder mit Rilke und Dylan. Oder aus dem Weltraum, Programm Sternenstaub. Jeder kann gedenken, wann er wo wessen will, niemand täuscht mehr etwas vor; wer lieber angesichts der Sanduhr an einem tunesischen Strand meditiert, bitte! Oder bei einem guten Essen mit bon survivants, bitte! Niemand wird mehr vom Bannstrahl der Familie getroffen, die es nicht mehr gibt. Oder sie ist relaxed, cool, ehrlich. Wie man selber.

Zu Allerheiligen ist sie gerade in Mexiko, sie läuft in Touristentrupps über die Friedhöfe.

Michèle Thoma
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