Berlin, Paris oder Brüssel – viele europäische Städte nutzen die Coronakrise für eine Verkehrswende. Nicht so Luxemburg. Für den Ausbau der Radinfrastruktur fehlt es an politischem Willen

Straßenkampf

Photo: Anthony Dehez
d'Lëtzebuerger Land du 29.05.2020

Pioniere Seine Maske erinnert an Hannibal Lector, sein Kopfschutz an einen Stahlhelm aus dem Ersten Weltkrieg. Sein Gefährt: ein E-Bike mit kraftvollem Motor der schwäbischen Marke Bosch. Camille Muller steht auf einem Parkplatz neben dem Fußballfeld in Walferdingen. Er streckt den Arm aus und schwenkt ihn von der Sportshalle, über das Kulturzentrum Prince Henri bis hin zum nahegelegenen Kreisverkehr. „Ab hier beginnt der Parcours du combattant“, sagt Muller. Für ortsunkundige Radfahrer ist die Strecke des Radwegs P15 von Mersch nach Luxemburg-Stadt fast nicht mehr ersichtlich. Doch selbst die Glücklichen, die den Weg zwischen N7, Parkplätzen und Alzette ausfindig machen, haben das Schlimmste noch vor sich: „Die Strecke ist ein verwinkeltes Labyrinth mit Hindernissen“, so Muller. 90-Gradkurven, Laub, Moos, Baumwurzeln, hohe Trottoirs, Poller und enge Brückenabschnitte, die mit Fußgängern, Skatern und Hunden geteilt werden müssen. Kurz: „Ein Albtraum.“

Camile Muller fährt täglich von Asselscheuer bis zu seinem Arbeitsplatz im Ökozenter Pfaffenthal. Nicht aus sportlichen Gründen, sondern weil er das Rad für das beste Fortbewegungsmittel hält: umweltschonend, komfortabel, nachhaltig. Ein Auto hat er nicht mehr. In den Urlaub fährt der Familienvater mit dem Zug. „Die Zeit des Verbrennungsmotors ist vorbei.“ Der überzeugte Fahrradaktivist ist Mitglied der Lëtzebuerger Vëlos-Initiativ und kämpft seit Jahren für bessere Radinfrastruktur.

Gegen 5.20 Uhr verlässt Mireille Kiefer das Haus in Goeblange. Sie macht sich mit ihrem E-Bike auf den rund 20 kilometerlangen Weg Richtung Bahnhof in Luxemburgstadt. Von dort nimmt die gelernte Arbeitserzieherin den Zug nach Betzdorf zu ihrem Arbeitsort, dem Institut Saint Joseph. Sonnenaufgang, Fahrt gen Osten: „Wunderschön“, nennt die 47-Jährige ihre Strecke, selbst, wenn das Thermometer Minus vier Grad Celsius im Winter anzeigt. Das Rad als Fortbewegungsmittel hat sie erst vor kurzem für sich entdeckt.

Richtig kompliziert wird es für Kiefer erst in Luxemburg-Stadt. „Ich kenne den Verlauf der Radstrecke in Hollerich eigentlich bis heute nicht.“ Sie fahre dann mal auf der Busspur, mal auf dem Bürgersteig, mal auf der Straße – ob das alles legal ist, wisse sie nicht, aber anders sei es kaum möglich. „Es ist eine Kunst mit dem Rad durch die Stadt zu fahren.“

Sein Wecker klingelt um 4 Uhr. Er streift sich Radhose und -shirt über und steigt auf sein Rad. Kein Frühstück, kein Kaffee. Ralph Diseviscourt fährt auf nüchternen Magen die 60 Kilometer von Nacher (bei Wiltz) bis nach Luxemburg zum Hauptgebäude der Bil. Im Sommer wie im Winter. Erst dort gönnt er sich in der Kantine ein Müsli mit Joghurt und liest die Tagespresse.

Ralph Diseviscourt ist Extremsportler. Er umrundet jährlich mit rund 45 000 Radkilometern einmal die Erde. Der 44-Jährige, der von Freunden und Fans liebevoll „Dizzy“ genannt wird, gehört zu den weltbesten Radsportlern, nimmt an Rennen Teil, wie dem Race Across America, bei dem der Name Programm ist. Wenn Dizzy nicht gerade coronabedingt im Home-Office ist, nutzt er den täglichen Pendlerweg als Training. Er ist die Person, die in Luxemburg wohl am meisten Stunden auf dem Rad verbringt und die Wege am besten kennt. Mit dem Auto in die Stadt bewegt er sich so gut wie nie. „Vielleicht drei Mal im Jahr.“ Sein Verdikt über Luxemburgs Radinfrastruktur: „Die Straßen sind super, die Radwege eher nicht so.“ Vor allem die Strecken in Luxemburgstadt seien ausbaufähig, „Die Wegführung ist kompliziert und, ja, auch gefährlich.“

Diskrepanz Camille Muller, Mireille Kiefer und Ralph Diseviscourt sind drei Personen von nur rund zwei Prozent in Luxemburg, die sich mit dem Fahrrad zur Arbeit bewegen. Sie tun das aus unterschiedlichen Motiven und obwohl es „gefährlich“ und „umständlich“ ist. Aber sie alle wollen auf keinen Fall darauf verzichten und mit dem Auto im Stau stehen.

Luxemburg hinkt bei der Radnutzung im internationalen Vergleich seit Jahren hinterher, befindet sich am Ende der Statistiken. Das ist eigentlich erstaunlich. Denn Luxemburg gilt als radsportbegeistertes Land. Die Radnation Luxemburg ist nicht nur eine Erfindung von umtriebigen PR-Doktoren im Wirtschaftsministerium, sondern fußt tatsächlich auf einem historischen Fundus: François Faber, Nicolas Franz, Charly Gaul, Andy und Frank Schleck, Kim Kirchen, Bob Jungels, Elsy Jacobs, Christine Majerus, Jempy Drucker – es gibt nur wenige Sportarten, in denen Luxemburger Athlet*innen derart erfolgreich mit der Weltspitze konkurrieren wie im Radsport.

Und die Luxemburger lieben den Radsport: RTL überträgt seit Jahren nahezu alle großen Rennen mit Luxemburger Beteiligung; zur Grande Boucle, der heiligen Messe des Radsports, pilgern die Luxemburger jährlich in Massen; Radsportpublikationen, wie das soeben erschienene Buch von Rom Hellbach Letz Bike, verkaufen sich regelmäßig als Bestseller. Und an sonnigen Wochenenden erobern Hobbyradfahrer*innen mit teuren Carbonrädern die Straßen des Großherzogtums.

Doch das gilt nur für den Radsport. Der Hype strahlt nicht auf das Rad als Fortbewegungsmittel aus. Es herrscht eine große Diskrepanz zwischen Radsportbegeisterung und Radnutzung im Alltag. Wie lässt sich das erklären?

Radinfrastruktur Für Monique Goldschmit ist die Antwort auf diese Frage klar: fehlende Radinfrastruktur. Sie ist Präsidentin der Lëtzebuerger Vëlos-Initiativ (die seit kurzen ProVelo heißt) und kämpft seit Jahren an der Straßenfront. „Unsere Radinfrastruktur ist eine Katastrophe“, so Goldschmit. Das Radnetz sei kümmerlich, lückenhaft und schlecht durchdacht. Wer sich etwa durch Luxemburgstadt bewege, brauche ein strapazierfähiges Nervenkorsett und eine gewisse Risikofreudigkeit. „Nur wenn Radfahren sicher und zeitsparend ist, werden die Menschen das Rad als Fortbewegungsmittel entdecken“, sagt Goldschmit. Es ist eine Analyse, die nahtlos alle befragten Radfahrer*innen teilen.

So auch Guillaume Rischard, der die Plattform Cycle Luxembourg betreibt. Der selbständige Unternehmer und Mitglied der Grünen stellt der Infrastruktur eine schlechte Note aus. Der Klassiker in Luxemburg sei das lückenhafte und komplizierte Netz. Nach einem kurzen Abschnitt mit klarer Markierung verliere sich der Fahrradweg an der nächsten Kreuzung im Nirgendwo. Dann geht es einfach nicht weiter. Nach dem Motto: „Démerdes-toi!“ Dabei ist ein lückenhaftes Radwegnetz für Rischard in etwa so brauchbar wie ein lückenhaftes Schienennetz. „Das funktioniert einfach nicht.“ Das Gewurschtel wirkt auf ihn leider so, als wäre das Radnetz von Menschen geplant worden, die nie auf Radwegen unterwegs sind und kein Gespür und Knowhow für Radinfrastruktur haben. So sucht man auch weiße Fahrradstreifen, die sich in allen europäischen Städten als Randmarkierung am rechten Rand der Straße befinden, in Luxemburg nahezu vergebens.

Der Radfahrer in Luxemburg ist deshalb eine Art Hybrid. Er oszilliert zwischen dem Zustand eines Radfahrers, eines Fußgängers, eines Geisterfahrers in Einbahnstraßen oder gar eines Busses auf Busspuren. Er ist demnach nie nur Radfahrer, sondern gezwungen, die Perspektiven zu wechseln, stets für andere Verkehrsteilnehmer mitzudenken und vorausschauend zu kalkulieren, was die Intention eines Autofahrers oder Fußgängers sein könnte. Ein heikler Drahtseilakt, der den Radfahrer gelegentlich in Grauzonen zwingt. Oder wie es LVI-Präsidentin Goldschmit ausdrückt: „Wir werden in die Illegalität gedrängt.“ Selbst das Prestigeprojekt der öffentlichen Vel‘ohs, die mittlerweile gar elektrisch motorisiert sind, befinden sich oftmals an unvermuteten Orten, jenseits von Radwegen und auf Bürgersteigen, auf denen Radfahren eigentlich verboten ist.

Politischer Wille Christophe Reuter, Premier Conseiller im Mobiltätsministerium (MDDI), teilt viele Kritikpunkte der Radaktivist*innen. Auch er fährt täglich mit seinem Rad von Briddel nach Kirchberg ins Büro und muss mehrere Bürgersteige und sonstige Hindernisse passieren. „Tatsächlich ist unsere Infrastruktur nicht ideal“, so Reuter. Aber er erinnert daran, welchen Rückstand Luxemburg in Stadt und Land aufzuholen habe. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde konsequent auf den Ausbau der Autoinfrastruktur gesetzt: breite Straßen, viel Parkraum. „Wir befinden uns erst seit wenigen Jahren in einem Paradigmenwechsel“, so Reuter. Er führt die Trias Tram, Funiculaire und Eisenbahn an und ist der Auffassung, dass sich die Dinge gerade zum Guten verändern – wenn auch langsam.

Tatsächlich hat Luxemburg sich bereits 1999 zum Ziel gesetzt, eine Radinfrastruktur von 900 Kilometern aufzubauen. Die Idee damals: Wege für Freizeit und Tourismus. Doch der Plan wurde nie vollends realisiert, heute umfasst das Streckennetz rund 650 Kilometern. Ein neues Radgesetz von 2019 sieht nun die Erweiterung des Netzes auf rund 1 100 km vor: Lücken sollen geschlossen werden, richtige Radschnellstraßen (z.B. zwischen Esch und Luxemburg) gebaut werden. Und die Strecken sollen vor allem so konzipiert sein, um das Fahrrad als Transportvehikel im Alltag zu benutzen – ohne komplizierte und zeitaufwendige Umwege im Zickzack durch Wohngebiete und Natur. Doch auch hier geht es nur schleppend voran. Das MDDI von Superminister François Bausch (Grüne) zeigt dabei gerne mit dem Finger auf Gemeinden und vor allem in Richtung Luxemburg-Stadt von DP-Bürgermeisterin Lydie Polfer.

Mobilitätsschöffe Patrick Goldschimdt (DP) der Stadt Luxemburg ist dieses Ping-Pong-Spiel leid. „Ich kann es nicht mehr hören, dass wir angeblich die alleinigen Bremser sind.“ Der DP-Schöffe spricht von administrativen Hürden, zählt einige neue Infrastrukturprojekte auf, die gerade in Planung sind und hält es für unfair, dass er mit Bürgermeisterin Polfer stets die Buhmann-Karte erhalte. Aber auch der Patrick Goldschimdt gesteht, dass noch deutlich Luft nach oben besteht bei der Radinfrastruktur in der Stadt Luxemburg. Das Problem: „Uns fehlt es an Raum.“

Dabei ist für die meisten Beobachter dieses Hin-und-Her-Spiel nur ein Ausdruck von fehlendem politischem Willen. „Ich könnte ein ganzes Kabarett darüber schreiben“, so LVI-Präsidentin Goldschmit. Politiker verstecken sich hinter Beamten, Beamte verweisen auf bürokratische Probleme und verweisen wiederum auf die Politik. „Es fehlt ganz einfach der politische Wille zum Ausbau der Radinfrastruktur“, sagt Abgeordneter und Gemeinderatsmitglied François Benoy (Grüne). Die Lobby der Autofahrer ist in Luxemburg überaus stark, wer dagegen vorgehe, riskiere viel. Mehrheiten für Radinfrastrukturen lassen sich deshalb kaum finden. „Jeder Meter Radweg ist ein Kampf in Luxemburg.“

Pop-up-Radwege Tatsächlich haben die Grünen im April nach Vorbild nahezu aller europäischen Städte sogenannte Pop-up-Radwege in der Coronakrise gefordert: temporäre Wege als Ersatz für den keimübertragenden öffentlichen Nahverkehr und ein Herantasten an eine verkehrspolitische Wende in Richtung sanfte Mobilität. In einer Sitzung am 20. April schlagen Benoy und Christa Brömmel solche temporären Radwege etwa für die Rue Prince-Henry entlang des Stadtparks vor. Die Antwort von Schöffe Goldschmidt: Momentan sehe er keine Notwendigkeit, da die Straßen in der Stadt ja leer seien. Zudem würden die Gemeindebeamten ihm mitteilen, dass das wohl kaum möglich sei. Bürgermeisterin Lydie Polfer fügt hinzu: „Et muss een och wëssen, waat de Präis dovunn ass“ und spielt damit auf den Raumverlust für Autofahrer an. Und Claude Radoux (DP) gibt zu bedenken: Man solle es mit den Radwegen nun auch nicht übertrieben.

Trotz dieser liberalen Abkanzlung bringen die Grünen das Anliegen knapp einen Monat später erneut in den Gemeinderat: Die knappe Antwort von Bürgermeisterin Polfer: „Wir haben mit Sicherheit gerade noch andere Dinge zu stemmen.“

Die täglichen Radpendler Kiefer, Muller und Diseviscourt sind sich deshalb einig, dass es in Luxemburg an einer kollektiven Radkultur fehlt. Es sei wohl nicht nur auf schlechten Willen zurückzuführen, das Rad spiele bei der Planung einfach nie eine zentrale Rolle. Frei nach der Devise – das Auto zuerst. Und irgendwann ganz am Ende erinnert sich jemand an das Fahrrad.

Dabei zeigen die aktuellen Zahlen, dass die Politik möglicherweise die Radaffinität der Luxemburger Bevölkerung unterschätzt. Nahezu alle Messstationen haben einen deutlichen Anstieg der Radfahrer gezählt. Auch der Verkauf von Fahrrädern ist deutlich angestiegen. Gregory Haentges des Radladens Asport sagt, dass innerhalb von zwei Monaten der gesamte Jahresstock aufgekauft wurde. Zu seiner Überraschung seien es eben nicht nur Rennräder oder Mountainbikes gewesen, sondern auch viele E-Bikes und Citybikes für den täglichen Gebrauch. In anderen Läden sieht es ähnlich aus. Laut Haentges hat auch die Prämie des MDDI die Menschen zum Kauf verleitet.

Die Räder besitzen die Menschen also, nun muss nur noch jemand Radwege bauen.

Pol Schock
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