Ein Blick in die Wahlprogramme zeigt: Auch nach dem 8. Oktober wird das Rad in Sachen Bildungspolitik nicht neu erfunden werden

4Ks, 6Cs

Mehr als  130 000 Schüler/innen drücken ab heute wieder die Schulbank
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 15.09.2023

Die Rentrée vermag es besser als jeder grauer erster Januarmorgen, das Gefühl eines Neuanfangs einzuflößen. Zum Schulbankdrücken hat bekanntlich jeder eine Meinung. Auch die Parteien haben sich in ihren Programmen Gedanken gemacht, was am System klappt und was verbessert werden sollte. Das Resultat sind insgesamt etwa 80 Seiten zur Bildungspolitik.

Lingue franche

Am Sprachenunterricht in einer stetig diverser werdenden Gesellschaft, die ein hohes Niveau im Luxemburgischen, Deutschen und Französischen bisher als unantastbares Gut betrachtete, scheiden sich die Geister. Fairerweise sind die Veränderungen, die es braucht, grundlegend und komplex.

Bildungsminister Claude Meisch (DP) umging das traditionelle System und stampfte in den vergangenen Jahren sechs öffentliche internationale Schulen aus dem Boden. Gefühlt sei der Job „not done yet“, sagt Lex Folscheid, erster Regierungsberater im Bildungsministerium. Die DP will weitermachen, die französische Alphabetisierung in der Grundschule ausweiten, drei weitere internationale Schulen eröffnen, darunter eine im Einzugsgebiet der Hauptstadt, um dem Prinzip „unterschiedliche Schulen für unterschiedliche Kinder“, wie es im Wahlprogramm heißt, gerecht zu werden. Um die rechts von der Mitte Wählenden nicht zu sehr abzuschrecken, soll das Luxemburgische mittels einer „Sprachoffensive“ bei den Erzieher/innen gefördert werden.

Der erste Programmpunkt der LSAP ist Bildung, sie räumt ihr im Vergleich zu den anderen Parteien den größten Stellenwert ein. Das liegt mitunter daran, dass sie mit der Parteipräsidentin Francine Closener eine interessierte Anwärterin auf das Amt hat, das seit mehr als zehn Jahren in liberaler Hand ist. Das Programm spricht sich im Sinne der Chancengleichheit explizit für eine französische Alphabetisierung aus, deren Auswertung man, so Francine Closener, sich genau anschauen müsse, – und demnach für eine „mögliche“ Anpassung des Sprachunterrichts in Grund- und Sekundarschule in verschiedene Sprachfilialen. All das soll mit wissenschaftlichem Beirat diskutiert werden. Eine ähnliche Flexibilisierung des Sprachunterrichts findet sich bei den Grünen, der CSV und den Piraten, die die Möglichkeit eines französischen Schriftspracherwerbs befürworten, wenn die Evaluierungen dafür sprechen. (Die Piraten vermeiden das Wort Französisch: „Nicht nur auf Deutsch alphabetisieren.“) Die Grünen schlagen vor, Deutsch könne ab dem Précoce von Anfang an als Fremdsprache spielerisch gefördert werden, um auf die Alphabetisierung vorzubereiten, die zweite Fremdsprache könne eventuell erst ein Jahr später im dritten Cycle eingeführt werden.

Die CSV und die ADR wollen ihrerseits das Luxemburgische in der Spillschoul (Cycle 1) fördern, die CSV will die mehrsprachige Kinderbetreuung „konzeptuell überdenken“. Auch Déi Lénk und Fokus befürworten den französischen Schriftspracherwerb und wollen prüfen, ob die Schülerschaft auch auf Luxemburgisch Lesen und Schreiben lernen kann. Allein die ADR will von einer französischen Alphabetisierung „absehen“ und glaubt weiter an die Brückenfunktion des Luxemburgischen für die deutsche Alphabetisierung für alle hiesigen Schüler/innen. Luxemburgisch-Lernen solle außerdem als Bedingung in die Arbeitsverträge des Erziehungspersonals verankert werden. Und Liberté – Fräiheet beruhigt alle, die Angst bekommen haben: Die Partei wird ausdrücklich niemanden dazu zwingen, Luxemburgisch zu lernen.

Die Sprachenthematik hängt mit den öffentlichen internationalen Schulen eng zusammen. Ihnen steht die LSAP nicht grundlegend negativ gegenüber, allerdings würde man sich eher eine starke öffentliche Schule wünschen. Déi Gréng, die Piraten, die CSV und Fokus äußern in ihrem Programm ebenfalls Bedenken vor dem Parallelismus zweier „Bildungsgesellschaften“. Die Grünen stellen sich wie die LSAP idealerweise vor, beide Systeme anzunähern. Liberté – Fräiheet bekennt sich „ausdrücklich“ zu den internationalen Schulen. Die EU-Partei Volt stellt sich vor, diese Schulform national auszuweiten um das traditionelle System auf lange Sicht ganz abzuschaffen. Die ADR dagegen würde sich über das Gegenteil freuen und erkennt in den internationalen Schulen eine „fundamentale Ungerechtigkeit“, da die Schüler „weniger Sprachen lernen und ein Jahr früher ihren Abschluss bekommen“. Déi Lénk sind ebenfalls gegen eine Ausweitung dieser Schulen und für eine starke öffentliche Gesamtschule.

Arbeit und Struktur(en)

Das Wort Ganztagsschule steht in keinem Programm. Stattdessen wünschen sich DP, CSV, LSAP, Grüne und Piraten eine bessere „Zusammenführung“ oder wahlweise „Verzahnung“ der formalen und non-formalen Bildung, sprich der Schule und der Maison Relais, auch um die ewige Baustelle der Hausaufgabenhilfe zu verbessern. DP, LSAP und Grüne wollen dem Personal in den Maison Relais mehr Vollzeitverträge anbieten, die Piraten fordern eine Anpassung der Schulzeiten in der Grundschule von täglich 8-13 Uhr, um die Organisation für die Maison Relais zu vereinfachen und Eltern, die Teilzeit arbeiten, die Nachmittage mit ihren Kindern zur Verfügung zu stellen. Außerdem müssten in den Strukturen „Inklusiounsreim an Ecker fir sech ofzereageiren mat ageplangt“ werden, heißt es im Programm. KPL, Déi Lénk und Grüne glauben an das Modell einer Gesamtschule (tronc commun) für alle, wobei KPL und Déi Lénk diese Schulform einführen, die Grünen sich wohl an ihr eher inspirieren würden.

Die CSV will die Organisation in „Cycles“ überdenken und in den beiden letzten Grundschuljahren wieder benoten, Fokus schon ab Cycle 3. Die ADR muss „zréck an d’Spuer“ und gedenkt, die Zeit zurückdrehen: Die Reform von 2009 soll rückgängig gemacht, Zensuren und Benotung nach Punkten wieder flächendeckend eingeführt werden. Die Partei will zudem sicherstellen, dass Kinder in der Mittagspause wieder zu Hause essen können, wenn die Eltern dies wünschen. Die Grünen haben überdies scheinbar keine Angst vor mehr Wählerschwund: Sie wollen sich an eine „Überarbeitung des Schulferienkalenders“ wagen, die die Gesamtzahl der Ferienwochen erhalten, die Verteilung über das Jahr jedoch verändern würde.

Einen breiten Konsens bei fast allen Parteien gibt es bei der Forderung nach einer gerechteren Ressourcenverteilung zwischen und innerhalb der Gemeinden, bei der Notwendigkeit, den Lehrerberuf wieder „attraktiv zu machen“ (Grüne, LSAP, DP und CSV hätten nichts gegen eine Masterausbildung für Grundschullehrer) und der Feststellung, dass die bürokratische Last des Lehrpersonals verringert werden sollte (die CSV spricht sich für die Schaffung einer Schuldirektion aus). Ebenso unumstritten ist die Feststellung, dass die Promotionskriterien in den unteren Klassen des Général angepasst gehören, da Schüler/innen derzeit durchgewunken würden. Und alle finden, das Handwerk müsse aufgewertet werden (CSV, LSAP und Piraten befürworten ein Kombi-Diplom des DAP und der Première).

Weltanschauung

Um den realen Zukunftsängsten vieler Kinder und Jugendlichen zu begegnen, wollen LSAP, Déi Gréng, DP und CSV bereits in Grundschulen multidisziplinäre psychologisch geschulte Teams ähnlich des Sepas am Lycée einführen. In der Schule sollen vermehrt die „Skills des 21. Jahrhundert“, gefördert werden, sagen die großen Parteien. Die DP hämmert in diesem Zusammenhang weiter auf die fast schon magischen vier Ks: Kollaboration, Kritisches Denken, Kreativität und Kommunikation. Die LSAP schafft es gar auf sechs „Cs“, Vertrauen (confiance) und Inhalt (contenu) kommen hinzu. Die ADR will angesichts von ChatGPT und KI zurück zu den „fundamental menschlichen Kompetenzen“, sprich zum Lesen und Schreiben.

Während die Grünen Kinder bereits für den mental load sensibilisieren wollen und sich vorstellen, ein
Carework-Optionsfach im Lycée einzuführen, gedenkt die CSV Emotionale Intelligenz zu fördern und fakultative Meditationsangebote zu erweitern. Die Piraten wollen „mentale Gesundheit und das Problem der Gewalt“ stärker im Fach Vie et Société thematisieren. Déi Lénk würden das Fach in einen Philosophie-Praxiskurs umwandeln, der ihrer Ansicht nach objektiver wäre. Die DP beabsichtigt, „sexuelle und affektive Gesundheit und Finanzbildung stärker in die Lehrpläne einzubinden“.

Fred Keup wäre auch gern „Schoulminister“. Seine Partei will Fleiß und Disziplin wieder positiver behaften und den Religionsunterricht erneut einführen, wobei alle Religionen, die vom Staat finanziell unterstützt werden, dann Religionskurse anbieten dürften. Gleichzeitig soll die Schule im Widerspruch dazu „politisch und weltanschaulich neutral bleiben“. Gemeint ist damit wohl das Kontrastprogramm zu LSAP, Grüne oder Déi Lénk, die Gender-Stereotypen in der Schulliteratur reduzieren möchten; oder die historische Rekontextualisierung der Kolonialzeit, die sich im Programm der Linken wiederfindet.

Was Digitalisierung angeht, bleibt es wie immer insgesamt schwammig, durchsetzt von Floskeln, aus denen man sich das aussuchen kann, was man gerade möchte. Die Grünen und die LSAP wollen vielleicht auch deshalb ein „schulzeitübergreifendes Digitalisierungscuricculum“ für Grund- und Sekundarschule ausarbeiten. Die LSAP verspricht jedem Schüler ein I-Pad, die ADR ist „grundsätzlich“ für ein Smartphone-Verbot an den Schulen, letzteren soll es jedoch selber überlassen werden, ob sie „mitgehen“. Die Piraten wollen gratis Zugang zu Online-Schulbüchern, die DP hat dazu nichts Konkretes beizutragen, außer mehr „Zukunftskompetenzen“ und „Innovation in den pädagogischen Methoden“ in der Sekundarschule. Déi Lénk erklärt, das Bildungsministerium aus den Fängen von Big Data befreien und Open Source fördern zu wollen. Die Partei spricht die „die psycho-mentalen und sanitären Risiken“ einer starken Bildschirmnutzung in ihren Überlegungen zur Digitalisierung explizit an, während andere davor zurückscheuen.

Sarah Pepin
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