Die kleine Zeitzeugin

Die Gemeinsamkeit der Welt

d'Lëtzebuerger Land vom 07.01.2022

Dachterrasse eines Hochhauses, Hochstimmung, das neue Jahr explodiert in Myriaden von Sternen, aus den Niederungen zischt und ballert es. Ein Mittvierziger balanciert über dem Abgrund vor seiner jungen Freundin und ihren jungen Freund*innen, alle superlustig, einige sind in der Anschauung versunken. Der Nachbar der Gastgeberin fordert weibliche Wesen zum Tanz auf, prostet zu, sucht das Gespräch. Möchte sich dann anschließen, wie die Party in der Wohnung weitergeht, der Gastgeberin ist das nicht recht. Er schleicht zurück in seine Klause, ich heule. Ich heule und heule, höre gar nicht mehr auf, am Küchentisch zwischen Sektgläsern und Musikschwaden, ich werde nie wieder aufhören. Die Einsamkeit der Welt, brabbelt es aus mir heraus, immer wieder. Immer nur die Einsamkeit der Welt. Ab und zu schaut die Gastgeberin nach mir, wie nach einer Gebärenden oder Sterbenden. Dass der Nachbar, der mir nicht sonderlich sympathisch ist, aber doch ein Mensch, wie ich behaupte, nicht reindarf, hat seine Gründe. Die die Gastgeberin zwischen den Tränenfluten und deren Abebben, zwischen den Wehen und mitten im Weh das mich befallen hat, mir zwischendurch versucht zu erläutern. Die Einsamkeit der Welt, ich zerfließe in Mitleid mit der Gesamtschöpfung, so ein Jesus-Zustand. Wohlig weh, wie ich mich suhle, zwischen letzten Schluchzern und Schniefern, schwer beeindruckt von mir. Du bist einfach stockbesoffen, diagnostiziert meine Freundin.

Die Gründe, warum der Nächste draußen vor der Tür bleiben musste, waren übrigens nachvollziehbar. Zumindest für gnadenlos Nüchterne. Während ich heule, sind wir schon 2020. Später hielt ich mich für eine Prophetin. Es war der Beginn des Jahres, in dem die Einsamkeit die Welt heimsuchte.

Jetzt, 2022, zwei Jahre später, zwei volle Jahre, in denen uns der Lernprozess gemacht wurde. In dem wir nachsitzen, schlechte Schüler*innen, kein Vorsitz klappt mehr. Es gibt keinen Vorsitz mehr. Dafür Vorsätze, allzu edle, die wir nicht halten können. Nie wieder Oberfläche. Nie wieder fliegen. Kapitalismus Konsum pfui. Mit unseren Schwestern und Brüdern die Schöpfung teilen, fair. Nichts mehr von Nestlé. Vorsätze statt Pläne, die lösen sich in Luft auf, fallen ins Wasser, werden verschoben, weiter und weiter an den Horizont, dort wo alles wieder wäre wie es nie war. Wie früher. Kinder wachsen heran, die dieses utopische Früher gar nicht mehr kennen.

Zwei volle Jahre, in denen Lektionen durchgepeitscht wurden, die niemand gebucht hatte. Anti-Weltuntergangscrashkurse. Jeder sein eigener Safe. Wandelnde Safes in Hochsicherheitstrakten, jedes ein Hochsicherheitstrakt, bewacht von Tests und Attesten. Das Soziale plötzlich asozial, jeder Nieser ein Supergau, wer hustet fliegt raus. Fliegt nicht mit. Zwei Jahre in denen wir kapierten, um das Kapierte schnell wieder zu verdrängen, kaum dass eine Welle abebbte. Jetzt grad Greta nicht. Jetzt aber schnell. Jetzt aber endlich. Jetzt sofort. Das was wir immer schon. Last Minute, bevor das letzte Stündlein uns schlägt. Vor dem Ende noch ans Ende der Welt.

Ach wie pathetisch, lächerlich. Alles halb so schlimm. Ein Drittel weniger an Bord, nicht unangenehm, die Ungeimpften sind nicht da. Sind sowieso nicht die Angenehmsten.

Aber wir müssen doch zusammenkommen, dämmert es den Belämmerten. Wir müssen doch lieb zueinander sein und zur Schöpfung. Nicht nur zu uns selbst, was in den letzten Jahrzehnten immer beliebter wurde. Wir dürfen die Tiere nicht. Die Erde ist keine Untertanin, das ist so ein Alter-Weißer-Mann-Dings, Chef-Empathiker Jesus hätte so was nie gesagt.

Wir müssen die Welt heilen, was denn sonst? Ist nur so ein Stress gerade. Wie soll das gehen, mit den Heinis rundherum? Es ist alles grad so durcheinander.

Wer bringt den Atommüll runter? Ach, unsere Kinder sind so tüchtig, die sollen das machen. Atom ist jetzt auch sexy, Greenbrainwashing ist gut gegen altes Denken. Das Metaversum dehnt sich aus, im Schatten der Facebook-Türme campen die mit dem Looser-Los.

Aber wir müssen doch. Das hinkriegen. Sonst sind wir hin. All incl... Das Wort zum Jahresanfang. Nur, wer ist „wir“?

Michèle Thoma
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