Indikatoren und Betrachtungsweisen

Lieber reich und gesund als arm und krank

d'Lëtzebuerger Land vom 22.11.2013

Seit Jahren wird in Luxemburg und anderswo darüber diskutiert, ob das Bruttoinlandsprodukt (BIP) und insbesondere der „BIP pro Kopf“-Wert adäquate Messinstrumente sind, um den tatsächlichen Reichtum und den Entwicklungsgrad eines Landes darzustellen und etwas über das Wohlbefinden, die Zufriedenheit, die Lebensqualität seiner Bewohner aussagen zu können. Das ist natürlich nicht der Fall.

Hier Abhilfe zu schaffen und alternative Indikatoren und Betrachtungsweisen zu entwickeln, ist allerdings keine einfache Aufgabe. Abgesehen davon, müssen wir immer noch den Mythos vom „Land mit dem weitaus höchsten Pro-Kopf-Einkommen der EU“ mit uns herumschleppen; ein Umstand, der uns noch lange nicht überall Freunde macht. In unserem Fall – Kleinstaat mit offenen Grenzen und einem grenzüberschreitenden Arbeitsmarkt – ist der Pro-Kopf-Wert, egal ob es um den Alkoholkonsum, den Benzinverbrauch oder eben die Wirtschaftskraft geht, ja überhaupt nicht aussagekräftig. Auch dann nicht, wenn die internationale Statistik (was soll sie anderes tun?) immer wieder feststellt, dass unser Ergebnis gut zweieinhalb Mal höher ist als in unseren Nachbarländern oder auf der Ebene der EU. Heißt das etwa, dass wir zweieinhalb Mal besser, intelligenter, produktiver sind? Eher nicht.

Hier ein alternativer Rechenvorschlag: Unser BIP lag 2012 bei 42,917 Milliarden Euro, die Landesbevölkerung (im Jahresdurchschnitt) bei 530 900 Einwohnern. Das ergibt einen Pro-Kopf-Wert von 80 840 Euro. Wow! Nur ein Land wie Katar kann da noch mithalten, aber mit dem sollten wir uns besser nicht vergleichen. Zufällig waren 2012 auch 157 400 Grenzgänger in Luxemburg beschäftigt; mit ihren engsten Familienmitgliedern (ein Haushalt zählt im Schnitt 2,5 Personen) sind das immerhin 393 500 Menschen. Da die Grenzgänger einen wesentlichen Beitrag zu unserem BIP leisten, sollte man sie – und zwar nicht nur aus rein statistischen Gründen – zur Wohnbevölkerung hinzu zählen; man kommt so auf eine neue, stolze Referenzbevölkerung von 924 400. Teilt man das BIP durch diese Zahl, bekommt man einen neuen Pro-Kopf-Wert von 46 430 Euro. Der Unterschied zur ersten, völlig überschätzten Zahl beträgt 34 410 Euro, also 43 Prozent. 43 Prozent, das war ziemlich genau der Grenzgängeranteil an der aktiven Bevölkerung im Jahr 2012. Luxemburg ist ein reiches Land, allerdings ist ein großer Teil seines Reichtums „importiert”, das heißt von Nichtansässigen geschaffen. Wie wir wissen, würden hierzulande ohne die mittlerweile über 160 000 Grenzgänger (fast) überall die Lichter ausgehen.

Unser Institut für Statistik hat jetzt so etwas wie eine Glücksstudie veröffentlicht, die so genannte Studie zum PIBien-être. Was erfährt man Neues, Konkretes, Bahnbrechendes? Die allgemeine Zufriedenheit steigt mit dem Einkommen, oder, um es mit Coluche zu sagen: „L’argent n’a jamais fait le bonheur des pauvres.“ Was ist in der Tat davon zu halten, wenn man erfährt, dass diejenigen, die im Monat 6 000 Euro und mehr zur Verfügung haben, anscheinend deutlich zufriedener sind als die, die mit weniger als 2 500 Euro auskommen müssen? Dass die, die eine gute Ausbildung besitzen und einen gutbezahlten Job ausüben, gleichzeitig über eine bessere Wohnsituation verfügen und mit ihrem sozialen Umfeld zufriedener sind als alle anderen? Wahrscheinlich haben sie auch noch mehr Autos, und dickere obendrein. Wer hätte das gedacht? Und wer gibt wie viel Geld aus für tiefschürfende Analysen dieser Art?

Claude Gengler
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