Das Luxembourg Institute of Health arbeitet in einem europäischen Konsortium an der Entwicklung eines universellen Grippe-Impfstoffs mit. In Tierversuchen funktioniert der Prototyp schon

Nie mehr Grippe?

d'Lëtzebuerger Land du 01.01.2016

Bald ist wieder Grippesaison, in den letzten Jahren zumindest fiel ihr Beginn in den Januar. Wer sich dagegen hat impfen lassen, erhielt einen Cocktail injiziert, der kompliziert zusammengesetzt ist: Da wären zum einen abgetötete Erreger vom Influenza-Typ A, Subtyp H3N2, eines Stammes mit der laufenden Nummer 9715293, wie er 2013 in der Schweiz gefunden wurde. Zum anderen Erreger vom Typ B mit der laufenden Nummer 3073. Sie ähneln denen, die man 2013 im thailändischen Phuket isoliert hat, und gehören zur so genannten Yamagata-Viruslinie. Drittens schließlich wird mit der Impfung eine leicht veränderte Version des Typ-A-Virus mit dem Subtyp H1N1 der „Schweinegrippe-Pandemie“ von 2009 verabreicht – laufende Nummer 07. Das Schweinegrippe-Virus, das auf den Menschen übergegangen war und vor sechs Jahren pandemisch wurde, war in Kalifor-nien dingfest gemacht worden.

Auch dem Laien muss auffallen: Das sind viele Typen, Subtypen, laufende Nummern, Jahreszahlen und Ortsangaben. Virologen sehen das genauso und ringen damit. „Grippeviren sind sehr variabel und dynamisch“, sagt Claude Muller. Er leitet an der Abteilung für Infektionskrankheiten des Luxembourg Institute of Health (LIH) auch den Bereich Impfstoffforschung und B-Zellen-Immunologie.

Weltweit wird, organisiert durch die Weltgesundheitsorganisation WHO, die Entwicklung von Grippevirenstämmen ständig überwacht und an die WHO weitergemeldet. Die zieht daraus im Frühjahr jedes Jahres den Schluss, welche Virenstämme in der nächsten Grippesaison wahrscheinlich besonders verbreitet sein werden und zu besonders schweren Erkrankungen führen dürften. Auf die WHO-Empfehlung hin wirft die Pharmaindustrie die Produktion der nächsten Auflage der saisonalen Grippeimpfstoffe an. Das Problem ist nur: Was Virologen erkennen und was die WHO daraus ableitet, sind letzten Endes nur informierte Schätzungen. Manchmal können sie danebenliegen. Wie zuletzt in der Grippesaison 2014/15, als der Impfstoff weniger Schutz bot, weil die informierte Schätzung doch nicht auf den richtigen A(H3N2)-Stamm getippt hatte.

Kann es einen Impfstoff geben, der gegen alle Va-rianten von Grippeviren schützt? Geforscht wird daran seit ungefähr zehn Jahren. In letzter Zeit wurden die Arbeiten intensiviert. Denn selbst in einer mild verlaufenden Grippesaison sterben weltweit an den Folgen einer echten Influenza, die nicht mit einem „grippalen Infekt“ verwechselt werden darf, bis zu eine halbe Million Menschen. Die H1N1-Pandemie vor sechs Jahren, die zusätzlich zu den saisonalen Erregern umging, kostete, obwohl sie am Ende weniger schwer verlief als erwartet, dennoch 203 000 Menschenleben. Und nach wie vor sind Vogelgrippevirenstämme vom Subtyp H5N1 und H7N9 im Umlauf, die Menschen zwar nur nach intensivem Kontakt mit Vögeln infizieren, dann jedoch sehr gefährlich sind. Dass diese Viren sich so verändern, dass sie auf den Menschen übergehen und danach leicht übertragbar sind, wird von Gesundheitsbehörden gefürchtet. Diese latente Bedrohung sei, meint Claude Muller, ein weiterer wichtiger Impuls, verstärkt an universellen Impfstoffen zu arbeiten.

Mullers Team und das LIH arbeiten in einem europäischen Konsortium mit, das einen universellen Grippeimpfstoff entwickeln will. Gelingt das, würde im günstigsten Fall eine einzige Impfung nicht nur gegen alle derzeit beim Menschen zirkulierenden Influenza-Varianten schützen, sondern auch gegen deren künftige Varianten. Und sogar gegen Grippeviren, die normalerweise nur in Tieren vorkommen, aber gelegentlich auch Menschen infizieren. Nach einem weniger optimistischen Szenario böte ein solches „Universal influenza vaccine“, wie es in der Forschungsprojektbeschreibung der EU-Kommission genannt wird, nur gegen ein breiteres Spektrum saisonaler Erregervarianten Schutz. Wie die Dinge derzeit liegen, hat das Konsortium, das den Namen Flutcore trägt, ein Impfstoff-Konstrukt entwickelt, das in Tierversuchen bereits funktioniert.

Aber wie kann das klappen, wenn Grippeviren so dynamisch und variabel sind? Infiziert man sich mit einem Virus gleich welcher Art, reagiert der Körper darauf zunächst mit einer unspezifischen Immunantwort. Gleichzeitig lernt er jedoch, spezifische Antikörper und Immunzellen herzustellen. Erstere markieren den in den Körper eingedrungenen Erreger, die Immunzellen zerstören alle von ihm befallenen Zellen. Das dauert mindestens zehn Tage. Hat das Immunsystem die spezifischen Abwehrmechanismen entwickelt, kann es bei der nächsten Infektion wesentlich schneller reagieren. Weshalb Menschen an manchen Virusinfektionen, etwa an Masern, nur einmal im Leben erkranken.

Grippeviren allerdings verändern sich so rasch, dass das Immungedächtnis nur teilweise schützt. Die meisten menschlichen Grippe-Antikörper binden an das Eiweiß Hämagglutinin an, das wie ein Lollipop aussieht und das die Grippeviren an ihrer Oberfläche tragen. Ein zweites Oberflächeneiweiß der Grippeviren heißt Neuraminidase und ist ebenfalls ein Ziel für Antikörper. Deshalb sind diese zwei Oberflächenproteine die Grundlage der Jahr für Jahr neu produzierten Impfstoffe.

Leider jedoch erwerben Hämagglutinin und Neuraminidase auf dem Vermehrungszug der Grippeviren durch die Menschenpopulation immer wieder kleine Veränderungen und werden dadurch von den an früheren Viren geschulten Antikörpern nicht mehr richtig erkannt. Und alle paar Jahrzehnte erwirbt ein Menschen-Grippevirus ein ganz neues Hämagglutinin-Protein, indem es genetische Informationen mit einem Tiergrippevirus austauscht, das in Vögeln, Schweinen oder Pferden umgeht. Der daraus entstehende Virenstamm ist dann so neuartig, dass er sehr verschieden ist von dem, was die meisten Menschen an Grippe-Immunisierung erworben haben, und hat Pandemie-Potenzial. Der großen Grippe-Pandemie zwischen 1918 und 1920 fielen 25 Millionen Menschen zum Opfer.

„Interessanterweise aber enthält ein Grippevirus auch Proteine, die sich nicht oder kaum verändern, also konserviert sind“, sagt Claude Muller. Man müsse sich das Hämagglutinin-Protein wie ein Gebilde mit Kopf und Stamm vorstellen: Die stark variablen Proteinanteile sitzen am Kopfende, die konservierten im Stamm. Für Universalimpfstoffe versucht man, die konservierten Anteile zu nutzen. Vielversprechend sei außerdem ein so genanntes Matrix-Protein, das sich ebenfalls kaum verändert. Könnte man diese Proteine als abgetötete Antigene in einem Impfstoff verabreichen, müsste der Körper darauf eine Immunantwort entwickeln, die universell schützt. Theoretisch jedenfalls.

Denn so einfach ist das leider nicht. Mit konservierten Proteinen der Grippeviren wird schon seit längerem experimentiert. Daher weiß man: Sie lösen allenfalls eine schwache Immunantwort im menschlichen Körper aus. Vor ein paar Jahren beschrieb ein Forscherteam der Harvard Medical School in Boston, dass Grippeviren das Oberflächeneiweiß Hämagglutinin als Ablenkinstrument einsetzen, um die Immunantwort des Körpers in die Irre zu führen, weil Hämagglutinin sich so rasch verändert. Lernte das Immunsystem dagegen auf die konservierten Proteine im Virenstamm anzusprechen, sähe es schlecht aus für die Grippe-Erreger. „Das Immunsystem aber reagiert vor allem auf die variablen Bestandteile des Hämagglutinins“, sagt Muller. „Die konservierten sind zum Teil durch die Virusmembran verdeckt. Sie zu erkennen und auf sie zu reagieren, wird dadurch noch weiter erschwert.“

Der Ausweg, den das Flutcore-Konsotium zu gehen versucht, heißt „virusähnliche Partikel“. Einen Ansatz dazu hat die Universität im englischen Leeds gefunden, die am Flutcore-Konsortium beteiligt ist. Die Londoner Biotech-Firma iQur, die das Flutcore-Projekt koordiniert, hat den Ansatz weiterentwickelt. Dabei wird ein Protein des Hepatitis-B-Virus als Träger verwendet. Hepatitis-B-Viren sind von Hüllen umgeben, die zwei Proteine enthalten, Core und Surface genannt. Sie haben die interessante Eigenschaft, unter bestimmten Voraussetzungen spontan Partikel zu bilden, die dem Virus selbst ähneln. Für das Immunsystem wären die Partikel eine arge Bedrohung – aber: Sie enthalten keine genetische Information. Dadurch können sie in einem Fremdorganismus keine Zellen kapern und zur Replikation der virusähnlichen Partikel zwingen. Eine starke Immunantwort im Menschen rufen die Partikel aber dennoch hervor. Das prädestiniert die beiden Hepatitis-B-Eiweiße für die Nutzung als Impfstoff und wird auch schon praktiziert. Surface zum Beispiel dient zur Impfung gegen Hepatitis B selbst.

Hinzu kommt eine Eigenschaft, die allein Core hat: Es kann so beeinflusst werden, dass es auf seiner Oberfläche auch andere Proteine auszubilden vermag und damit die Immunreaktion auch auf diese lenkt. Im Idealfall würde das Immunsystem sowohl auf das Core-Protein wie auch auf ein ihm eingesetztes Fremdprotein ansprechen.

„Die Herausforderung bestand darin, die konservierten Influenza-Proteine so mit Core zu fusionieren, dass das entstehende Konstrukt noch immer als Influenza-Protein erkannt wird“, sagt Claude Muller. Ein anderes Problem entsteht dadurch, dass zu große Fremdmoleküle die Bildung der virusähnlichen Partikel unterlaufen können. Von der Universität Leeds wurde deshalb eine genetische Methode entwickelt, Core-Proteine durch eine flexible Verbindung zu stabilisieren. Dadurch ist es möglich, nicht nur ein, sondern mehrere Influenza-Proteine in das Hepatitis-Protein Core einzufügen (Abbildung unten links). Aufgabe des LIH-Teams um Claude Muller ist das Design des Antigen-Konstrukts, das all diese verschiedenen Aspekte zusammenbringt. Das Konstrukt selbst wird von iQur in London hergestellt. Warum für das Design gerade das LIH-Team zuständig ist? Weil, wie iQur-Chef Mike Whelan dem Online-Dienst Universities for Europe verriet, „die Luxemburger Kollegen im Protein-Design auf einem Niveau arbeiten, das wir in Großbritannien derzeit nicht haben“.

Am LIH finden auch die immunologischen Versuche statt, um aus verschiedenen Antigen-Konstrukten die besten auszuwählen. „Wenn weiterhin alles gut läuft“, sagt Claude Muller, „könnte in einem halben Jahr die erste Phase eines klinischen Versuchs am Menschen starten.“ Dann werde man weiter sehen. „Wir sind optimistisch, dass Flutcore zumindest einige Virusvarianten abdeckt.“

Ob daraus ein einsatzfähiger Impfstoff wird, ist noch nicht zu beantworten. Eine wichtige Frage, so Muller, sei zum Beispiel, wie jemand, der bereits einmal an Grippe erkrankt war, auf das Flutcore-Konstrukt reagiert. „Eine solche Person besitzt schon Antikörper gegen Grippeviren. Es könnte sein, dass die dafür sorgen, dass das Konstrukt durch die bestehende Immunreaktion weggeputzt wird.“ Das werde sich vielleicht noch nicht in der Phase-eins-Studie zeigen, sondern erst bei größeren Probandengruppen.

Flutcore ist nicht das einzige Konsortium, das einen universellen Grippe-Impfstoff entwickeln will. Claude Muller schätzt, es seien „weltweit fünf bis sechs, die Forschung in großen Pharmaunternehmen noch nicht eingerechnet“. Von Letzteren hat beispielsweise der französische Konzern Sanofi, der Jahr für Jahr rund eine Milliarde an saisonalen Grippe-Impfdosen verkauft, im November erklärt, an einem Universalimpfstoff zu arbeiten. Offensichtlich wird das als gewinnträchtig eingeschätzt: Lange Zeit waren gerade die Pharmariesen an breit wirkenden Grippe-Impfstoffen nicht interessiert, um sich den Markt für saisonale Grippemittel zu erhalten.

Auch das Flutcore-Konsortium argumentiert in seinem im August auf der Webseite der Forschungs-Generaldirektion der EU-Kommission veröffentlichten Zwischenbericht wirtschaftlich: Nicht nur senke eine erfolgreiche universelle Grippe-Impfung die Kosten zur Behandlung von Patienten und die Kosten durch Produktivitätsausfälle. Es sei darüberhinaus auch „nicht unvernünftig“, ein funktionierendes Impfmittel als Premium-Produkt zu vermarkten und zehn Mal teurer zu verkaufen als die fünf Euro pro Dosis kostenden saisonalen Vakzine. Diese Gewinne und die damit verbundenen Steuern sollten am besten in der EU verbleiben.

Peter Feist
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