Nach den Gemeindewahlen

Der Wählerwillen

d'Lëtzebuerger Land du 21.10.2011

Am Montag trug die LSAP in der neuen Fusionsgemeinde Käerjeng mit einem Trauerzug „die Demokratie zu Grabe“, weil die Sozialisten bei den Gemeindewahlen in Niederkerschen und Küntzig zwar die meisten Sitze erhielten, aber durch die Weigerung der Grünen trotzdem in der Opposition bleiben. Im Gegenzug warfen die Grünen einen Tag später der LSAP vor, mit der CSV in Roeser eine „Koalition der Verlierer“ eingegangen zu sein, und forderten sie auf, „sich an ihre eigenen Vorgaben in Sachen Wählerwille“ zu halten.

Nach jeder Gemeindewahl werden Vorwürfe laut, dass hier und dort der Wählerwille missachtet worden sei, weil sich Parteien, die sich für die Wahlsieger in ihrer Gemeinde halten, unverhofft in der Koalition wiederfinden. Nach den Gemeindewahlen vom 9. Oktober hat es allerdings den Anschein, als ob solche Vorwürfe zahlreicher als sonst seien, vermehrt aus größeren Proporzgemeinden kämen und vor allem national mehr thematisiert würden. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die Grünen die Zahl ihrer Mandate beinahe verdoppelt und so das Kräfteverhältnis in vielen Gemeinderäten aufgemischt haben.

Allerdings gibt es keine klare Vorstellung, wer überhaupt Gemeindewahlen gewonnen hat. Ist es die Partei mit den meisten Mandaten oder die Partei, die am meisten Mandate hinzugewonnen hat? Ist es also die Partei, die ihre vier Sitze behalten hat, oder die neue Partei, die auf Anhieb zwei Sitze bekam? Ähnliches gilt für das Amt des Bürgermeisters: LSAP-Präsident Alex Bodry fragte sich vergangene Woche in dieser Zeitung, ob nicht, wie in Belgien, einfach „laut Gesetz die stärkste Partei den Bürgermeister“ stellen soll. In vielen Gemeinden gibt es eine große Partei, der ein kleiner Koalitionspartner mit einem oder zwei Sitzen genügt, um zu einer Mehrheit zu kommen. Falls sich die kommunalpolitischen Differenzen auf die Einrichtung von Fahrradwegen und Hundeklos beschränken, entscheidet über den Koalitionspartner dann der günstigere Preis, zu dem er die Stimmenmehrheit beschafft: den ersten Schöffen, vielleicht einen „gesplitteten“ zweiten Schöffen? In die Suche nach dem besten Koalitionspartner fließen, neben persönlichen Sympathien und Antipathien, auch taktische Überlegungen ein: Wie verhindert man die unnütze Stärkung eines lokalen Rivalen? Soll man sich gar mit einer lokalen Koalition einen Platz im Herzen eines aktuellen oder künftigen nationalen Koalitionspartners und damit einen Platz in der Regierung zu sichern versuchen?

Die „Unleserlichkeit“ mancher Koalitionsbildung rührt aber am Ende daher, dass es im Verhältniswahlrecht gar keinen eindeutigen Wählerwillen gibt, weil es ihn, anders als im Mehrheitswahlrecht, gar nicht geben soll. Vielmehr ist die Idee eines „Wählerwillens“ ebenso grober Unfug wie die beliebte Politiker- und Journalistenfloskel vom „Wähler, der gesprochen hat“. Schließlich sprechen bei Wahlen viele Wähler, sie sprechen durcheinander und sie widersprechen sich. Denn die Wähler verfolgen unterschiedliche und manchmal antagonistische Interessen, die meist von unterschiedlichen Parteien gebündelt und vertreten werden. Erstaunlich ist es schon, dass die sich in der Opposition wiederfindenden angeblichen oder tatsächlichen Wahlsieger immer darüber klagen, durch die Schuld der anderen Parteien „ausgebootet“ worden zu sein. Bisher kam keine Partei auf die Idee, öffentlichen einzugestehen, dass sie – vielleicht schon lange vor den Wahlen – zu ungeschickt, zu unnachgiebig, zu gierig, zu überheblich, zu nachtragend oder zu zerstritten, kurz: einfach unfähig war, einen Koali[-]tionspartner zu finden – was ja die erste Aufgabe eines Wahlsiegers sein müsste.

Romain Hilgert
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