Der Deutsche Bund war von 1815 bis 1866 eine mitteleuro-
päische Staatenallianz mit einer gemeinsamen militärischen Verteidigungskomponente, dem Bundesheer. An ihm musste sich auch das Großherzogtum mit einem Kontingent beteiligen. Auf das Ende des Deutschen Bundes folgte die Luxemburger Neutralität nach der Londoner Konferenz von 1867. Dort vereinbarten die damaligen Großmächte in erster Linie, ihre Interessen an Luxemburg zu „neutralisieren“, das heißt, das kleine Land nicht annektieren zu wollen und als Pufferstaatlösung zu akzeptieren.
Während der langen Friedensperiode nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1871 betrieb die Luxemburger Regierung dann ihrerseits eine systematische „Selbstneutralisierung“, die sich als militärpolitisch bündnisfrei und demilitarisiert verstand, beschützt durch Garantieerklärungen. Eine völkerrechtliche Fiktion, die selbst unter dem deutschen Besatzungsregime des Ersten Weltkrieges aufrecht zu erhalten versucht wurde, sowohl von Luxemburger Seite als auch von der kaiserlich-deutschen. Die Besetzung durch deutsche Kontingente ging 1918 nahtlos in die ebenfalls völkerrechtlich fragliche Präsenz der Entente im Großherzogtum über, darunter mit französischen Truppen bis Ende Dezember 1923. Aus dieser Situation heraus wurde in der Abgeordnetenkammer am Krautmarkt eine Debatte über die Zukunft der Luxemburger Force armée (1881-1940)1 angestoßen, die ungeklärt, und von ihren starken Gegenpositionen bestimmt, die gesamte Zwischenkriegszeit dahinschwelen sollte. Im Staatshaushalt schlugen die Ausgaben für Sicherheit während der Zwischenkriegszeit mit durchschnittlich ein bis 1,5 Prozent auf der Ausgabenseite zu Buche.
Zur Debatte nun eine Collage aus dem Parlaments-Stenogramm der frühen 1920er-Jahre in mitunter vertraut klingender Tonlage der dramatis personae (die in einem Kasten auf S. 11 aufgelistet wurde). Die Collage beginnt am 13. Februar 1920.
„M. Krier. Es ist ja kein Krieg mehr! Wozu brauchen wir Soldaten?
M. Reuter, Ministre d’État. Es gab Gelegenheit, wo Sie selbst sehen konnten, warum wir Soldaten brauchen.“2
In einer darauffolgenden Sitzung am 26. Februar 1920 zum selben Thema befürwortet der christliche Gewerkschafter Nicolas Jacoby gegenüber der Linken die Präsenz der Franzosen als notwendige Sicherheitsgarantie für Luxemburg – trotz des Verstoßes gegen das Neutralitätsgebot.3 Die Diskussionen bezogen sich dabei immer wieder auf die damaligen Streikbewegungen; den Versuch, die Monarchie zu stürzen und auf den Schrecken des Sowjet-Bolschewismus in Russland, der vor allem den Konservativen in den Knochen steckte.
„M. Jacoby. Wenn also die Anwesenheit der französischen Soldaten demütigend und entwürdigend ist, wie ihr angebt, so könntet ihr euch schämen bis ins Innerste hinein, durch ihre drohenden Gebärden in Kammer und Presse, durch ihre Umsturzgedanken, die Zurückhaltung [im Sinne von Intervention, Anm.d.Ver.] der französischen Soldaten zu Notwendigkeit, ja zur Pflicht gemacht zu haben.
M. Blum. C’est le renversement des responsabilités.
M. Erpelding. Sie schaffen gegen die Interessen des Volkes. Sie sind ein hundsgemeiner Betrüger.
M. Krier. Sie sind Arbeiterverräter.
[…]
M. Jacoby. Hr. Herschbach hat erklärt, daß ihm die Ausführungen des Hrn. Staatsministers über die Miliz nicht gefallen und er sei Gegner derselben. Ja, es ist leicht sich jetzt Lorbeeren auf diesem Gebiet nehmen wollen, obgleich keine in der Frage zu nehmen sind, denn soweit ich die Stimmung im Land erkenne, wird die Miliz sehr sympathisch aufgenommen.
M. Erpelding. Du Fatzbeidel do!
[…]
M. Erpelding: Man fordert bei der Auspowerung des Volkes noch den Blutzoll, das Militär, das können Sie nicht ableugnen. [Wir müssen die] ausgepowerten Knochen unsers Volkes wieder in Ordnung zu bringen.4
[und]
Wir beweisen der Welt, daß wir ihr gute Dienste leisten, ohne Militär und ohne eine Miliz. […]
Ohne Zwang und ohne Drill haben die luxemburger Brüder annähernd 4 000 Soldaten auf den Schlachtfeldern Frankreichs gestellt…
M. Aug. Thorn. Sind es schon 4 000?
M. Erpelding. … von denen 3 000 gefallen sind.
[…]
Halten wir eine Miliz, dann sind wir in der Lage, mit in den Krieg zu ziehen. M. Blum. Ganz richtig! Gezwungen!“
François Erpelding spielt hier auf die Kriegsfreiwilligen an, die in den Marschregimentern der französischen Fremdenlegion, also nicht mit den Söldnertruppen, sondern jenen, die unter der Flagge und im Dienste Frankreichs für die Befreiung des Großherzogtums gegen die Deutschen an die Front geschickt wurden. Letzte Forschungsergebnisse gehen von 1 048 Luxemburger Legionären aus, von denen 274 im Zuge des Krieges ihr Leben lassen mussten.5 Bereits 1918 schlug René Blum als Beweis für Luxemburgs Engagement gegen die deutsche Besatzung die Auflage eines Goldenen Buches vor, das die Namen aller Luxemburger Freiwilligen ehren sollte.6 1923 erschien der Prachtband unter dem Titel Patrie. Le Livre d’or de nos légionnaires 1914-1918.
Die wehrlose, strikte Neutralität hatte Luxemburg trotz des Einsatzes der Freiwilligen in der fremden Armee nicht schützen können. Der Ministerpräsident schlägt deshalb vor: Das Land soll die Politik der strikten Neutralität aus der Ära von Staatsminister Paul Eyschen (1888-1915) ablegen; einer neuen, diesmal „globalen Version des Deutschen Bundes“, dem Völkerbund (League of Nations/Société des Nations) beitreten und dessen militärische Interventions- und politisch-wirtschaftliche Sanktionsmöglichkeiten unterstützen.
Sitzung vom 12. November 1920:
„M. Reuter, Ministre d’État. A l’heure qu’il est la Société des Nations représente le seul organisme capable d’assumer la garantie de notre indépendance, qui a été reconnue par les Puissances étrangères, et la sauvegarde de notre sécurité. […] Une neutralité luxembourgeoise non garantie par les puissances étrangères, c’est-à-dire par la Société des nations et non défendue par des forces militaires, c’est une chimère, un non-sens.
[…]
M. Erpelding. Wir brauchen kein Militär. Das Militär ist nur da, um die Leute in Unglück und Not zu stürzen. […] Unser Volk steht auf einer Bildungsstufe wie kein andres Volke. Wir waren glücklich, daß wir militärfrei waren, […]. Wir sind zufrieden mit dem, was wir haben.
M. Dupong. Dann ist der Sozialismus auch überflüssig (Interruption de M. Krier. Bruits confus).“7
In der nächsten Parlamentssaison heizt François Erpelding am 9. Februar 1922 bei der Debatte um die Militärreform die Stimmung nochmals an:
„M. Erpelding: Wir stehen vor der Gefahr, daß das Luxemburger Volk militarisiert wird und wir müssen das Land darauf hinweisen. [I]ch fordere das Luxemburger Volk auf, gegen diese Versklavung und Knebelung Front zu machen. (Très bien! Sur le banc socialiste.)
[…]
M. Dupong, rapporteur. Ainsi que l’hon. Ministre d’État vient de le dire, nous avons intérêt à entrer dans la ligue des Nations, en attendant une meilleure garantie de notre indépendance. […] La Ligue des Nations est une création de droit international absolument nouvelle, qui n’est pas entrée dans les prévisions des constituants de 1868, de sort que la conception de notre neutralité n’exclut en aucune façons une idée de neutralité vis-à-vis d’une conception, d’une construction juridique absolument nouvelle, qui vient seulement de voir le jour. […] De sorte que nous n’avons en aucune façon besoin de renoncer à notre neutralité pour pouvoir entrer la Ligue des Nations. Nous ne sommes pas neutre vis-à-vis de la Ligue des Nations, c’est évident, amis nous resterons neutres, comme par le passé, vis-à-vis de tous les États qui nous entourent, de la même façon que nous l’avons été jusqu’ici sous le régime de notre Constitution.
[…]
M. Reuter, Ministre d’État. Il est élémentaire qu’un pays qui prétend entrer dans la grande famille des Nations civilisées, s’acquitte de ce devoir (Très bien ! à droite).«
Diesen Zusammenhang will Michel Welter nicht einsehen.
„M. Welter. [O]n veut nous militariser (Allons donc ! à droite). [L’]’ambition de figurer dignement dans la Société impérialiste qui se prépare ou qui voulait se préparer (Murmures à droite).
[…] avec ces grandes Puissances qui ne rêvent que conquête, batailles et combats (Rires à droite).
M. Aug. Thorn. C’est du roman.
M. Welter. Il faut que tout le monde sache que le Grand-Duché de Luxembourg continuera comme par le passé à se passer de militaires, à se passer d’une armée, et à vivre tranquillement et paisiblement à l’ombre de sa neutralité, comme il a vécu jusqu’à ce jour.
M. Aug. Thorn. Quelle imagination!“8
Auch die Radikalliberalen blieben bei Ihrer Ablehnung und bestritten den Zusammenhang von Militär und Neutralität sowie bewaffnete Neutralität als Grundvoraussetzung für den gesicherten völkerrechtlichen Status des Großherzogtums. Der Unternehmer Nicolas Ludovicy aus Larochette witterte am 1. Februar 1924 sogar die Gefahr eines Militärputsches:
„M. Ludovicy: Wir brauchen keine Soldaten zu Parade- und Kriegsspielen, keine Ball- und Hofoffiziere. Wir geben unsere Volontaires nicht her zur Befriedigung unnützer Paraden und sonstigem Spielzeug. Unsere Kaserne soll eine Schule sein zur Ausbildung künftiger Männer der Ordnung, von Sicherheitsorganen und Verwaltungsbeamten. […]
Unserm Offizierskorps wird so ein weites Feld geschaffen, nach verschiedenen Richtungen hin sich zu orientieren und zu spezialisieren, um dasselbe in steter Arbeit zu erhalten, so es Hr. Decker zu wünschen scheint. […]
In den südlichen Ländern wie in Portugal z.B. könnte eine geschlossene Militärkraft von 30 Offizieren und 1 700 Mann scharf bewaffneter Kerntruppen sich leicht zu Pronunciamentos verleiten lassen.“9
„Pronunciamient“ stand in der hispanischen Welt für den Aufruf eines hohen Offiziers, gegen die Regierungspolitik des Landes aufzutreten. Ein Aktionismus, der meist von einer militärischen Drohung (Truppenaufmarsch) begleitet wurde, aber nicht zwangsläufig zu einem Sturz der Regierung führen, also mit einer Militärjunta enden musste.
Am nächsten Sitzungstag bringt Staatsminister Émile Reuter seine Position bezüglich der geänderten Realität der Luxemburger Neutralität nochmals auf den Punkt:
„M. Reuter, Ministre d’État. En effet, depuis la naissance de la Société des Nations, le terme de ‘neutralité’ n’a plus le même sens qu’il avait avant la guerre, avant la création de ce nouvel organisme international qu’on appelle la ‘Société des Nations’. [L]a neutralité stricte, telle qu’elle avait été conçue avant la guerre, ne permet pas le passage de troupes sur le territoire neutre, même des troupes de la Société des Nations.“10
Und das widersprach den Plänen der Regierung – dass Luxemburg sich im Auftrag des Völkerbundes an der Entsendung von Friedenstruppen beteiligen beziehungsweise Durchmarsch/Versammlung solcher Truppen auf Luxemburger Territorium zu gestatten. Das Großherzogtum wurde, unter teilweise kuriosen formalrechtlichen Umständen, zum Völkerbundmitglied. Für Reuter, später Bech und Dupong, stand aber weiterhin die Glaubwürdigkeit des Großherzogtums auf dem Spiel. Schluss-
endlich versandete auch die Debatte und Luxemburg behielt den Status seiner Selbstneutralisierung bei – bis zum Westfeldzug der Deutschen Wehrmacht und der Besetzung der Beneluxstaaten („Fall Gelb“) ab 10. Mai 1940.
Ein paar Jahre später trug im Zuge der Gründungsplanung und des Beitritts zur Nato die Luxemburger Politik in seltenem Einvernehmen aller Parteien, bis auf die Kommunisten, die Neutralität des Landes schließlich zu Grabe. Nachdem sich die geopolitischen Verhältnisse nach dem Korea-Krieg als Kalter Krieg stabilisiert hatten, war es auch das von den Nato-Partnern in relative Sicherheit eingebettete Luxemburg, das den verpflichtenden Militärdienst bereits 1967 wieder aufhob.
Gegenwärtig scheinen alte Garantievereinbarung zu erodieren und sich alte Bedrohungen im neuen Gewand zu realisieren, aber: Geschichte hat sich noch niemals wiederholt, nur gewisse Umstände scheinen sich zu ähneln, auf die dann entsprechend reagiert werden sollte. Ein Grundton schwingt auch in der gegenwärtigen Debatte immer mit: Frieden auf Luxemburgisch heißt in erste Linie, in Frieden gelassen werden zu wollen. Eine durchaus sympathische, aber nicht nachhaltige Wunschvorstellung.
Dramatis personae
Blum, René (1889-1967), Rechtsanwalt, Diplomat und sozialdemokratischer Abgeordneter für Esch/Alzette, später Minister für Justiz, öffentliche Arbeit und Verkehr in der Regierung Bech (1926-1937); Botschafter in Moskau (1944-1955).
Decker, Othon (1886-1963), Zahnarzt, parteiloser Abgeordneter für Echternach. In der kurzlebigen Regierung Prüm Minister für Sozialversicherung und Arbeit (1925-1926).
Dupong, Pierre (1885-1953), Mitbegründer der Rechtspartei/Parti de la droite, der späteren CSV; Rechtsanwalt, 1936 Finanzminister und ab 1937 Staatsminister und Chef der Luxemburger Exilregierung (1940-1944) in London.
Erpelding, François (1879-1961), Eisenbahner, sozialdemokratischer Abgeordneter für Ettelbrück, fiel 1944 einer innerparteilichen Säuberung zum Opfer und zog sich daraufhin aus der Politik zurück.
Herschbach, Bernard (1891-1978), Versicherungsangestellter, konservativer Abgeordneter für Consdorf; später langjähriger Präsident des Luxemburger Kleintierzüchterverbandes.
Jacoby, Nicolas (1878-1960), Tischer, Eisenbahnangestellter und christlicher Gewerkschafter aus Brandenburg.
Krier, Pierre (1885-1947), sozialdemokratischer Abgeordneter für Esch/Alzette, Redakteur; 1937 Arbeitsminister in der Regierung Dupong-Krier als erster sozialistischer Minister in einer Luxemburger Regierung überhaupt.
Ludovicy, Nicolas (1861-1947), Spinnerei- und Färbereibesitz, Bürgermeister von Larochette; zuerst auf der Wählerliste des Parti radical-socialiste; dann Wechsel zur Ligue libérale, dann in den 1930er Jahren zum Parti radical-libéral.
Reuter, Émile (1874-1973), Gründungsmitglied der Rechtspartei/Parti de la droite, der späteren CSV; Staatsminister und Generaldirektor für Außenpolitik und Inneres (1918-1925).
Thorn, Auguste (1873-1948), christlich-liberaler Abgeordneter für Luxemburg-Stadt, Rechtsanwalt aus der gleichnamigen Politiker-, Industriellen- und Unternehmer-Dynastie.
Welter, Michel (1859-1924), Arzt und Mitbegründer des Parti social-démocrate/Parti socialiste/Parti ouvrier luxembourgeois, kurzzeitig Minister/Generaldirektor für Landwirtschaft, Industrie und Handel (1916-1917), verstarb an einem Hirnschlag.