Iness Chakir (Déi Gréng), Pierre Turquin (Déi Lénk) und Jeff Steichen (Fokus) gehen zum ersten Mal wählen – und haben bei der Gelegenheit gleich selber kandidiert. Drei Kurzporträts

„Püree, sinn ech do representéiert?“

Iness Chakir  (Déi Gréng)
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 29.09.2023

Opposition Dass die Schuldirektion des Lycee Ermesinde das Smartphone-Verbot einfach durchgeboxt hat, fand Pierre Turquin nicht in Ordnung. Der 18-jährige Kandidat für Déi Lénk findet, man hätte viel stärker mit den Schüler/innen debattieren sollen, da sie diejenigen sind, die mit den neuen Richtlinien weiter arbeiten müssen. Man merkt: Wenn er eine Meinung hat, tut er sie kund. Als wir Pierre Turquin an einem sonnigen Montagnachmittag treffen, kommt er gerade aus dem Ermesinde in Mersch. Dass der Primaner seit sieben Jahren ­den zwanzigminütigen Pendelweg aus Luxemburg-Stadt in Kauf nimmt, liegt daran, dass die Pilotprojekt-Schule für ihn „Liebe auf den ersten Blick war“. Auf seinem blauen T-Shirt ist ein „Fahrradalphabet“ abgebildet, von A wie Achse über P wie Pedale bis X wie X-Rahmen, das schulterlange braune Haar trägt er zu einem Knoten zusammengebunden.

Seine französischen Eltern ließen sich 2005, seinem Geburtsjahr, in Luxemburg nieder. Das gesellschaftliche Engagement hat er von ihnen übernommen, sagt er: Sein Vater ist in der Transition-Szene aktiv, seine Mutter in der Umweltbewegung. Er spricht selbstbewusst über seine politischen Ambitionen; war er beim Gemeindewahlkampf noch Militant, beschloss er danach kurzerhand, selber zu kandidieren. Die Partei hatte für den Zentrumsbezirk noch nach Freiwilligen gesucht. „Ich habe gedacht: Hey, warum nicht?“ Ein 18-Jähriger, der fürs Parlament ins Rennen geht, das gibt es kaum. Und im Gegensatz zu Frankreich sei es viel schwieriger, alleine, also ohne Partei Politik zu machen. Es ist die Klimakrise, die sein politisches Bewusstsein erwacht hat, sagt Turquin. Er war bei Youth for Climate (YCL) aktiv; auf den Demos hatte er allerdings das Gefühl „gegen eine Wand zu schreien“. Wenn es technischer wird oder er das Gefühl hat, er findet die passenden Worte nicht, schaltet Turquin auf Französisch um. „Les jeunes sont notre avenir, écoutons-les!“, ruft er und wirft die Hände in die Luft. Was macht er aus den Schwierigkeiten, die seine Partei dabei hat, einen kohärenten Standpunkt zum Ukrainekrieg zu finden? Er zögert. Dann nimmt er die Schutzschale vom Handy. Unter dem Déi Lénk-Sticker befindet sich eine Karte mit einem Verweis auf das anti-russische-Propaganda-Internetmeme der „Nafo“ („North Atlantic Fella Organisation“). „Ich bin pro Ukraine, pro Nato und für weitere Waffenlieferungen“, entgegnet er schlussendlich.

Andere Themen wie die „Faschisierung Europas“ und die damit einhergehende Gefährdung der Demokratie treiben ihn um. „L’Europe ne doit pas se replier sur elle-même“: Dass Menschen weiter Golf spielen, während Flüchtlinge an meterhohen Zäunen scheitern, um sich ein besseres Leben aufzubauen, kann er nicht nachvollziehen. Den großen Parteien wirft er vor, ihren Zweck und ihre Werte verraten zu haben. Die Grünen hätten sich als Regierungspartei auffressen lassen. Dass die Linke mit großer Wahrscheinlichkeit weiter in der Opposition bleibt, sich zumindest in Teilen auch nicht als mögliche Regierungspartei, sondern als Alternative zum System zeigt, stört ihn nicht. Man könne auch dort viel bewirken, vor allem, wenn man gestärkt hervorgehe. „Wichtig ist uns, die beiden Sitze zu behalten, um die kleinen Leute zu repräsentieren.“

Ein politisches Vorbild hat Pierre Turquin nicht: „Ich gehe meinen Weg, ich mache meins.“ Wobei, gute Ideen von anderen könne man durchaus kollektivieren – und Greta Thunberg ist auch ganz gut. Seit 3 000 Jahren seien junge Menschen anscheinend faul, da sei es erstaunlich, dass wir als Spezies immer noch existierten, sagt er. Nun muss seine Generation metaphorisch die Mülleimer ihrer Großeltern saubermachen – die, wie er findet, die Warnungen aus ihrem Umfeld nicht ernst genug genommen haben. Auch wenn er eigentlich an eine Veränderung des Systems glaubt, fühlt er in sich selbst, dass die Hoffnung langsam weniger werde. Die linken Bewegungen werden derzeit europaweit eher geschwächt – wird zu sehr auf Identitätspolitik gesetzt? Geschlecht ist ein totales Konstrukt und soziale Gerechtigkeit nur möglich, wenn es keine Diskriminierung gegenüber Menschen gibt, die anders sind, antwortet er. „Hey, niemand ist eine 1:1 Kopie!“ Er hat vor, in Freiburg oder Wien Geschichte zu studieren, hin zum Doktorat, und später in Luxemburg Sekundarschullehrer zu werden.

Insgesamt 22 Kandidat/innen zwischen 18 und 24 Jahren finden sich auf den diversen Listen wieder, von insgesamt 649. In den großen Parteien ist diese Alterskategorie praktisch nicht vertreten, zu groß scheint dort offenbar der Zulauf. Mit sieben sehr jungen Kandidaten liegt Fokus Gen-Z-mäßig vorne, gefolgt von Déi Lénk, die fünf auf ihren Listen haben. Von den großen Parteien haben allein die Grünen eine Kandidatin, die 20 Jahre alt ist.

Pragmatismus Iness Chakir erscheint etwas verspätet zum Termin. Sie entschuldigt sich, sie kenne sich in Luxemburg-Stadt nicht besonders gut aus, sie sei immerhin stolze Düdelingerin, „seit drei Generationen wohnen wir dort“, sprudelt es aus ihr heraus. Sie ist mit ihrem Tretroller und dem öffentlichen Transport angereist. Auf ihrem schwarzen Blazer trägt sie einen Pin von Déi Gréng. „Ich versuche immer, eine Botschaft zu versenden“, sagt sie mit einem Lächeln. Die junge Politikerin, deren Vater Marokkaner und Mutter Portugiesin ist, hat Erfahrung damit, andere Menschen von ihren Ideen zu überzeugen. 2018 gründete sie die Asbl Aidons-tous-solidarité, mit der sie diesen Sommer nach Südafrika gereist ist, um ein humanitäres Hilfsprojekt zu vollenden. (Sie habe ausgerechnet, dass eine Reise über Land mehr Co₂ ausgestoßen hätte als ein Direktflug.) Sie stellt fest, dass der soziale Sektor existiert, um politische Versäumnisse aufzufangen – das ist der Grund, warum sie sich nun parteipolitisch engagiert.

Die erste Präsidentin des Jugendparlaments, die man, wäre das Wort weniger abgenutzt, zielstrebig nennen könnte, kennt die Strukturen: Iness Chakir war ebenfalls Jugenddelegierte bei den Vereinigten Nationen in New York und Genf. „Die beste Erfahrung ihres Lebens“, nennt sie diese Zeit, auch wenn die Arbeit in den Institutionen weniger konkret war, als jene für die Gemeindewahlen, wo verkehrsberuhigte Zonen und sozialer Wohnungsbau im Vordergrund stehen. Im Juni wurde sie in ihrem Heimatort Zehntgewählte. Im Gegensatz zu Pierre Turquin hat Iness Chakir vor, das System von innen zu verändern, sie will „Teil der Geschichte sein, die vor ihr begonnen hat und auch nach ihr weitergehen wird“. Die politischen Glaubenssätze hat sie gelernt und erklärt enthusiastisch, allein die Grünen könnten realen Klimaschutz umsetzen. Allerdings seien Kompromisse „Teil vom Spiel“, die Versäumnisse als Regierungspartei müssten „analysiert werden“. Dann blitzt eine andere Iness Chakir auf: „Ech si ganz cash, ech soe wat ech denken. Wann ech ChamberTV umaachen, soen ech mer, Püree, sinn ech do representéiert?“ Manche Abgeordnete hätten null Ahnung, wie es den Menschen draußen überhaupt ginge, so wolle sie auf keinen Fall werden. Dass sie eine junge Frau mit Migrationshintergrund ist, habe sicherlich auch dazu geführt, dass sie nun auf einer nationalen Liste steht – aber allen voran ihr Engagement. Auf einige Fragen antwortet sie: „Das ist eine gute Frage.“ Und fügt lachend hinzu: „Mir wurde gesagt, ich soll das sagen, denn dann könne ich ein wenig Zeit schinden und überlegen.“ Etwa, wenn es um die Arbeitszeitverkürzung geht, die die jungen Grünen unterstützen, ein Thema, bei dem die Mutterpartei sich jedoch nicht richtig festlegen will. Sie habe mittlerweile Verständnis für die Position der Mutterpartei, da es einfach „Zeit brauche“, um solche Dinge zu verändern.

Dieses Jahr legt Iness Chakir parallel zur politischen Aktivität ihr International Baccalaureat ab, aber digital, von zuhause aus – sonst würde alles nicht mehr unter einen Hut passen. Im Anschluss daran möchte sie Internationale Beziehungen studieren, was „sicher viele weitere Türen öffnen“ wird, sowohl in den sozialen als auch den politischen Arenen. Die Abgeordnete Jessie Thill findet sie „mega cool“, weil sie als junge Frau den Konflikt nicht scheut und „cash“ sagt, was sie denkt.

Bodenständigkeit Während Déi Lénk und Déi Gréng Jugendsektionen aufgebaut haben, wurde Fokus erst im Februar 2022 gegründet und konnte dementsprechend für diesen Wahlkampf darauf achten, junge Kandidat/innen auszuwählen. Wie Jeff Steichen, 19 Jahre alt, fast zwei Meter groß und stämmig, trägt ein Tommy Hilfiger-T -Shirt. Auch er verspätet sich, auf den Mangel an Parkplätzen in der Stadt war er nicht vorbereitet. Zum letzten Mal war er für die Schueberfouer zu Besuch, üblicherweise kommt er nur zwei bis drei Mal im Jahr in die Stadt. In Ettelbrück geboren und in Dellen, einem kleinen Dorf der Gemeinde Grosbous-Wahl aufgewachsen, hat er die Ackerbauschule im Mai dieses Jahr abgeschlossen. Schon im letzten Jahr der Grundschule war für ihn klar, dass er eines Tages den Bauernbetrieb seines Vaters übernehmen wird. Über die Jugendjahre hat er immer mehr Verantwortung übernommen, nun ist er fest angestellt. 500 Milchkühe werden betreut und 950 Hektar Ackerfläche bewirtschaftet, zum Teil auch in Belgien – der Betrieb sei einer der zehn größten im Land. „Ich wollte eigentlich nie etwas anderes“, sagt der Präsident des „Grupp Zuucht“ der Jongbaueren. Bis auf einen einmonatigen Aufenthalt in Dänemark für ein Praktikum – er plant ein weiteres zwei- bis dreimonatiges im Winter, entweder in Kanada oder Australien – hat er noch keine Zeit im Ausland verbracht.

Das politische Bewusstsein hat sich bei ihm langsam entwickelt, als er mit seinem Großvater die satirische Heute-Show geschaut hat, erzählt er. Man habe ihm erklärt, die Familie sei „CSV“, und dann wäre da noch „de Goerense Charel“ der DP, den man wählen solle, der ebenfalls Landwirt war. Jeff Steichens Schwester Anne Steichen ist die jüngste Kandidatin der CSV, und an diesem Abend werden die Geschwister gemeinsam zu einer Wahldebatte fahren, für verschiedene Parteien an einem Tisch sitzen und diskutieren. Laut der Wahlempfehlung von Smartwielen landet seine Schwester für Jeff Steichen auf Platz zehn. „Unsere Grundwerte unterscheiden sich kaum.“ Wäre die logische Wahl demnach nicht die CSV gewesen? Die Gestaltungsmöglichkeiten, die der junge Kandidat insbesondere beim Wahlprogramm hatte – die Seite zur Landwirtschaft im 43-seitigen Programm stammt von ihm –, hätte er in den Hierarchien der Volkspartei nicht wahrnehmen können. Die ADR findet er zu populistisch, „dat ass net menges.“ Vor knapp einem Jahr meldete Jeff Steichen sich dann für den Newsletter von Fokus an und wurde anschließend vom Gründungsmitglied Marc Ruppert kontaktiert. Weil er den Eindruck nicht los wird, dass niemand sich ordentlich für die Landwirtschaft engagiert, macht er es selbst. Ihm schweben etwa eine bessere Nutzung von Biogasanlagen, also die Nutzung der Kuh-Fäkalien, vor. Eine vierspurige N7 müsse her, und eine Dezentralisierung, damit Luxemburg-Stadt vom Verkehr entlastet werde.

Worin aber sieht er die größte Herausforderung seiner Generation? „Es ist keine klare Richtung mehr vorgegeben für viele. Für mich wäre es sicherlich auch schwieriger, wenn ich in der Stadt aufgewachsen wäre.“ Früher habe der Mann beispielsweise eine klarere Rolle erfüllt, nämlich die Familiengründung. Menschen, die ein Handwerk erlernen, hätten es einfacher, als jene, die ein Studium einschlagen. Jeff Steichen nimmt sich manchmal zurück, wenn er etwas sagt. Formuliert es um, zeigt sich vorsichtig. Heute müsse man wegen Social Media durchaus aufpassen, was man sagt, denn vieles würde aufgebauscht. Er achtet darauf, was er auf Facebook teilt. Es dauert nicht lange, bis die „grüne Verbotspolitik“ Gesprächsthema wird. „Dat hunn d’Baueren nit gär“, erklärt er, auch wenn er weniger anti-grün sei als andere. Und fügt hinzu, die Grünen hier litten an der Regierungsbeteiligung der Grünen in Deutschland. Französische Politik verfolgt er kaum – wenn er morgens die Kühe füttert, hört er die Tagesthemen. Als politisches Vorbild nennt er den ehemaligen Bürgermeister von Bitburg, Joachim Streit, der konservativen Partei Freie Wähler. Bereiten ihm Attacken, wie jene in seiner Gemeinde, wo jemand auf ein Plakat der grünen Spitzenkandidatin Sam Tanson schoss, Sorgen? Er sympathisiere nicht mit der grünen Partei, toleriere aber so etwas nicht. Und würde Fokus die ADR als Koalitionspartner „tolerieren“? Jeff Steichen hält inne. „Ich kann diese Partei nicht einschätzen – ich weiß nicht, ob sie sich später doch nicht an Koalitionsvereinbarungen halten würde, wie die FDP es in Deutschland gerade tut. Und das würde dann zu einer noch größeren gesellschaftlichen Spaltung führen.“ Seine persönliche Errungenschaft sei in jedem Falle, dass seine Ideen in das Programm einer Partei eingeflossen seien, die eine reelle Chance auf ein bis zwei Sitze im Parlament habe.

Sarah Pepin
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