Leitartikel

Bonapartismus

d'Lëtzebuerger Land du 12.05.2017

Das politische Genie von Wirtschaftsminister Etienne Schneider bestätigte sich am Sonntag wieder einmal auf das Schönste. Denn die Ausgangslage der Regierung in Frankreich schien ebenso hoffnungslos wie 2013 in Luxemburg: Was kann eine abgewirtschaftete, zerstrittene und zutiefst unbeliebte Regierung oder Partei tun, um an der Macht zu bleiben, um zu verhindern, dass die enttäuschten Wähler scharenweise zur Opposition überlaufen? Die Antwort kann nur in Etikettenschwindel und todesmutigem Bonapartismus liegen.

Wirtschaftsminister Etienne Schneider hatte es vor vier Jahren vorgemacht: Er ließ seinen unpopulären Regierungschef Jean-Claude Juncker im Stich und verwandelte sich über Nacht schamlos in einen Oppositionspolitiker, der nichts mehr von der politischen Bilanz seiner Regierung wissen wollte. Er kritisierte das politische System, dem er als Parteifunktionär und Ministerialbeamter, als nie gewählter Technokrat alles zu verdanken hatte, und bediente sich der Sozialdemokratie, die er gleichzeitig für überholt hielt – am Samstag erklärte er sich schon vorlaut zum nächsten Spitzenkandidaten der LSAP. Mit Hilfe weiterer liberaler Reformen versprach der neue starke Mann dem Land endlich die strahlende Zukunft, auf die es so lange gewartet hat.

Wirtschaftsminister Emmanuel Macron hatte es Etienne Schneider nachgemacht: Er ließ seinen Mentor und unpopulären Staatschef François Hollande im Stich und verwandelte sich über Nacht schamlos in einen Oppositionspolitiker, der nichts mehr von der politischen Bilanz seiner Regierung wissen wollte. Er kritisierte das politische System, dem er als Finanzinspektor und Investmentbanker, als nie gewählter Technokrat alles zu verdanken hatte, und bediente sich der Sozialdemokratie, die er gleichzeitig für überholt erklärt. Mit Hilfe weiterer liberaler Reformen versprach der neue starke Mann dem Land endlich die strahlende Zukunft, auf die es so lange gewartet hat. Etienne Schneider wie Emmanuel Macron kam zugute, dass die Rechtsparteien im richtigen Augenblick über ihren Geheimdienst beziehungsweise über ihre Vetternwirtschaft stolperten und sich diskreditierten.

Auch hierzulande atmete man erleichtert auf, weil der nach der Finanzkrise 2008 begonnene internationale Zyklus der Wählerrevolten gegen die liberale Globalisierung, die Deregulierung derArbeitsmärkte und die Austeritätspolitik unterbrochen scheint. Nach dem Brexit-Referendum in Großbritannien und der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA hatten viele eine überraschende Wahl von Marine Le Pen zur französischen Präsidentin befürchtet. Dass es nicht so weit kam, hat auch mit dem französischen Wahlsystem zu tun. Aber zu den 34 Prozent Wählern, die sich am Sonntag für Marine Le Pen entschieden, kamen weitere 12 Prozent Wähler, die zwar Emmanuel Macron als Vertreter einer liberalen Globalisierung ablehnten, aber lieber weiße oder ungültige Wahlzettel abgaben, als für die rechtsradikale Gegenkandidatin zu stimmen. Und unter den 25 Prozent Wahlberechtigten, die der Wahl fernblieben, war ein weiterer Anteil, der Emmanuel Macrons Austerität und Deregulierung ablehnte, ohne eine Faschistin, die Kreide gefressen hatte, wählen zu wollen.

Zusammen mit jenen, die ihn sowieso nur wählten, um Le Pen zu verhindern, sind das viele Gegner, während Emmanuel Macrons Siegesfeier im Louvre zeigte, dass der vor einem Jahr erfundene Retortenpolitiker neben einflussreichen Geldgebern nur über eine schmale Basis von Young Urban Professionals verfügt. Aus beiden versucht er nun, zusammen mit alten Parteigrößen von rechts und links, das Beste zu machen, um, wie Wolfgang Streeck in der London Review of Books über die Euro-Zone schreibt, „buy time, from election to election, for European governments to carry out neoliberal reforms, and for Germany to enjoy yet another year of prosperity“.

Romain Hilgert
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