d’Land: Kinder und Jugendliche werden früh mit Informationen überflutet, die ihr Selbstbild nachhaltig prägen und durcheinanderbringen können. Sie gehen regelmäßig in Schulen, um Sensibilisierungsarbeit in Sachen Schönheitsdruck und soziale Medien zu leisten. Was kann man sich darunter vorstellen?
Esin Göksoy: Das CID Fraen a Gender geht derzeit von der Gemeinde subventioniert in die Zyklen 3 und 4 der Grundschulen der Hauptstadt. Dort bieten wir den Schülern einen Workshop zu diesem Thema an, weitere sind in Planung, zum Beispiel in Richtung Beziehung. Das Ziel ist, diese Themen aus einer feministischen Perspektive zu besprechen und die Schüler dahingehend zu stärken. Eine Art safe space. Ich gebe wenig frontalen Input, stattdessen erarbeiten wir Dinge gemeinsam. Deshalb variiert der Fokus der jeweiligen Workshops: Manchmal geht es mehr um Influencer, manchmal um Schönheitsdruck und die ganzen Produkte, die damit assoziiert sind. Wo kommt der Druck her? Was macht er mit uns? Und vor allem: Was können wir tun? Die Kinder sollen mit Handlungsoptionen herausgehen.
Was beschäftigt Schüler/innen zwischen acht und zwölf Jahren dahingehend?
Es kommen sehr unterschiedliche Themen auf. Es ist ein Alter, in dem die Kinder beginnen, sich anders wahrzunehmen. Die Unterschiede zwischen den Acht- bis Zehnjährigen und den Zehn- bis Zwölfjährigen sind groß – auch innerhalb der Klassen. Es hängt etwa davon ab, ob sie ihre eigenen Profile haben, wieviel sie online sind, ob sie bei ihren Geschwistern mitschauen oder ob die Eltern den Umgang damit gefunden haben. Sie fragen sich: Was sehen wir online, und was macht das mit uns? Warum existiert dieser Druck, schön zu sein? Warum müssen wir einem bestimmten Idealbild entsprechen? Dabei geht es nicht unbedingt um individuelle Entscheidungen. Völlig frei können die Entschlüsse, welchem Schönheitsideal wir entsprechen wollen, nicht sein. Es gibt jedoch Konsequenzen, wenn man völlig aus dem Schema herausfällt. Andere Schüler fragen sich, warum Influencer machen, was sie machen, etwa die Gaming- und Fitness-influencer, die sie kennen. Genderrollen und wie diese in der Öffentlichkeit ausgelebt werden, kommen ebenso zur Sprache. Andere fragen: Wer hat das Internet erfunden?
Die Kinder stehen dann noch vor der Veränderung der Pubertät, sind noch nicht mit Hormonen überschüttet. Es ist ein Moment, in dem die Gespräche noch stärker zünden können.
Auf jeden Fall. Soziale Medien beeinflussen ihre Entwicklung und nicht immer ist das, was sie sehen, altersgerecht. Vielleicht denken sie in ein paar Jahren im Lycée, wenn all das konkreter wird, noch einmal drüber nach, was besprochen wurde – auch wenn ein zweistündiger Workshop natürlich ein kleiner Anfang ist. Gleichzeitig sind sie in diesem Alter noch neugierig, wollen wissen und verstehen, warum Jungs Mädchen so und so sehen. Sie beginnen, sich selber zu suchen, und werden mit Bildern überflutet, die sie hinterfragen können: Will ich diese Schablone denn tatsächlich so übernehmen?
Jonathan Haidt, Autor von The Anxious Generation, empfiehlt kein Social Media vor 16 Jahren. Das Bildungsministerium hat einen Rollout an neuen Regeln, was Smartphones an Schulen angeht, angeordnet und setzt auf mehr Analog. Die Freizeit sieht anders aus. Beesecure gibt einen Prozentsatz von 12 Prozent von 12-Jährigen an, die auf den sozialen Netzwerken unterwegs sind. Nicht alle Eltern wissen Bescheid, ob ihre Kinder Profile haben. Entspricht das Ihrer Erfahrung?
Kinder, die online sein wollen, finden einen Weg, online zu sein. Es muss Regelungen geben, die die Kinder schützen und das Suchtpotenzial im Zaum halten. Manche erzählen mir, dass ihre Eltern eine Kontroll-App installiert haben, die sie nun geknackt haben. Junge Menschen müssen Bescheid wissen, wie ihr Internet-Umgang sicher bleibt, statt dass er negative Folgen für sie hat. Wir sind mit einer Generation konfrontiert, die eine völlig andere digitale Sozialisierung erfahren hat. Mir erscheint es deshalb wichtig, diese Welt nicht als eine zu präsentieren, die außerhalb der analogen existiert. Die Online-Welt spiegelt das, was in der Gesellschaft eh schon existiert, Trends springen rüber. Ich habe bisher wenig Kinder getroffen, die noch gar nichts davon wussten.
Achtjährige kennen Instagram?
Nicht alle wissen über alles Bescheid. Doch es reicht, dass ein bis zwei Kinder in einer Klasse Videos produzieren, damit die anderen zumindest wissen, dass es das gibt. Das hat sich in den letzten Jahren verändert. Und alles was das Aussehen betrifft, beschäftigt sie auch im realen Leben.
Die Forschung deutet darauf hin, dass soziale Netzwerke, insbesondere bilderbasierte, großen Druck auslösen, besonders toll auszusehen und das Körpergefühl sowie die seelische Gesundheit bei jungen Menschen verschlechtern. Stichwort Instagram Face. Welche Rolle spielen Filter und Werbungen in diesem Zusammenhang, welche KI?
Ich spreche mit den Kindern über Filter und komplett KI-generierte Bilder. Sie können in verschiedene Ebenen hineinspüren: Sie schauen sich Fotos an, die modifiziert sind, der Großteil der Online-Bilder; ebenso wie Fotos von Menschen, die es gar nicht gibt. Sie sollen feststellen, ob sie diese voneinander unterscheiden können. Doch wer scrollt, ist mit einer Flut konfrontiert. Das Auge gewöhnt sich an die Bilder – und der Kontrast zum eigenen Spiegelbild kann drastisch erscheinen. Plötzlich sind da Poren auf der Haut, obwohl es doch keine gibt! Je früher man damit konfrontiert ist, desto schwieriger ist es, sich zu erinnern, wie reale Menschen wirklich aussehen.
Vorstellungen von perfekter, makelloser Haut rangieren ins Verstörende. Immer jüngere Menschen suchen Hautkliniken mit sogenannter Selfie Dysmorphie auf, zeigen den Ärzten gefilterte Selfies. Online werden zum Teil Mädchen unter zehn Jahren mit den besten Skincare-Routinen visiert. Beobachten Sie solches Verhalten?
Es hat in den letzten Jahren einen Umschwung gegeben von den Schmink- und Makeup-Tutorials, die das Schönheitsideal diktieren, zum „Skincare“. Dieser Begriff verschleiert, dass das Ziel ist, nicht zu altern. Völlig absurd ist das, wenn es um Kinder geht. Ich nehme Hautmasken mit in diese Workshops. Ihre Vermarktung spricht explizit Kinder an, mit einem Panda drauf zum Beispiel. Skincare ist ein neues Phänomen, auf das jüngere Kinder aufspringen und wo es schwieriger wird, zu vermitteln. Die Körperhygiene verändert sich in dem Alter. Da die Grenzen zu ziehen, zwischen dem, was zur Pflege gehört und was nicht mehr, etwa 10-step Skincare-Routinen und Hautmasken, ist nicht einfach. Braucht Kinderhaut so etwas?, frage ich die Schüler. Allgemein ist die Schönheitsarbeit, die Menschen an sich leisten sollen, konkret normiert: es gibt ein Zu-wenig und es gibt ein Zuviel. Wer die Nägel zu farbig oder zu lang trägt, zu viel Schminke im Gesicht hat, verstößt gegen die Norm. Das Ideal ist klar das eines kleinen Mädchens oder einer jungen Frau: möglichst ohne Haare und mit makelloser Haut. Das ist ein großes Problem. Auch gibt es kein Endziel: Das Foto, das ich von mir herstelle, kann ich immer weiter verbessern. Der Mensch soll nicht irgendwann zufrieden mit sich sein, denn die Industrie lebt von Unzufriedenheit und Unsicherheit.
Tatsächlich gibt es Lipgloss-Spielzeug für zweijährige Kinder.
Es gibt große Unterschiede in den Zeitschriften, die sich primär an Mädchen richten, und den anderen. Für die Mädels sind fast immer Beauty-Tools dabei, Spielsachen wie ein Fön, ein Lockenstab oder eine Haarbürste, Masken, Lippenstifte oder „Lippenpflegestifte“. Allein der Begriff macht die Differenzierung schwer. Ab dem Kleinkindalter lernt man, dass mit dem Körper etwas zu tun ist – spielerisch. Prägnant ist der Grübchen-Maker, eine Art Zange, die man sich ins Gesicht klemmt, um Grübchen zu bekommen. Es ist ein gutes Beispiel für anregende Diskussionen: Sind Grübchen schön? Ja, schon. Ist jemand ohne Grübchen nicht schön? Eben. Wenn Löcher im Gesicht gemicro-managed werden, zeigt das die Entgrenzung. Nach dem klassischen kapitalistischen Prinzip wird ein Problem in die Welt gesetzt, und dann werden Produkte als Lösungen vorgeschlagen. Das verstehen die Schüler/innen bereits gut. Sie kommen selbst intuitiv darauf, dass die Firmen davon profitieren, nicht wir selbst. Auch, dass reiche Menschen als schöner gelten als arme, dass Monster als hässlich und gute Menschen als schön präsentiert werden, bemerken sie. Wir sprechen in dem Zusammenhang auch über Schönheits-OPs, die natürlich für Zehnjährige sehr weit weg sind, aber sie verstehen, dass das alles zusammengehört. Dabei ist das Ziel nicht, zu sagen: Ihr schminkt euch oder ihr schminkt euch nicht. Eher die Frage zu stellen: Fürchte ich soziale Konsequenzen, wenn ich mich nicht schminke? Für Mädchen und Frauen hat es gesellschaftlich Vorteile, einem gewissen Bild zu entsprechen.
Welche Vorstellung davon, ein Mädchen zu sein, eine Frau zu werden, kursieren?
Auch das ist unterschiedlich. Manche Mädchen wissen, dass sie vielleicht auch im Jungenabteil Kleidung finden können. In den Gesprächen geht es oft um die Gemütlichkeit von Kleidung und was darauf abgebildet ist: Bei Jungs ist die Kleidung neutral oder es sind gefährliche Tiere drauf, bei Mädchen sind es Einhörner und niedliches Zeug. Schülerinnen nennen durchaus schon Wege, sich davon zu emanzipieren.
Der Maskulinismus, der um sich greift, die Manosphäre: Ist sie bei den Elf- bis Zwölfjährigen Jungs bereits ein Thema?
Je nach Definition. „Wir spielen nicht mit den Mädchen“, hört man ja öfter. Je nach Framing kann es jedoch andere Konsequenzen haben. Es dauert jedenfalls nur 20 bis 30 Minuten, bis vom Algorithmus als Jungs identifizierte User auf den ersten antifeministischen Content stoßen. Dahingehend definiert sich das Junge-Sein eher in Abgrenzung zu dem, was mädchenhaft ist. In diesen Momenten bemerkt man die Einflussnahme der sozialen Medien. Ein Schüler fragte mich: Ist es denn wirklich so, dass Mädchen nur von Jungs profitieren? Ich erkenne den Wortlaut und weiß, wo das herkommt – das kann ich gut aufgreifen. Beim Prozess der Festigung dieser Ideen spüren die Kinder selbst einen Widerstand in sich, deswegen ist es wichtig, mit ihnen zu sprechen, wenn wir noch einen Zugang zu ihnen haben. Allgemein ist die Manosphäre in dieser Alterskategorie jedoch noch nicht besonders verbreitet.
Wie stark sind Schönheit und Selbstwert miteinander verbunden – die Idee, wie man auszusehen hat, um liebenswert zu sein?
Wir versuchen es zu entkoppeln und zu sagen, dass das eine nichts mit dem anderen zu tun hat. Aber auch das ist ein Widerspruch, denn die Welt spiegelt uns, dass wir mehr Likes bekommen, je hübscher wir sind.
Nach einer Phase, in der die Modebranche etwas inklusiver wurde, gibt es nun eine Rückkehr zu size zero. Was sagen Schüler zu ihrem Körpergefühl?
Zu Beginn frage ich im Rahmen einer Eisbrecher-Übung, wer sich an dem Tag schön findet und wer nicht. Wer zufrieden ist, soll aufstehen. Manchmal trauen sich welche nicht, weil es ja arrogant rüberkommen könnte. Es werden Blicke ausgetauscht, geschaut, ob die anderen aufstehen. Wir sind soziale Wesen. Einige stehen halb auf. Auch Komplimente kommen zur Sprache, denn sie können paradox sein: Wenn jemand mir sagt, dass ich schön aussehe, fühle ich mich schön. Aber am nächsten Tag dann nicht mehr, und dann frage ich mich, weshalb, und denke an die Frisur, die ich gestern trug oder die Jeans, die ich anhatte. Viele sagen auch: Jeder ist schön, so wie er ist! Das ist ein toller, positiver Ansatz. Allerdings versuchen wir einen neutraleren Ansatz zu vermitteln, sich einfach generell weniger über das Aussehen zu definieren. Einem toxisch positiven Bild zu verfallen, wo sich jeder dauernd toll finden soll, ist genauso schädlich und unrealistisch. Kinder, die mehr offline sind, haben es vielleicht einfacher. Eine andere Übung besteht darin, das eigene Gesicht zu malen, ohne in den Spiegel zu schauen, sondern indem man es anfasst. Dann vergleichen wir es mit Repräsentationen, also in Werbungen und Posts – und sehen den Kontrast. Wir können nicht einer idealisierten Version unser selbst nachlaufen, weil wir so sind, wie wir sind.