Arbeitsmarkt

Ventile und Puffer

d'Lëtzebuerger Land vom 21.10.2010

Dass der Luxemburger Arbeitsmarkt starr sei, ist eine häufig wiederkehrende Feststellung. Meist werden der Kündigungsschutz, die Regelung der zeitlich befristeten Arbeitsverträge, der automatische Inflationsausgleich der Löhne und andere arbeitsrechtliche Bestimmungen dafür verantwortlich gemacht. Diese verzögerten im Vergleich zu anderen Ländern die notwendige Anpassung von Angebot an und Nachfrage nach Arbeitskräften insbesondere in Krisenzeiten. Wodurch die Arbeitslosigkeit sozusagen künstlich hoch bleibe oder gar ansteige, wenn sie nicht mit einem komplexen und kostspieligen Arsenal von Beschäftigungsmaßnahmen aufgefangen wird – allen voran die Kurzarbeit, durch die auf dem Höhepunkt der Krise 2009 Hunderte von Entlassungen vermieden wurden.

Dabei wird allerdings gerne übersehen, dass der Arbeitsmarkt gleichzeitig sehr flexibel ist, über spezifische Anpassungsmechanismen, Ventile und Puffer verfügt, mit denen sich die Marktgesetze, wenn auch über einige scheinbar vertrackte Umwege, doch noch ziemlich erfolgreich durchsetzen. Dies bestätigt die gerade erschienene neueste Ausgabe des jährlichen Statec-Berichts über Arbeit und sozialen Zusammenhalt, der diesmal die Zeitspanne abdeckt, währen der die dramatische Finanz- und Wirtschaftskrise offen ausbrach.

Das mächtigste dieser Ventile des Luxemburger Arbeitsmarkts sind die Grenzpendler. Ihr Anteil an den neu geschaffenen Arbeitsplätzen machte seit Anfang des Jahrzehnts rund zwei Drittel aus, doch vergangenes Jahr stürzte der Anteil brutal auf ein Drittel ab. Erstmals wurden wieder mehr neue Arbeitsplätze von Einheimischen besetzt als von Grenzpendlern. Die Beschäftigung der Grenzpendler wuchs seit dem Frühjahr vergangenen Jahres langsamer als diejenige der Einheimischen – für die Luxemburger Verhältnisse kommt dies seit dem Beginn des Frontalier-Booms Mitte der Achtzigerjahre einer Art Gezeitenwechsel gleich. Gleichzeitig nahm 2009 die Nachfrage nach den damaligen E-301-Formularen, mit denen sich Grenzpendler ihre Entlassung für ihre heimischen Arbeits­ämter bescheinigen lassen konnten, von monatlich um die 1 000 auf fast 2 000 zu. So passten Teile von Industrie, Handel und Banken, in denen die Grenzpendler vor allem beschäftigt sind, ihren Personalbestand dem Konjunktureinbruch an, ohne dass sich dies voll in den heimischen Arbeitslosenstatistiken niederschlug.

Der mächtigste der Puffer, die konjunkturelle Stöße auf einem starren Arbeitsmarkt auffangen, ist die Leiharbeit. Sie erlaubt es, unabhängig vom gesetzlichen Kündigungsschutz die Belegschaft kurzfristig und flexibel an die Auftragslage anzupassen. Seit ihrer Liberalisierung Mitte der Neunzigerjahre verzeichnete die Leiharbeit jährlich oft zweistellige Wachstumsraten. Doch in der Krise vergangenes Jahr ging sie um ein Viertel zurück. Dieses System ist umso flexibler, als rund 80 Prozent der Leiharbeiter Grenzpendler sind.

Dass die Grenzpendler sich vor einem Monat erstmals öffentlich zu Wort meldeten und vor dem Regierungssitz demonstrierten, hat vielleicht die vergangenes Jahr erfolgte, zumindest vorübergehende Trendwende am Arbeitsmarkt als tiefere Ursache. Und zur Konsequenz die mangelnde Bereitschaft, über Chèques services und Kindergeld nun auch noch eine Ventilfunk­tion bei den staatlichen Sozialausgaben zu spielen. Der Protest zeigte aber auch den wachsenden Einfluss der Grenzpendler in den Luxemburger Gewerkschaften – den einzigen gesellschaftlichen Organisationen hierzulande, wo sie mitreden können.

Romain Hilgert
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