Artenschutz

Kleiner Vogel vom Berg

d'Lëtzebuerger Land du 21.10.2010

Die Brillenvögel Ostafrikas sind nicht nur Sympathieträger wegen ihres auffälligen weißen Augenrings, sondern ideale Organismen, um Artbildungsprozesse und die Auswirkungen des Rückgangs ihrer Lebensräume zu verstehen. Daher stehen sie im Fokus aktueller Forschungsarbeiten des Nationalmuseums für Naturgeschichte in Luxemburg.

Wenn sich die Nebelschwaben über den Bergwäldern Ostafrikas verziehen, eröffnet sich dem Betrachter ein unglaubliches Bild: Epiphytenbehangene Bäume, an deren Stämmen und Astgabeln viele Flechten, Moose und Orchideenarten wachsen. Die an den Ostafrikanischen Graben angrenzenden Bergregionen reihen sich wie an einer Perlenkette von Kenia bis Mosambik aneinander und ragen meist einige hundert bis wenige tausend Meter aus den trockenen Savannen und Halbwüsten in den blauen afrikanischen Himmel empor. Das kühlere Klima auf den Bergen führte zur Ent-stehung von feuchten Bergwäldern, die bis heute kleine isolierte Enklaven mit einer außergewöhnlichen Tier- und Pflanzenwelt darstellen. Sie sind ein ideales Labor für Evolutionsbiologen.

Weitgehend unberührte Wildnis ist die eine Seite Afrikas, die andere kann kaum besser beschrieben werden als mit der aktuellen Bevölkerungszählung in Kenia; sie zeigt einen rapiden Zuwachs an Menschen um über zehn Millionen innerhalb der letzten zehn Jahre. Der enorme demografische Druck führt zur Zersiedlung von noch unberührten Naturräumen. Besonders die fruchtbaren Gebiete in höheren Lagen, die ursprünglich von Bergwald bedeckt waren, sind davon betroffen. Außerdem leiden diese Bergregionen unter den globalen klimatischen Veränderungen.

Eine prominente Art dieser gefährdeten Bergwälder ist die Brillenvogelart Zosterops poliogaster oder Mountain White-eye, ein kanarienvogelgroßer Vertreter der Vogelfauna mit markanten weißen Augenringen. Diese Vogelart findet man ausschließlich in solchen Bergwäldern. Daher bilden die Vorkommen der Art von Südäthiopien bis Nordtansania kleine isolierte Populationen.

Evolutionsbiologen des Nationalmuseums für Naturgeschichte in Luxemburg sind dieser Art seit einem Jahr auf der Spur. Gemeinsam mit Kollegen der Naturkundemuseen von Nairobi und London sowie der Universität Gent untersuchen sie die Entwicklungsgeschichte dieser einzelnen Populationsgruppen. Molekulargenetische Untersuchungen belegen eine sehr frühe genetische Trennung zwischen den einzelnen Populationen. Das stimmt mit der sehr alten Genese der meisten Gebirgsstöcke überein. Mit Minisendern, die an die Vögel angebracht wurden, konnten die Wissenschaftler deren starke Bindung an ihre Waldinseln belegen.

Die ausgewählte Vogelart steht symbolisch für eine ganze Lebens-gemeinschaft, die mit dieser Art in Gefahr ist. Die Wissenschaftler formulieren ihre Erkenntnisse in Handlungsansätze um, die dann lokale und nationale Naturschutzorganisationen umsetzen. Die Lebensraumfragmente sollen in Zukunft durch das Pflanzen von Waldkorridoren wieder miteinander verbunden werden, sodass Teilpopulationen der Brillenvögel und anderer Waldarten wieder langfristig überlebensfähig sind und so das gesamte Arteninventar der Bergwälder erhalten bleibt.

Jan Christian Habel ist Umweltwissenschaftler und Populationsgenetiker. Derzeit beschäftigt er sich am Naturhistorischen Museum in Luxemburg mit Fragen der Evolu-tionsbiologie, Naturschutzbiologie, Phylogeografie und Biogeografie.
Jan Christian Habel
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