Die kleine Zeitzeugin

Wir können nicht zurück

d'Lëtzebuerger Land du 23.08.2019

Leider, auch ich würde gern zurück. Dorthin.

Wo alles klar, alles geregelt ist. Im Frühling zwitschern die Vögel, sie heißen Amsel, Drossel, Fink und Star. Das Essen steht auf dem Tisch, es wird gegessen, weil es auf den Tisch kommt. Es wird zu geregelten Zeiten gegessen, nicht wenn es jemand einfällt. Alle fahren zur gleichen Zeit zur Arbeit, kommen zur gleichen Zeit zurück, schalten den Fernseher zur gleichen Zeit ein. Sie schauen die gleichen Filme zur gleichen Zeit. Sie gehen zur gleichen Zeit schlafen und beten zum gleichen Gott, alle denken es gibt nur einen. Die Menschen sind nicht sehr hautfarbig, zwischen beige und rosa gibt es nicht viele Alternativen, nur verschiedene Teints. Auch da ist alles beruhigend monoton. Es gibt nur den Nord- und Südpol, niemand ist bipolar oder binär. Es gibt Teppichfransenbürsten, um die Teppichfransen zu bürsten. Die Frauen tragen Dauerwellen, die sich dauernd wellen. Die Männer haben einen Bürstenhaarschnitt. Die Welt ist noch gekämmt.

Alles hat also seine Richtigkeit, es könnte in alle Ewigkeit so weiter gehen. Alles könnte weiter so be- stehen.

Jeder weiß, was er zu tun hat oder zu sein. Die Menschen sind noch genügsam. Aneinander geschweißt durch einen ehernen Ring stapfen sie stoisch durch das Leben, es fällt ihnen nichts Anderes ein. Es kommt nichts Besseres nach. Man wechselt die Garderobe, aber nicht das Geschlecht, zwei scheinen zu genügen. Die einzige Alternative ist Alte Jungfer, auf männlich heißt es Junggeselle, der auch alt sein kann. Dann ist aber schon Schluss mit den Einfällen. Über Wilde Ehe wird wild getuschelt, das Tuscheln klingt Furcht erregend und verheißungsvoll, auf luxemburgisch klingt das „Gekummert“-Sein aber eher kummerschwanger. Befruchtet wird exklusiv analog, und das Angebot kommt nicht mal aus einem Katalog. Es wird beim Storch bestellt statt bei Amazon, biologisch.

Etwas wirklich Schlimmes ist, geschieden zu sein, viel besser ist es, verschieden zu sein. Weil Einfleisch hat das Urteil geheißen, und nur der Tod darf der Chirurg sein, das weiß jedes Kind. Wer den Gottesschwur bricht, muss sich fürderhin als Grabmal der Schande durch das Jammertal schleppen.

Gut, so toll jetzt wieder auch nicht, wenn man es sich überlegt. Wer will in so was zurück? In diese Kinderstube, die es nie gab, der große Bruder taucht mit der Teufelsmaske auf. In diese Kinderbuch-Katechismus-DDR mit autistischen Zügen. Nur weil all die Kicks und Klicks und virtuellen Ficks auch nicht das Gelbe vom Ei sind. Nur weil es rundherum oft kühl ist und ohne Gefühl, und weil gefühlt viele Menschen rundherum eine etwas nervös machen. Sind so viele da von vielen Sorten aus vielen Orten, im Kopf ist alles noch nicht sortiert. Und dann soll man Fahrrad fahren statt zu fliegen.

Früher, seufzt Mensch da, war alles besser. Wärmer. Menschlicher. Und sehnt sich mal wieder. Danach, als die Menschen noch Menschen waren. Mindestens so wie Hunde. Für einander da sein, einander nah, ach, diese menschliche Nähe! Ach, dieser Menschenmief! Übereinander herfallen. Aber nur die von der gleichen Sorte. Mit Kirchenglocken. Wobei das mit der Kirche eher symbolisch gemeint ist. Muss nicht mit Hölle sein. Light eher. Damit wir uns nicht mit andern verwechseln, deswegen vor allem. Wo alles so wechselhaft ist. Das Klima, die Menschensorten, die Grenzen, die Berufe die es nicht mehr gibt. Die Tiere, die es nicht mehr gibt, und andere die es urplötzlich gibt, Mücken kommen angetigert.

Irgendwie müssen wir doch extra sein. Wir müssen eine Marke haben. Oder besser noch eine sein. Nur welche?

Sich sehnen nach früher, schaffen die meisten viel leichter als die Sehnsucht nach der Zukunft. Wie soll, wer nicht mehr neu ist, sich das Neue vorstellen?

Aber früher gab es nicht mal Duschgel, so ein Früher wollen wir natürlich nicht, wir sind ja nicht von gestern. Und das Feld bestellen wir auch nicht, nur im Internet.

Michèle Thoma
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