Wann kommt die Hyperinflation? Der Ökonom Ingo Sauer hat zumindest herausgefunden, warum sie kommt

Die große Pleite

d'Lëtzebuerger Land du 26.02.2021

Millionen reichen schon lange nicht mehr, Milliarden müssen es sein, lieber gleich Billionen. Seit 2007 hat sich in der Euro-Zone die Geldmenge mehr als vervierfacht, die Staatsschulden wachsen ungebremst. Warum gibt es bislang trotzdem keine nennenswerte Inflation? Weil Geldentwertung mit der unablässig steigenden Geldmenge nichts zu tun hat, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Ingo Sauer. Jedenfalls nicht direkt.

Sauer forscht an der Universität Frankfurt als Assistent von Professor Rainer Klump, der zwischen 2015 und 2017 Rektor der Uni Luxemburg war. Inflation könne alle möglichen Ursachen haben, erläutert der Ökonom: zum Beispiel Gewerkschaften, die Lohnkosten erhöhen, oder Araber, die auf dem Ölschlauch stehen. Für eine richtig große, schlimme Geldentwertung aber, mit Geldscheinen voller Nullen, Preiserhöhungen mehrmals am Tag und allgemeiner Flucht in Sachwerte – dafür brauche es eine bankrotte Zentralbank. Solange es keine Forderungen in Fremdwährungen gegen sie gibt, kann eine Zentralbank zwar technisch nicht insolvent gehen, da sie beliebig viel eigene Währung drucken kann. Das „Konzept der Solvenz“, die finanzielle Stärke der Zentralbank, spiele aber sehr wohl eine große Rolle.

Für Milton Friedman war „Inflation immer und überall ein monetäres Phänomen“. Ökonomen erklären bis heute Inflation meist mit der Quantitätstheorie: Die Zentralbank druckt zu viel Geld, das Geld ist immer weniger wert und die Preise steigen; besonders wenn dabei die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes zunimmt, die Gütermenge gleichbleibt oder die Produktion sinkt. Oder durch die Erhöhung der Geldmenge werden die Zinsen gesenkt, was die Nachfrage nach Krediten und Gütern anheizt und ebenfalls die Preise wachsen lässt.

Zentralbank-Bilanz als Angelpunkt Thomas Sargent, ein Träger des Wirtschafts-Nobel-Gedächtnispreises, fand bereits 1982, dass die herrschende Lehre nicht stimmen könne: Nach dem Ersten Weltkrieg sei in den europäischen Hyperinflations-Ländern das Preisniveau abrupt und lange vor einer Währungsreform stabilisiert worden; die Geldmenge sei dort erst nach der Stabilisierung der Währung massiv gewachsen. Die Geldmenge sei also unwichtig. Entscheidend sei die Qualität der Assets, die von der Zentralbank für ausgegebenes Geld zur Besicherung in ihrer Bilanz verbucht werden: zur Zeit der Hyperinflation wertlose Staatsanleihen, nach der Stabilisierung echte Werte.

Sargents Studie wurde kaum beachtet. Der Ökonom habe damals auch nur eine einzige, unvollständige Quelle gehabt, räumt Ingo Sauer ein: eine Studie für den US-Senat von 1925. Sauer hat für seine Dissertation die fehlenden Daten ergänzt und Sargents Ergebnisse mit ökonometrischen Techniken getestet. Bei der Untersuchung der vier Hyperinflationen in Österreich, Ungarn, Polen und Deutschland hat Sauer für jeden Nominalwert in den Bilanzen der damaligen Zentralbanken einen Marktwert recherchiert. Keine leichte Übung, denn Werthaltigkeit ist ein „fließender Prozess“: Zunächst hatten Staatsanleihen durchaus noch einen Wert – aber welchen? Um die Stärke einer Zentralbank zu bestimmen, hat Sauer ein eigenes Maß entwickelt: den „verteidigbaren Wechselkurs“ (solvency exchange rate).

Unschuldiges Gelddrucken In allen historischen Fällen, die Sauer erforschte, war der Mechanismus gleich: Hyperinflation wurde immer durch eine Verschlechterung des Wechselkurses ausgelöst. Sobald die Zentralbank zu viele wertlose Aktiva in ihrer Bilanz hatte, war sie zu schwach, um an den Devisenmärkten den Wechselkurs zu verteidigen. Die Währung verlor gegenüber den damaligen Leitwährungen Dollar und Pfund an Wert – und umgehend stiegen die Preise. Folgerung: Die eigentliche Ursache von Hyperinflation sei die fehlende Solvenz der Zentralbank; die steigende Geldmenge sei nur eine „nicht verstandene Begleiterscheinung“.

Meist laufen Wechselkurs-Einbruch, Preisanstieg und Aufblähung der Geldmenge gleichzeitig ab. In Deutschland lassen sich die einzelnen Phasen aber gut auseinanderhalten, findet Sauer: Die Reichsmark verlor gegenüber dem US-Dollar von November 1918 bis Juni 1922 rund 98 Prozent ihres Werts – und das deutsche Preisniveau stieg spiegelbildlich. Massiv brach der Kurs 1919 ein, als die Reichsbank die Hälfte ihres Goldes für Lebensmittelimporte ausgeben musste. Das restliche Gold wurde im Februar 1923 verpfändet, um während der französischen Besatzung des Ruhrgebiets den Wechselkurs zu stabilisieren. Ein aussichtsloser Versuch, erläutert Sauer: „Alle wussten, dass die Reichsbank ihre letzten Reserven verpulvert und nicht lange durchhalten kann.“

Gegen den nach wenigen Wochen folgenden Absturz halfen keine Preiskontrollen, keine Gesetze, keine patriotischen Aufrufe: Nichts konnte Geldwechsel auf dem Schwarzmarkt aufhalten. Szenen dieser Zeit haben sich tief in das kollektive Gedächtnis der Deutschen eingegraben: Bündel von Banknoten, die nicht gezählt, sondern gewogen wurden. Löhne, die täglich mit der Schubkarre ausgezahlt wurden. Einst wohlhabende Familien, die ihre Wände mit Geldscheinen tapezierten.

Schließlich musste die Reichsbank ein niedrigeres Wechselkursniveau akzeptieren. Vom 15. bis zum 20. November 1923 wurde der Wechselkurs erfolgreich fixiert: 4,2 Billionen Reichsmark zu einem US-Dollar. Erst nach dieser gelungenen Stabilisierung explodierte die Geldmenge, bis Juni 1924 um den Faktor 15. Dass die Reichsbank ihre Bilanz derart aufblähte, kümmerte aber niemanden mehr: Die Reichsmark war nicht mehr mit Staatsanleihen des bankrotten Deutschen Reichs „besichert“, sondern wurde nur noch gegen kurzlaufende Unternehmensanleihen, Grundstücke und andere werthaltige Assets ausgegeben. Die Spekulation gegen die Reichsmark hörte bereits im Dezember auf. Die Währungsreform, zwölf Nullen gestrichen und neue Geldscheine, kam dagegen erst Monate später.

Dass sich Hyperinflation nur durch „Rückkehr zu den einfachen Grundsätzen soliden Bankings“ stoppen lässt, sei den damaligen Praktikern völlig klar gewesen, ergaben Sauers Recherchen: „Der Reichsbankpräsident oder die Völkerbund-Experten, die Ungarn sanierten, haben nie gesagt: ‚Wir müssen jetzt die Geldmenge reduzieren.‘ Darauf kamen Ökonomen erst viel später.“ Seine Dissertation sei eine „vollständige Falsifizierung der Quantitätstheorie“.

Falsche Theorie, gefährliche Praxis? Da für die heute vorherrschende Lehre die Assets der Zentralbanken keine Funktion haben, spiele ihre Qualität für die Theoretiker keine Rolle. „Die Deckung der Assets wird auch in der Praxis vernachlässigt“, kritisiert Sauer. In den USA gebe es zwischen den Federal-Reserve-Banken einen regulären Ausgleich gegenseitiger Ansprüche. Dagegen seien die Ökonomen, die das Euro-System aufbauten, nur auf die reine Geldmenge fokussiert gewesen – für Forderungen zwischen Euro-Zentralbanken sei kein tauglicher Abwicklungsmechanismus geschaffen worden.

Die Ökonomen hätten lange sogar dabei versagt, die immensen Ungleichgewichte bei den Target-Salden in den Untiefen der europäischen Zentralbank-Bilanzen auch nur zu bemerken. Bereits Ende 2010 machten diese „unbesicherten Ansprüche“ zum Beispiel bei der deutschen Bundesbank fast die Hälfte der Assets aus. „Die Steuerzahler wurden nie über diese riesigen finanziellen Lasten informiert. Wenn das Eurogebiet auseinanderfällt, werden vor allem Deutschland, Luxemburg, die Niederlande und Finnland enorme Schwierigkeiten haben, ihre Zentralbanken zu rekapitalisieren.“

Bislang ist in der Euro-Zone von Inflation nicht viel zu sehen. Sauer erklärt das damit, dass die Zentralbanken des Euro-Systems noch relativ viel Eigenkapital haben, etwa Goldreserven. Außerdem seien viele dubiose Bilanzposten der EZB bisher noch nicht wertlos geworden. Die Risiken würden aber immer größer: Schrottanleihen von Krisenländern und Zombiefirmen, langfristige Kredite an insolvente Geschäftsbanken und immer größere Target-2-Forderungen.

Wann genau die EZB zu schwach wird, um den Euro zu verteidigen, kann Sauer nicht sagen. Sobald griechische oder italienische Staatsanleihen ausfallen? Sobald ein Drittel oder die Hälfte der EZB-Aktiva wertlos ist? Es gebe es keinen linearen Zusammenhang von Bilanz-Verschlechterung und Preissteigerung, man müsse sich das eher wie das Schütteln einer Ketchup-Flasche vorstellen: Lange passiert nichts …

Spekulanten werden den rechten Zeitpunkt wohl ertesten. Der legendäre Hedgefonds-Manager George Soros erkannte 1992, dass die Bank of England verwundbar ist: Mit Attacken gegen das Pfund soll er damals rund eine Milliarde US-Dollar verdient haben. Möglicherweise werden Angriffe auf die EZB bald noch mehr einbringen. Für die europäischen Sparer und Steuerzahler allerdings eher nicht.

Die Dissertation von Ingo Sauer soll veröffentlicht werden unter dem Titel: The Case Against the Quantity Theory: Hyperinflations as Central Bank Insolvencies, (Mis-) Leading Textbooks and an Obscure Culprit for Hollowing-out the Euro. Der Youtube-Kanal des Forschers heißt „Wissen hat keinen Eigentümer“. Weitere Publikationen sind hier zu finden: www.wiwi.uni-frankfurt.de

Martin Ebner
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