Die LSAP hofft, nach dem 8. Oktober erstmals die Premierministerin zu stellen. In der heißen Wahlkampfphase kann Paulette Lenert wohl punkten. Ob sie die LSAP insgesamt stärken kann, bleibt jedoch abzuwarten

„Säi Stil“

Paulette Lenert mit Anke Rehlinger (l.) und Malu Dreyer in Remich
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 29.09.2023

Südenekipp Bevor Außenminister Jean Asselborn am Mittwoch nach Deutschland reiste, um am Nachmittag in Frankfurt eine „Impulsrede“ über Europa auf dem Wirtschaftstag der Volksbanken und Raiffeisenbanken zu halten, am Abend in Köln an einer Buchvorstellung der WDR-Journalistin Isabel Schayani teilzunehmen und am Donnerstag zu einem Ministertreffen nach Brüssel zu fahren, schwor er am Dienstagabend in der angesagten Brasserie Schmëdd im Ellergronn in Esch/Alzette noch schnell die LSAP-Kandidat/innen aus dem Südbezirk auf die Kammerwahlen ein. Fast alle von ihnen waren gekommen, außer Dan Kersch, Sammy Wagner und Liz Braz; Asselborns Ko-Spitzenkandidatin Taina Bofferding vertrat die LSAP (als einzige Frau) auf einer Table Ronde des Tageblatt im Escher Stadttheater, die zeitgleich zu diesem „grousse Walevent mat ärer Südenekipp“ im Ellergronn stattfand. Auch ein paar Nicht-Kandidat/innen hatten sich in der Schmëdd dazugesellt, Staatsrat Alex Bodry hatte sich mit einem Bier in eine Ecke zurückgezogen, um den Ausführungen von Asselborn zu lauschen, und sich später in „konspirative“ Gespräche mit Mars Di Bartolomeo und dessen Sohn Max zu vertiefen.

Seit dem Ende der Corona-Pandemie ist der Außenminister erneut der beliebteste Politiker in Luxemburg. Bei der letzten Umfrage von Wort und RTL lag er erstmals seit Juli 2020 wieder vor Paulette Lenert. Zur nationalen Politik hat Asselborn inzwischen kaum noch Bezug. Am Dienstag referierte er kurz über die historische Verantwortung der LSAP, dem neoliberalen Ansatz von CSV und DP eine soziale Politik entgegenzusetzen, warnte vor einem schlanken Staat und einer Privatisierung der Sozialsysteme und des Gesundheitswesens, um sich schließlich mit einem Bekenntnis zu den europäischen Klimazielen, der Forderung nach Frieden in der Ukraine und seinem Engagement für eine gerechtere Flüchtlingspolitik in der EU für eine fünfte Amtszeit als Außenminister zu empfehlen. Ziel der LSAP am 8. Oktober sei es, dass keine Koalition gebildet werde, „wou mir net dobäi sinn“, sagte Asselborn.

Seit 2004 ist die LSAP ununterbrochen „dobäi“, obwohl sie seit 2009 stetig an Zustimmung verloren hat (eigentlich schon seit 1989, doch sie konnte sich zwischenzeitlich stabilisieren). Die schwersten Verluste musste sie vor fünf Jahren hinnehmen, als sie drei Sitze verlor. Seitdem haben die Sozialisten nur noch zehn Sitze, einen mehr als die Grünen, zwei weniger als die DP und nicht einmal halb so viele wie die CSV.

Vor zwei Wochen hatte die letzte Sonndesfro vor den Kammerwahlen der LSAP Zugewinne vorausgesagt. Plus drei Prozentpunkte gegenüber ihrem Resultat von 2018, womit sie wieder auf 13 Sitze käme. Daran glauben will in der LSAP indes niemand so richtig. Im Norden muss man auf den langjährigen Stimmenmagneten Romain Schneider verzichten; im Zentrum sei die Liste insgesamt „schwach“; im Osten, wo die nationale Spitzenkandidatin Paulette Lenert zum ersten Mal antritt, müsste sie für einen zweiten (Rest-)Sitz (zu) hohe Zugewinne einfahren. Deshalb ruht die ganze Hoffnung der Sozialisten auf dem Südbezirk, wo man mindestens den vor fünf Jahren verloren gegangenen siebten Sitz zurückholen möchte. Im Süden trage die LSAP eine große Verantwortung, skandierte Jean Asselborn am Dienstag im Ellergronn, denn dort sei nach wie vor „de Stack vun der Partei“. Die Vorherrschaft im Süden musste die LSAP allerdings schon 2004 an die CSV abgeben, die diese selbst 2018 noch verteidigen konnte, als Jean-Claude Juncker nicht mehr kandidierte. Tatsächlich hat die LSAP in den vergangenen beiden Jahrzehnten vor allem Listenstimmen verloren, bei den Einzelstimmen konnte sie die CSV 2018 erstmals seit 20 Jahren wieder überholen.

Listenstimmen Für Listenstimmen soll nun Paulette Lenert sorgen. Die heiße Phase des Wahlkampfs hat die österreichische Agentur Platzl Zwei, die die LSAP berät, ganz auf die nationale Spitzenkandidatin zugeschnitten. Auf dem Cover der Broschüre, die die LSAP in dieser Woche im Südbezirk an alle Haushalte verteilt hat, prangt groß Lenerts Konterfei, auf den Seiten zwei und drei ist ein „Interview“ mit ihr zu lesen, darüber steht neben einem großen Foto ihre Biografie. Taina Bofferding und Jean Asselborn treten erst auf Seite sieben ganz klein in Erscheinung, hinter dem Fehlerrätsel und dem Sudoku. „Säi Stil mécht den Ënnerscheed“ behauptet die Marketingabteilung der Sozialisten seit einigen Wochen nicht nur in der Broschüre, sondern auch in den sozialen Medien, Paulette Lenert sei ehrlich und gerecht, das färbe auf die ganze Partei ab. Paulette Lenert ist im Süden nicht wählbar, weil sie im Osten kandidiert, doch ihre Ausstrahlung soll die Wähler/innen dazu bewegen, sich für die LSAP insgesamt zu entscheiden, damit sie die erste sozialistische Premierministerin werden kann. Zum Wahlevent nach Esch hatte sie es am Dienstag aus Termingründen nicht geschafft, seit Wochen tingelt sie von Veranstaltung zu Veranstaltung und teilt ihre Eindrücke mit ihren Followern in den sozialen Netzwerken.

Nach anfänglichen Schwierigkeiten, sich im Grundsatzprogramm der LSAP zurechtzufinden, hat Paulette Lenert sich in den vergangenen Monaten viel Mühe gegeben, ihrem von der Werbeagentur konstruierten Image gerecht zu werden. Bei ihren Auftritten in Funk und Fernsehen wirkt sie authentisch; in politische Themen, die ihr bislang fremd waren, hat sie sich eingearbeitet. Am Dienstagmorgen konnte sie selbst im direkten Face-à-Face mit (dem wortwörtlich blassen) Premierminister Xavier Bettel (DP) überzeugen, dem sie rhetorisch überlegen war. Vor einer Woche empfing sie in ihrer Heimatstadt Remich die SPD-Ministerpräsidentinnen aus dem Saarland und aus Rheinland-Pfalz, Anke Rehlinger und Malu Dreyer; am heutigen Freitag wird sie gemeinsam mit dem Wiener SPÖ-Bürgermeister Michael Ludwig auf einer Pressekonferenz Lösungen für die Wohnungskrise vorstellen, die sich am „Wiener Modell“ inspirieren, das Vera Spautz in Esch schon vor Jahren propagierte und das nun auch Einzug in das nationale LSAP-Wahlprogramm gefunden hat. Um Paulette Lenert ins rechte Licht zu rücken, holt die LSAP sich gerne Verstärkung aus dem Ausland.

Doch auch inhaltlich weiß die LSAP offenbar zu überzeugen. Gegenüber 2018 hat sie insbesondere in Steuerfragen ihr Profil geschärft. Eine Vermögenssteuer hatte sie damals nicht im Programm, die Überarbeitung der Steuertabelle ebenfalls nicht. In seiner Analyse der Wahlprogramme hatte der OGBL am Dienstag nur wenig an seinem historischen Alliierten auszusetzen. Sowohl in der Steuerpolitik als auch bei der Arbeitszeitverkürzung oder im Wohnungsbau verteilt die Gewerkschaft eher gute Noten an die Sozialisten. Lediglich beim Kollektivvertragswesen bemängelt der OGBL, dass die LSAP die von ihm geforderte Gesetzesreform nicht in ihr Programm aufgenommen hat. Arbeitsminister Georges Engel hatte Anfang des Jahres beim Forschungsinstitut Liser eine Studie über die Tarifverträge in Auftrag gegeben, die er eigentlich noch vor den Wahlen vorstellen wollte (d‘Land, 17.02.23). Inzwischen hat er seine Meinung geändert, weil das ihm als „Wahlkampfaktion“ ausgelegt werden könne, meinte Engel am Dienstag gegenüber dem Land. Das Mouvement écologique attestiert der LSAP in seiner Analyse der Wahlprogramme, die Bedeutung einer Transition grundsätzlich erkannt zu haben, vermisst aber noch konkrete Maßnahmen zur Umsetzung.

Als Taina Bofferding am Dienstagabend auf der Table Ronde im Escher Stadttheater vom Tageblatt-Journalisten Sidney Wiltgen gefragt wurde, welchen Spitzenkandidaten sie wählen würde, wenn sie ihrer eigenen Partei keine Stimme geben dürfte, antwortete sie Sam Tanson. Und Meris Sehovic, Ko-Spitzenkandidat der Grünen im Süden, sprach sich für Paulette Lenert aus. Da es am 8. Oktober für eine rot-grüne Koalition jedoch nicht reichen wird, braucht die LSAP einen stärkeren Partner, wenn sie weiterhin „dabei“ sein will.

Unberechenbar Lange Zeit hatte es innerhalb der Partei eine Vorliebe für eine Koalition mit der CSV gegeben. Weil die DP arbeitsrechtliche Reformen blockierte und die Sozialisten bei der großen Steuerdebatte im Juli 2022 Gemeinsamkeiten mit den Christsozialen entdeckte. Seit die CSV Luc Frieden zum Spitzenkandidaten ernannt hat, scheint es aber vermehrt Vorbehalte gegenüber einer Zusammenarbeit zu geben. Obwohl nach den Gemeindewahlen in vielen Südgemeinden schwarz-rote Bündnisse geschmiedet wurden und es auch auf nationaler Ebene durchaus programmatische Überschneidungen gibt, gilt Frieden manchen Sozialisten als zu unberechenbar. Dass er bereit wäre, auf das Premierministeramt zu verzichten, wenn die CSV wieder in die Regierung kommt (d’Land, 22.06.23), daran glaubt in der LSAP kaum jemand.

An Luc Frieden scheint sich ein Generationenkonflikt innerhalb der LSAP zu entzünden. Zwischen denen, die bereits vor 2013 mit der CSV in einer Koalition beziehungsweise in der Regierung waren, und denen, die 2017 für eine Erneuerung der Partei plädierten. Für die jüngeren Sozialisten, die den Minister Luc Frieden nicht mehr kennen, hat Max Leners, Generalsekretär der Fondation Robert Krieps und Kandidat im Südbezirk, vergangene Woche eine Fibel herausgegeben, in der er dessen politische „Verfehlungen“ noch einmal in Erinnerung ruft. In der LSAP sind darüber nicht alle glücklich, Leners musste sein Heft unter seinem eigenen Namen veröffentlichen, die Partei wollte damit nicht in Verbindung gebracht werden. Allerdings kann Leners eigenen Aussagen zufolge auch auf Unterstützer innerhalb der Partei zählen, darunter der noch einflussreiche EU-Kommissar Nicolas Schmit. Sollte die LSAP Koalitionsverhandlungen mit der CSV aufnehmen, müsste das Resultat von einem Kongress abgesegnet werden. Unklar ist, wie die Parteibasis sich dazu positionieren würde.

Doch auch mit der DP könnten Koalitionsverhandlungen schwierig werden. Im Duell mit Paulette Lenert im RTL Radio sagte Xavier Bettel am Dienstag, als es um die Arbeitszeitverkürzung ging: „Ech kennen Iech Madamm Lenert, mee ech kennen och Är Partei“. Bettel lehnte nicht nur kürzere Arbeitszeiten, sondern auch die Einführung einer Vermögenssteuer (ab 2,6 Millionen Euro) ab, mit dem Argument, sie sei eine versteckte Erbschaftssteuer. Am Ende wurde der Premierminister sogar zynisch, als er behauptete, er habe den Eindruck, „et misst ee sech bal schummen, e Verméigen opzebauen“. Die Jungsozialisten stellten Xavier Bettel am Mittwoch in einer Reaktion auf seine Aussagen die rhetorische Frage: „Wann een sech net soll schumme well een eppes huet, muss een sech da schummen wann ee näischt huet?“

Insgesamt konnte Paulette Lenert in der vorletzten Wahlkampfwoche wohl punkten. Nicht nur im Face à Face mit Xavier Bettel, auch weil sie die Einladung zur Privatfeier des Baulöwen Marc Giorgetti, anders als ihr Vorgänger Etienne Schneider und manche ihrer Kontrahent/innen von CSV und DP, nicht annahm. Inwieweit der Lenert-Effekt auf die wichtigen Wahlbezirke Süden und Zentrum ausstrahlt und den Sozialisten Listenstimmen beschert, wird sich in einer Woche zeigen.

Augenzwinkern Mit ihren 55 Jahren steht Paulette Lenert wie kaum eine andere für die Erneuerung der LSAP. Es ist vielleicht nicht die Erneuerung, die Taina Bofferding, Franz Fayot und ihre Mitstreiter/innen sich nach der Niederlage bei den Gemeindewahlen von 2017 gewünscht hatten. Alex Bodry zieht weiter im Hintergrund die Fäden; Jean Asselborn, Mars Di Bartolomeo und Claude Haagen kandidieren am 8. Oktober erneut und dürften auch gewählt werden. Schwieriger könnte es für die Generation hinter ihnen werden. Politiker wie Yves Cruchten oder Tom Jungen und selbst Georges Engel und Dan Biancalana übernahmen zwar in den vergangenen Jahren Verantwortung in der Partei, konnten sich aber bislang nie richtig durchsetzen. Konkurrenz bekommen sie von jungen Kandidat/innen, die sich bei den Gemeindewahlen bewiesen haben.

Die meisten von ihnen dürften eine Fortführung der blau-rot-grünen Koalition einem Bündnis mit Luc Friedens CSV vorziehen. In dieser Konstellation wäre die Wahrscheinlichkeit, dass Paulette Lenert tatsächlich Luxemburgs erste (sozialistische) Premierministerin wird, wahrscheinlicher. Xavier Bettel beteuert zwar bei jeder Gelegenheit, wie motiviert er sei, Luxemburg noch weitere fünf Jahre zu regieren, doch bei öffentlichen Auftritten wirkte er zuletzt manchmal müde und gereizt. Mehr als jeder andere Spitzenkandidat hatte er sich schon im Gemeindewahlkampf verausgabt. In acht Monaten sind Europawahlen, eigenen Aussagen zufolge sei ihm bereits mehrmals ein Top-Posten in der EU angeboten worden, unter anderem der des EU-Ratspräsidenten, der ebenfalls im Juni neu besetzt wird.

Wenn Paulette Lenert Premierministerin wird, dürfte Jean Asselborns politische Karriere indes beendet sein. Traditionell geht das Außenministeramt in einer Koalition an den (ersten) Juniorpartner (der in den vergangenen 40 Jahren fast ununterbrochen die LSAP war). Dass Asselborn ein anderes Ressort übernimmt, ist äußerst unwahrscheinlich. Nach seiner Impulsrede bei der Tagung der Volks- und Raiffeisenbanken in Frankfurt berichtete er auf Facebook, beim Verlassen der Jahrhunderthalle habe ihn „en héiche Steierexpert“ begleitet, den er gefragt habe, ob er auch der Meinung sei, dass eine Vermögenssteuer der Anfang einer Erbschaftssteuer sei. Der Steuerexperte habe ihn „bekuckt wéi wann ech vum Mount kéim...an huet mech zréck gefrot wien dann esou eppes behaapte giff“. Asselborn habe ihm geantwortet, das sei nicht wichtig, weil in Luxemburg gerade Wahlkampf sei. Mit einem Augenzwinkern schloss der Außenminister seinen Beitrag ab.

Luc Laboulle
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