Auf Sam Tanson warten als kommissarische Justizministerin einige Großvorhaben. Es zeichnet sich ab: Mancher Zeitplan wird zu eng

In heikler Mission

d'Lëtzebuerger Land du 13.09.2019

Bisher laufe alles nach Plan, so Romain Saget in Brüssel. Vom Ausfall des Luxemburger Justizministers hatte der Verantwortliche für Presseanfragen des Rats für Justiz und Inneres noch nichts gehört. Bis zum 8. Oktober, wenn das nächste Justizminister-Ratstreffen in Luxemburg ansteht, bleibt noch Zeit. „Normalerweise schicken sie dann einen Vertreter.“

Das ist, seit der großherzogliche Erlass am 6. September in Kraft getreten ist, Sam Tanson. Die grüne Wohnungsbau- und Kulturministerin hat das Ressort von ihrem, nach einem Herzstillstand weiterhin im Krankenhaus liegenden Parteikollegen Félix Braz „temporär“ übernommen. Das heißt: Sie entscheidet und unterzeichnet für ihn, leitet Arbeitsgruppen, sie fährt auf Ratstreffen nach Brüssel. Kurz: Tanson führt bis auf weiteres für Braz alle Geschäfte im Justizministerium.

Ob oder wann aus dem Provisorium eine Kabinettsumbildung wird, dazu wagt derzeit niemand eine Prognose: Abwarten, was die Ärzte sagen, lautet die Devise nach innen wie nach außen. Premierminister Xavier Bettel (DP), am vergangenen Freitag erstmals zu dem Unglück öffentlich Stellung nehmend, hatte in knappen, ernsten Worten mitgeteilt, Braz’ Zustand habe sich seit dem 27. August zwar stabilisiert. Er liege nicht mehr im Koma, sei bei „minimalem Bewusstsein“ und atme inzwischen selbstständig. Auf Spekulationen über die Zukunft wollte sich Bettel aber nicht einlassen.

Politikallltag geht weiter Während die Regierung also versucht, den tragischen Vorfall respekt- und rücksichtsvoll zu handhaben, geht der politische Alltag weiter. Laut Gesetz muss die Regierung binnen 15 Tagen Ersatz benennen, fällt ein Minister dauerhaft aus. Am vergangenen Freitag stattete Sam Tanson der neuen Wirkstätte bereits einen kurzen Besuch ab. Sich zu ihrer neuen Funktion selbst äußern möchte sie derzeit nicht. Die Atmosphäre, erzählen Insider, die beim Treffen dabei gewesen waren, sei gedrückt, aber gefasst gewesen. Der ernsthafte und gründliche Braz genießt im Justizministerium breite Anerkennung. Anfang dieser Woche folgten Gespräche mit Zuständigen der Fachabteilungen: Das Ressort umfasst neben den Rechtsdezernaten auch die Organisation des Justizapparates und den Strafvollzug. Da das Ministerium unterbesetzt ist, wird überall mit Hochdruck gearbeitet. Das wird in den kommenden Monaten so bleiben: Egal, wie lange Tanson für die Justiz verantwortlich zeichnet; bei vielen Vorhaben drängt die Zeit und drücken Fristen.

Bei der Reform des Waffengesetzes bestimmt das Ministerium den Kalender nur bedingt: Dass die EU-Länder geltende Waffengesetze überprüfen und verschärfen sollen, sieht eine EU-Direktive von 2017 vor. Sollte sich Luxemburg bei der Umsetzung verspäten, riskiert es eine Geldstrafe. Tanson soll sich bereits eingelesen haben. Das Dossier gilt als delikat: Nachdem Waffenbesitzer und Sammler gegen das Vorhaben Sturm gelaufen waren, voll automatische Schusswaffen komplett schussunfähig zu machen, hatte auch der Staatsrat mit 18 Einwänden, die meisten wegen Verletzung der Persönlichkeits- und Eigentumsrechte, die geplante Verschärfung geradezu zerlegt. Braz musste nachbessern; die Arbeiten an den Änderungsvorschlägen sollen mittlerweile so weit fortgeschritten sein, dass der verbesserte Text bald der Justizkommission zur Begutachtung vorgelegt werden kann.

Justizausschuss pausiert vorerst Deren Mitglieder sind größtenteils aus den Ferien zurück, die Sitzungen der Ausschüsse beginnen diese Woche. Die ursprünglich noch für September geplante erste Zusammenkunft des Justizausschusses ist indes auf den 2. Oktober verschoben, Tagesordnung ungewiss. „Wir müssen schauen, wie die Vorbereitungen im Ministerium und beim Staatsrat laufen und werden dann unsere Prioritätenliste festlegen“, erklärt ihr Präsident, der grüne Abgeordnete Charles Margue, unter dem Eindruck des Geschehenen. „Es war uns als Grüne wichtig, dass Sam Tanson alle Befugnisse erhält, um das Ministerium vollwertig und sämtliche Arbeiten weiterführen zu können.“

Viel Atempause ist ihm nicht vergönnt, denn die Opposition – allen voran die CSV – steht in den Startlöchern und hält beim Datenschutz den Druck aufrecht. Die CSV-Abgeordneten Laurent Mosar und Gilles Roth haben weitere parlamentarische Anfragen zu den Polizeidatenbanken vorgelegt. Die fallen zwar in den Kompetenzbereich des Polizeiministers. Ein schwer mitgenommen wirkender François Bausch hatte Anfang vergangener Woche gegenüber RTL Radio angekündigt, die Überprüfung bestehender Rechtslücken beim Datenschutz sei bald abgeschlossen und ein erster Entwurf, der das polizeiliche Kameraüberwachungsprojekts Visupol rechtlich auf sichere Beine stellen soll, sei fast fertig.

Fingerspitzengefühl verlangt Die Datenschutzaffäre reicht über die Polizei hinaus bis in den Justizapparat. Wie es dort weitergeht, steht in den Sternen: Die Lösungssuche, darunter das Einziehen von präzisen Speicherfristen, gilt als schwierig, verlangt sie doch eine andere Datenschutzkultur, als sie bislang bei den Behörden vorgeherrscht hatte. Für Tanson ist das kein Spaziergang, sondern könnte zur Gratwanderung werden. Bausch betonte gegenüber RTL, die gelernte Juristin habe keinen Moment gezögert, für den verunglückten Braz einzuspringen und als kurzzeitige Präsidentin der Justizkommission und ehemalige Staatsrätin kennt sie den juristischen Fachjargon gut. Trotzdem muss sie sich in die Themen einarbeiten.

Dabei geht es nicht nur um die Lektüre von Texten, sondern auch darum, die Handschrift des Ministers, seine inhaltlichen Schwerpunktsetzungen zu verstehen. Von Braz, der sein Jurastudium an der Pariser Sorbonne nach einem Jahr abgebrochen hatte und in den Journalismus wechselte, wird gesagt, bei der Justiz und insbesondere der Generalstaatsanwaltschaft beliebt zu sein, weil er sie wiederholt vor Kritik von außen in Schutz genommen hat – was ihm wiederum Kritik von anderer Seite eingebracht hatte. Sam Tanson gilt als ebenso gründlich und beharrlich wie Braz, würde als ehemalige Anwältin vielleicht jedoch andere Akzente setzen. Ihr Spielraum ist aber, weil sie kommissarisch agiert, begrenzt. Keine einfache Aufgabe, da sie zudem ihre beiden anderen Ministerien, Kultur und Wohnungsbau, behält und sie in diesen Ressorts wichtige Neuorientierungen plant.

Schlüsselressort Das Justizressort lässt sich aber auf Dauer nicht nebenbei führen, denn es ist ein Schlüsselressort für mehrere Kernanliegen der Regierungskoalition. Etwa die geplante Legalisierung von nicht-medizinischem Cannabis-Konsum. Die Fäden des international viel beachteten Vorhabens hält zwar Gesundheitsminister Etienne Schneider (LSAP) in der Hand. Aber die Arbeitsgruppe, die das Mammutvorhaben rechtlich absichern soll, wird vom Justizministerium geleitet. Braz und Schneider hatten einen ehrgeizigen Zeitplan vorgesehen. Angesichts der Ereignisse scheint der Herbst als Termin, um dem Regierungsrat ein fertiges Konzept vorzulegen, nunmehr zu ehrgeizig. „Wir müssen uns vielleicht auf eine zeitliche Verschiebung einstellen, hoffen aber, das Konzept vor Ende des Jahres vorstellen zu können“, heißt es dazu aus dem Gesundheitsministerium.

Auch der Drogenbeauftragte Alain Origer, den das Land in Brüssel kontaktierte, ist vorsichtig. Das Konzept bilde „den Auftakt“, auf den „weitere Schritte folgen“. Dazu zählen Gesetzestexte, die noch geschrieben werden müssen, aber auch Beratungen mit und Vorbereitungen in anderen Ministerien, wie dem Bildungsministerium, das sich um die schulische Prävention kümmert. Und dann ist da noch die politische Opposition, die sich bislang mit Kritik zurückhält. Das dürfte sich aber ändern, sobald Details bekannt werden.

Ein andere, gemessen an der Länge der Beratungen und des damit verbundenen Paradigmenwechsels, große – und überfällige – Initiative gilt dem Jugendschutz: Hier wird Braz vielleicht am stärksten fehlen. Er hatte sich der Reform persönlich angenommen, war bei fast allen Beratungen der Arbeitsgruppe dabei und hatte die – sehr kontrovers bis emotional verlaufende Debatte – mitgeprägt. Sein erster repressiver Entwurf, der Forderungen der Jugendstaatsanwaltschaft und der Jugendrichter weit entgegenkam, löste bei Menschen- und Kinderrechtlern jedoch einen Sturm der Entrüstung aus. Nach strenger Kritik auch durch die Präsidentin des Genfer UN-Kinderrechtskomitees sagte Braz zu, den Text in wichtigen Punkten zu überarbeiten. Das bedeutet aber auch: neue schwierige Beratungen mit der skeptischen Justiz. Diese kniffelige Aufgabe fällt jetzt Sam Tanson zu.

Stressalarm Weitere wichtige Reformen, die nun drohen, mehr Zeit zu brauchen, sind die Verfassungsreform und das Notariatsgesetz, wo Luxemburg in der Pflicht steht, den Berufsstand für AusländerInnen zu öffnen. Bei der Vormundschaftsreform, nicht mehr zeitgemäß, da in zentralen Punkten sehr paternalistisch geprägt, muss das Ministerium liefern; sie ist lange fällig und Teil des Aktionsplans zur UN-Behindertenrechtskonvention. Ebenso beim Abstammungsrecht.

Und als wären die zahlreichen gesetzgeberischen Vorhaben nicht genug, muss Tanson bereits verabschiedete Texte umsetzen, einer der wichtigsten ist die Strafvollzugsreform. Dabei geht es einerseits darum, dass die Resozialisierung innerhalb und außerhalb der Gefängnisse besser aufgestellt und vernetzt wird, aber nicht nur: Im August hatte sich die Vereinigung der Gefängniswärter bitter über ihre Arbeitsbedingungen beschwert und Braz öffentlich im Luxemburger Wort Untätigkeit und Wortbruch vorgeworfen. Er habe Zusagen, etwa eine Risikoprämie einzuführen und die Laufbahn aufzuwerten, nicht eingehalten. Die Prämie ist seit letzten Freitag Realität; weil weitere Forderungen, wie die Aufwertung des Wächterstatus, die Gehältertabelle betreffen, soll nun zusammen mit dem Ministerium für den öfffentlichen Dienst nach Lösungen gesucht werden.

Stimmen aus Tansons Partei sind sich angesichts des Bergs an zusätzlicher Arbeit sicher: Selbst wenn die kommissarische Justizministerin ihr Bestes gibt und ihre ganze Energie zwischen den Zuständigkeiten dreiteilt, ist die Situation auf Dauer nicht haltbar und wird der Zeitplan im Justizministerium nicht eingehalten werden können. Sie warnen vor einem allzu rigiden Zeitdiktat und zu hohen Erwartungen. „Schon aus gesundheitlichen Gründen“, heißt es besorgt.

Ines Kurschat
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