Die Reform der Berufsausbildung war überfällig. Aber das Grundproblem löst sie nicht

Eine Spezifizität

d'Lëtzebuerger Land vom 23.09.2010

Seit Wochen wird über die sinkende Wettbewerbsfähigkeit Luxemburgs debattiert, werden steigende Lohnstückkosten angeprangert und der Konkurrenzdruck aus den Nachbarstaaten bejammert, aber darüber, wie Luxemburg mit seinem Nachwuchs umgeht, wird weniger geredet. Erstaunlich, denn in anderen Ländern sind, angesichts der demografischen Entwicklung, rege Debatten vom Zaun gebrochen: In Deutschland ist selbst die duale Ausbildung kein Tabu mehr für Grundsatzkritik. In der Schweiz wurde die Berufsausbildung grundlegend reformiert. Und bei uns?

In Luxemburg verläuft die demografische Kurve etwas günstiger, die Globalisierung aber hinterlässt auch hier ihre Spuren. Industrieunternehmen verlagern ihre Produktionen nach Osteuropa und Asien, um billiger produzieren zu können. Villeroy et Boch und die einstige Arbed sind Belege für diese Entwicklung. Mit der Abwanderung der großen Player schrumpft der Lehrstellenmarkt. Der Industriesektor, früher Ausbilder Nummer eins gerade für geringer qualifizierte Tätigkeiten, bildet heute weniger Leute aus. Neue Jobs entstehen vor allem im wegen des Baubooms florierenden Handwerk und im Dienstleistungssektor, wobei auch dieser in der momentanen Krise rationalisiert, wie die jüngsten Entlassungen bei Dexia Bil zeigen.

Trotzdem sieht die Lehrstellensituation in Luxemburg noch einigermaßen gut aus. Im Krisenjahr 2009 ist die Zahl an vermittelten Lehrstellen stabil geblieben (1 263 gegenüber 1 228 im Jahr 2008/09), den 211 noch offenen gemeldeten Lehrstellen stehen 173 Bewerber ohne Lehrvertrag gegenüber. In diesem Sommer haben, laut Unterrichtsministerium, die Unternehmen jetzt schon 200 Ausbildungsplätze mehr gemeldet als im Vorjahr. So düster sind die Aussichten also nicht, wobei dies kein Anlass sein darf, um die Hände in den Schoß zu legen. Denn die Schieflage bleibt: Die Schere zwischen gering und unqualifizierten jungen Menschen, die sich schwer tun, eine Arbeit oder eine Lehrstelle zu finden, und einem Stellenangebot, das immer öfters auf Bewerber mit Bac plus zwei oder mehr Jahren setzt, klafft auch hierzulande auf. Das Arbeitsamt Adem spricht von der „Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage“.

Unterhält man sich mit Arbeitgebern, ist der Schuldige schnell gefunden: die Motivation der Jungen und Mädchen sei gleich Null, die Schulausbildung werde immer schlechter. Viele Bewerber könnten nicht einmal ihren Lebenslauf fehlerlos aufschreiben, sie seien undiszipliniert und hätten falsche Vorstellungen davon, was sie im Beruf erwartet. Das sind noch die netteren Aussagen. Dabei verkennen die Erwachsenen, dass sich auch die Berufswelt stark verändert. Wo früher noch ein CITP-Abschluss für das Anstreichen eines Appartments oder das Verlegen von Leitungen ausreichte, muss es heute ein DAP (früher CATP) sein. Umweltauf­lagen, strengere Sicherheitsbestimmungen und neue Produkte bedeuten höhere Jobanforderungen. Arbeitsabläufe sind komplexer geworden. Wo vorher es ausreichte, eine Bedienungsanleitung wahlweise auf Deutsch oder Französisch zu verstehen, wird Englisch zur lingua franca. Die Technologien sind komplizierter und die Verfallsdauer von Wissen hat sich rapide verkürzt. Das Beispiel IT-Technologien, wo Innovationen im gefühlten Dreimonatstakt auf den Markt kommen, veranschaulicht das gut.

Umso wichtiger ist es, dass junge Menschen lernen, mit den Herausforderungen umzugehen. Dass sie wissen, wo sie Antworten bekommen, wie sie mit der Internet-Suchmachine eine Gebrauchsanweisung in ihrer Sprache finden, beim erfahreneren Kollegen um Rat fragen, relevante Fachartikel recherchieren und sich sinnvoll weiterbilden können. Selbstständig Probleme lösen steht im Vordergrund, Wissen lediglich anzuhäufen reicht nicht.

Und da kommt die Schule ins Spiel. Wer manche Lehrpläne der Berufsausbildung liest, findet viel Verschultes, abstrakte Theorie, aber wenig Anwendungsorientiertes. Die Umstellung auf den kompetenzbezogenen Modularunterricht, die mit der neuen Berufsausbildung beschlossen wurde, ist der Versuch, Inhalte praxisnäher zu gestalten.

Viele Betriebe klagen darüber hinaus, ihre Auszubildenden hätten zu wenig Allgemeinwissen, es fehle an elementaren Methoden, um ein Problem anzugehen. Ein breites Grundwissen und spezialisiertes Detailwissen zu vermitteln, geht aber nicht zur gleichen Zeit. Das Ministerium will deshalb die Spezialisierung der Berufe etwas zurückfahren. Mehr Allgemeinbildung und eine spätere Spezialisierung hätten den Vorteil, so das Kalkül, dass der Jugendliche nicht zu früh auf eine bestimmte Fachrichtung festgelegt würde, er wäre flexibler einsetzbar. Das bedeutet aber auch, dass die ­Betriebe ihre Verantwortung in der Ausbildung wahrnehmen müssen. Und ihrerseits die zusätzlich gewünschten, fehlenden Kompetenzen „nachrüsten“.

Ein duales System bedeutet geteilte Verantwortung. Das setzt Vertrauen voraus. Und das ist nicht immer gegeben. Lange haben die Schulen in ihrer Ecke für sich herumgetüftelt. In den Programmkommissionen saßen und sitzen Lehrer und Werkmeister, deren Berufserfahrung fünf, zehn und mehr Jahre zurückliegt. Für sie gilt, was auch für die Schüler richtig ist: Regelmäßige Schulungen sind ein Muss, um den Anschluss an sich verändernde Arbeitsrealitäten nicht zu verlieren. Manche Tutoren machen es sich zu leicht, begleiten ihre Auszubildenden nicht genügend. Es soll Lehrlinge geben, deren Betreuer während der dreijährigen Lehre kaum je nach dem Rechten geschaut haben. Mit der Beteiligung der Praktiker in den Équipes curriculaires, die die Lehrpläne und Berufsprofile erstellen, soll der Graben zwischen Schul- und Arbeitswelt geschlossen werden. Gleichzeitig sollen feste Tutoren in den Betrieben, die Möglichkeit erhalten, ebenfalls Weiterbildungen der Berufsschul-lehrer besuchen zu können.

Die engere Verzahnung von Schul- und Berufswelt kann helfen, die Berufsausbildung qualitativ zu verbessern. Denn sie muss besser werden: Unternehmen brauchen hoch qualifizierte Arbeitskräfte – und das ist auch das Ziel der europäische Lissabon-Agenda und ihrer Neuauflage Europa 2020. 40 Prozent Hochschulabsolventen in zehn Jahren lautet die überaus ehrgeizige Aufgabe – in Luxemburg beträgt ihr Anteil an den Beschäftigten 25 Prozent. Mit der Einordnung des Techniker-Diploms zur Berufausbildung wurde ein wichtiges Signal gegeben: Die Berufsausbildung wird aufgewertet. Wer will, kann mit weiteren Studien die Zulassung für die Uni bekommen. Die ausgebauten BTS-Ausbildungen ermöglichen ebenfalls weiterführende Studien. Ein erster Schritt ist gemacht, nun gilt es, talentierte Auszubildende aus allen Milieus zu unterstützen, den Weg auch zu einzuschlagen.

Nur muss davor das eigentliche Problem gelöst werden: der Sprachenunterricht. Luxemburg ist ein Einwanderungsland. 2008/09 betrug der Anteil der nicht-luxemburgischen Schüler im technischen Sekundarunterricht 43 Prozent, davon 26 Prozent Portugiesen. Nur etwa elf Prozent der Sekundarschulabsolventen (ES+EST) sind portugiesischer Herkunft, jedoch haben innerhalb der Altergruppe 19 Prozent einen portugiesischen Pass. Unter den Schulabbrechern sind Portugiesen und Kapverdier überdurchschnittlich häufig anzutreffen. Dies allein der Orientierung auf die Schulzweige anzukreiden, greift zu kurz, die Probleme beginnen in der Grundschule. Aber Fakt ist, dass die Zuweisung auf die Schulzweige – Préparatoire, Technique und Classique – auf der Grundlage der Leistungen in den Hauptfächern erfolgt, und das sind neben Mathematik nun mal die Sprachen.

Nicht nur, dass franko- und lusophone Schüler häufiger als ihre luxemburgischen Klasssenkamera­den im Régime professionnel landen. Dort angekommen, sind sie mit der absurden Wirklichkeit konfrontiert, dass die meisten Ausbildungen auf Deutsch sind. Das ist keine neue Feststellung, und in der Zwischenzeit werden etliche Berufsausbildungen auf Französisch oder in gemischtsprachigen Klassen angeboten. Aber bei 17 CATP (DAP)-Ausbildungen, die auf Französisch angeboten werden, von insgesamt 85, und einem stark limitierten französischsprachigen Angebot im höher qualifizierten Bereich, kann von einem gleichberechtigten Zugang zur Berufsausbildung keine Rede sein. Eine angehende Bäckerin vermag ihren CATP auf Französisch erlangen, nicht aber ihren BTS.

Dass diese strukturelle Diskriminierung nicht mehr politische Aufmerksamkeit bekommt, ist ein Skandal – was angesichts der Machtverhältnisse aber nicht wirklich verwundert. Ausländische Eltern, die ihre Kinder in die luxemburgische Schulen schicken, haben selbst nicht mehr als die Grundschule ­absolviert. Eine Initiative aufstrebender bildungsbewusster Eltern, mit einem eigenen portugiesischsprachigen Bildungsangebot den strukturellen Startnachteil ihrer Kinder auszugleichen, wurde von der Politik mit dem heuchlerischen Argument abgewiesen, das gefährde die Integration – als würden Jugendarbeitslosigkeit und ungleiche Bildungschancen die soziale Kohäsion nicht gefährden. Dabei haben andere Gemeinschaften, wie die englischsprachige, seit Jahren ihre eigenen Schulen, und niemand stört sich daran. Über den Konkurrenzdruck und über die automatische Indexanpassung kann leidenschaftlich und empört diskutiert werden – dass hierzulande jahrein, jahraus junges Talent verschleudert wird, wird von der großen Mehrheit immer noch achselzuckend hingenommen.

Mit dem Aktionsplan Sprachenunterricht hat das Ministerium die Sprachanforderungen in der Berufsausbildung auf den Prüfstein gesetzt und ist dabei, differenzierte Mindestanforderungen festzulegen – unter lautem Protest der Sprachlehrer. Aber ein Mechaniker muss sicher nicht analytische Texte in perfektem Französisch abliefern können. Auf ihrer Rentrée-Pressekonferenz kündigte die Ministerin zudem an, mit der Reform der ­Berufsausbildung sämtliche Unterrichtsmaterialien auf Deutsch und auf Französisch anzubieten.

Das reicht aber nicht. Luxemburg braucht mehr Ausbildungen auf Französisch, mit Deutsch als zweite oder dritte Fremdsprache. Die Berufsausbildungsreform wäre nun die Gelegenheit gewesen, den in Sonntagsreden beschworenen Anspruch der Mehrsprachigkeit endlich selbst einzulösen: Luxemburgische Lehrer müssen, bevor sie den Beruf ergreifen können, nachweisen, dass sie Deutsch und Französisch auf hohem Niveau beherrschen. Ergo müssten sie fähig sein, ihr Berufsschulangebot konsequent zweisprachig anzubieten. Für die Werkstattmeister, viele Seiteneinsteiger aus der Privatwirtschaft, die ihre Kurse oft lieber auf Deutsch halten, wird die Umstellung auf Französisch, mit größeren Anstrengungen verbunden sein. Das darf aber nicht als Ausrede dafür herhalten, Jugendliche der für ihre weiteren Zukunft so wichtigen Möglichkeit zu berauben, einer ihren Fähigkeiten und Interessen entsprechenden Ausbildung nachzugehen. Es wäre interessant, eine Statistik zu haben, die Aussage darüber abgeben könnte, wie viele unserer Jugendlichen eine niedrigere Qualifikation absolvieren – weil sie wegen mangelnder Deutschkenntnisse keine andere Wahl haben.

So bekommt auch das Phänomen der Schulabbrecher plötzlich eine andere Note: In den Klassen der Schule der zweiten Chance dürften, das sagt auch das Ministerium, vor allem nicht-luxemburgische Jugend­liche mit Lernschwierigkeiten landen. Die Schule, die im nächsten Frühjahr mit Pilotklassen an den Start gehen wird, soll Schulabbrechern und Schülern mit chronischen Lernschwächen mittels individualisiertem Unterricht und einer engmaschigeren Betreuung doch noch den Schulabschluss ermöglichen. Sie hat aber den einen, großen Haken, dass sie die Schüler wieder dahin zurückvermittelt, wo sie zuvor frustriert ausgeschieden waren. Im schlimmsten Fall könnte dies eine weitere Warteschleife für sie bedeuten. Dasselbe Risiko besteht übrigens bei den Eingliederungshilfen und Orientierungskursen: Schüler sollen so die Arbeitswelt kennen lernen. Eine Lehr­stellen- oder Arbeitsplatzgarantie erhalten sie damit nicht.

Am Dienstagabend diskutierte die Unterrichtsministerin, zu Gast beim im Mai gegründeten Arbeitskreis ­Socialistes pour l’intégration et cito­­yenneté (!), in Walferdingen mit Nicht-Luxemburgern über die Vor- und Nachteile des Luxemburger Schulsystems. Hauptsorge der rund 40 Teilnehmer: die Sprachenbarriere. Der Ministerin fiel als Antwort nicht viel mehr ein, als auf die „Tradition“ zu verweisen. Die Mehrsprachigkeit sei eben eine „Luxemburger Spezifizität“ – dabei ist das Problem nicht, dass die Ausbildung hierzulande auf mehreren Sprachen aufbaut, das ist formidabel, sondern wie sie es macht. Die Zuhörer, viele ausländische Eltern, deren Kinder in Luxem­burg zur Schule gehen, nahmen die Antwort trotzdem gnädig hin. Es waren ja vor allem Parteifreunde.

Ines Kurschat
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