Demente basteln an einer Collage aus Wahrnehmung und Erinnerung. Zu Besuch im Pflegeheim

Zeitlos

d'Lëtzebuerger Land vom 28.01.2022

Es gibt Orte, an denen streifen sich auf eigenartige Weise Zärtlichkeiten und Animositäten, Weisheit und Wahnsinn, Langsamkeit und Zeitdruck, Gelächter und Trübsal.

„Also was soll ich jetzt bestellen?“

„Einen Kaffee.“

„Und ein Chrëschtbéier; kannst Du dir das merken?“

„Ja, ich bin zwar dumm, aber nicht saudumm.“

Die über Siebzig-Jährige in rosa Strickpulli und kurzen braunen Locken schleicht an die Bar. Eine Minute später steht sie wieder bei uns am Tisch und meint, sie habe vergessen, was sie bestellen sollte.

Wir sind im Home Pour Personnes Agées (HPPA) in Redingen. Unten im Foyer befindet sich eine geräumige Cafeteria und hätte sich draußen nicht dichter Nebel niedergelassen, wäre das Parterre lichtdurchflutet. Vor mir sitzt meine Oma. Wenn ich vor ihr sitze, weiß sie, wer ich bin, gelegentlich muss sie allerdings nachfragen, wo ich wohne. Und wie lange Opa schon tot ist. Meine Oma ist vergesslich, sehr vergesslich. Ebenso die Frau im hellrosa Strickpulli. Sie geht nicht mehr zur Bar, denn sie wundert sich jetzt darüber, dass sie als ehemalige Wirtsfrau derart unprofessionell geworden ist. Dann beginnt sie lebhaft von früher zu erzählen: „Unser Restaurant war gut besucht, oft auch von Soldaten. Aber die Chefin hat aufgepasst; niemand durfte mich anfassen, die Kundschaft durfte mich nur anlächeln.“ Heute lebe sie ohne Mann, nur mit Kater, der allerdings sei schlimmer als ein Mann: „Er springt mir nachts auf den Kopf“. Wir lachen, die Stimmung ist ausgelassen.

Mitunter jedoch verwirren mich diese Anekdoten und Haustiergeschichten – sind die real oder erfunden? Existiert dieser Kater oder ist der Felltiger ein Relikt aus vergangenen Zeiten, der sich als Erinnerung auf Samtpfoten in den Alltag hineinschleicht? Mike Heintz, der Pflegeverantwortliche, kommt mit uns ins Gespräch und ich erkundige mich: Leben hier Haustiere auf den Zimmern? „Ja klar, die Haustiere können mit ihren Besitzern ins Altenheim umziehen“, antwortet er in gut gelauntem Sozialberufstätigen-Ton. Während er mit mir spricht, legt er seine Hand auf die Schulter meiner Oma. Meine Oma ist mollig, ihre Bäckchen wirken wie frisches Marzipan und sie bricht – seit das Gedächtnis nicht mehr so recht will – in kaum überschaubaren Abständen in Gelächter aus. Seltsam, aber ihre Verwirrtheit wirkt dadurch entspannend.

Die Geschichte des HPPA geht auf das Jahr 1905 zurück. Der damalige Pfarrer aus Redingen bat die Generaloberin der Franziskanerinnen einige Ordensschwestern nach Redingen zu berufen, um einen ambulanten Krankendienst anzubieten. Dies taten sie dann in einer Scheune, die Clémence und Mathilde Hemmer 1910 auf eigene Kosten zu einem überschaubaren Hospital umbauen ließen. Den Franziskanerinnen wurde die Einrichtung ein Jahrzehnt später durch eine Schenkung überreicht, mit der Auflage, den Krankenhausbetrieb weiterzuführen sowie den beiden Hemmer-Frauen Kost und Pflege bis zu ihrem Lebensende zu garantieren. Nach der Schenkung modernisierte und vergrößerte sich die Klinik: Ein Operationszimmer und ein Röntgenapparat wurden eingerichtet. Seit Mitte der 1950er Jahre wurden jedoch zunehmend alte Menschen in der Klinik untergebracht, und deshalb wandelte sich dessen Ausrichtung schrittweise in ein Altenheim um. Wegen der Nachwuchsprobleme des Nonnenordens wurde die kirchliche Struktur in eine ASBL umklassiert, die sich zusehends von ihrem konfessionellen Hintergrund löst und derzeit weitestgehend privat finanziert. Allerdings spitzte sich der Bedarf an Seniorenheimplätzen zu, sodass in den 1990er Jahren eine interkommunale Geldnot-Lösung die Planung eines Neubaus ermöglichen musste. Von der ehemaligen Scheune bleibt heute nichts mehr übrig – 2002 musste das alte Klinikgebäude abgerissen werden, da es bedingt durch architektonische Auflagen nicht in den Neubau integrierbar war.

Zu uns an den Tisch gesellt sich nun eine Bekannte meiner Oma, die vor ein paar Monaten ins Heim umgezogen ist. Fit auf den Beinen ist sie nicht mehr, dafür aber noch halbwegs im Kopf. Und meine Oma merkt das. Denn die langjährige Bekannte will ein normales Gespräch mit meiner Oma führen, doch es will nicht gelingen: „Was sagst Du, wer war gestern hier bei mir? Stimmt das?“ Meine Oma will, kann sich nicht erinnern, die Marzipanbäckchen verziehen sich zu einer Grimasse: „Menteuse!“. Sie dreht sich zu mir: „Siehst Du, sie lügt“. „Ich glaube eher Du kannst Dich nicht daran erinnern“, will ich deeskalierend eingreifen. Dann lacht sie wieder, stimmt, ja, das könnte gut möglich sein. Die Bekannte, ganz in Schwarz, mit kurzem grauen Haar, dreht sich ebenfalls zu mir: „Weißt Du, wenn man den ganzen Tag hier rumhängt, verliert man den Verstand“.

Wie ist das eigentlich, wenn man tagtäglich mit Dementen arbeitet? Ich frage Mike Heintz, ob den Angestellten gelegentlich der Kompass verloren geht. „Wir sind natürlich damit konfrontiert, dass die Heimbewohnerinnen häufig in ihrem Film sind. In ihren Gedanken sind sie vielleicht gerade in ihrer Kindheit und sitzen in der Schulbank und erzählen aus ihren Erinnerungen, als würden sich diese gerade abspielen.“ Aber diese Gedanken-, Zeit- und Erinnerungssprünge sind nicht die eigentliche Herausforderung. Viel anspruchsvoller sind Personen die aggressiv sind, bei denen Ängste die überhandnehmen – Traumata von früher hochkommen oder Ängste, die durch die Krankheit bedingt sind – , und die in ihrer Verzweiflung handgreiflich werden wollen. „Das ist einfach mental anstrengend“, sagt Heintz. Eine opulente Schutzmauer soll das Pflegepersonal vor diesem Tumult schützen: Sie lernen solche Angriffe nicht persönlich zu nehmen, sie werden von erfahreneren Pflegern begleitet und interne Austauschgruppen treffen sich regelmäßig. Und doch können Anfeindungen ein solches Maß annehmen, dass Aufgabenbereiche neu eingeteilt werden, erklärt der Pflegedienstleiter.

Der Geriater Serge de Nadai aus den Hôpitaux Robert Schuman erläutert einen besonders drastischen Fall. Als ein dementer Mann ins Pflegeheim umzog, kamen bei jenem Erinnerungen an seine Zeit im Konzentrationslager auf: Das Pflegepersonal waren die Camp-Wächter und sein Zimmer eine Zelle. Es gibt dann zwei Register, mit denen das Personal arbeiten kann: Entweder man versucht das Vertrauen in die Betreuer zu stärken und setzt auf Beziehungsarbeit oder, falls dies nicht möglich ist, verabreicht man Medikamente, um Ängste zu mindern. Letztere Entscheidung sei ethisch nicht einfach: Einige Medikamente können zwar die Lebensqualität fördern, indem sie Angstzustände abfedern, in hoher Dosis aber können somatische Kollateralschäden entstehen, die möglicherweise die Lebenszeit reduzieren.

Die Bekannte meiner Oma behauptet nun, sie würde mich nur alle Schaltjahre sehen. Daraufhin meint meine Oma, ob wir dieses Jahr ein Schaltjahr haben, müssten wir bald herausfinden, denn wir hätten ja bereits Februar oder März. So als würde man nach dem 28. Februar plötzlich bemerken, ob sich noch ein Februartag dranhängt oder nicht. Tatsächlich haben wir aber erst vor ein paar Tagen Silvester gefeiert. Das Raum-Zeit-Gefüge, in dem sich Menschen mit Demenz bewegen, wirkt auf Außenstehende disruptiv, nahezu mysteriös: Wo lebt man, wenn man nicht mehr in der Zeit lebt?

Ich frage beim Arzt Serge de Nadai nach. „Es ist schwer nachzuvollziehen, wo genau Demente leben. Einige Demente können nicht mehr zwischen Erinnerung und aktueller Wirklichkeit unterscheiden. Es kommt dann zu einer Art Collage zwischen dem, was sie wahrnehmen und ihren Erinnerungen“, erklärt de Nadai. Ihre Orientierung im Raum und interpersonale Beziehungen geraten durcheinander: Es kommt vor, dass Demente denken, sie würden sich in dem Haus ihrer Kindheit befinden. „Dies verlangt dem sozialen Umfeld enorme Kraft ab, um Beziehungen aufrecht zu erhalten“.

Aber Gedächtnisverlust ist mehr als Desorientierung; es ist auch eine Beeinträchtigung der geistigen Dimension des eigenen Selbst: „Erinnerungen – auf der Reise des Lebens abgelegte Empfindungen, Erfahrungen und Erkenntnisse, die dem Pfad Farbe und Sinn verleihen – werden ausgelöscht“, schreibt der Professor für Biotechnik und Psychiatrie Karl Diessroth in Der Stoff aus dem Gefühle sind (2021). Gefühl und Gedächtnis sind eng verflochten – verliert das Gedächtnis an Schärfe, gewinnen die Gefühle an Unschärfe. Überdies kann es zu Wutausbrüchen und infantilem Egozentrismus kommen – erschreckenden Persönlichkeitsveränderungen –, falls Hirnbereiche drastisch abbauen, die für Werte zuständig sind.

An einem anderen Januartag spielt meine Oma mit drei weiteren Frauen „Mensch Ärgere Dich nicht“, als ich ankomme. Eine Frau würfelt: „Sechs! Oho!“, freut sich der Tisch. Die Frauen würfeln, rücken ihre Pöppel, würfeln, rücken ihre Pöppel. Es läuft erstaunlich gut, nur manchmal verwechselt eine der Betagten die Farbe ihres Pöppels. „Nee, du bass gring“, korrigiert daraufhin die Sitznachbarin den Fehler. Doch dann fällt der Würfel unter den Tisch. Die vier Frauen werden still, keine bewegt sich. „Komm mer haalen op“, sagt nun eine. Schließlich lange ich unter den Tisch und hebe den Würfel auf. Die Frauen spielen noch ein paar Runden, allerdings beginnt eine im Rollstuhl Sitzende, vor sich hin zu starren und verliert den Faden. „Allez hëpp, da spill“, versucht meine Oma die Frau zu motivieren. Aber die Frau versinkt in Apathie und die Frauen räumen daraufhin die Spielplatte. „Wer hat denn nun gewonnen?“, frage ich. „Mir wëssen et net“, sagt die Jüngste. „Wéi d‘Kënnercher hu mer hei gespillt“, lacht meine Oma.

Serge De Nadai ist über die Schilderungen von dem weitgehend reibungslosen Spielverlauf nicht überrascht. Obwohl manche Demente ständig in ihre Erinnerungen abrutschen, sei zugleich zu beobachten, dass ihre Antennen stark auf das Gegenwärtige ausgerichtet sind. Demente seien „in der Gegenwart blockiert“, sagt de Nadai. „Man kann dies zum einen positiv sehen: sie sind in einem Bewusstseinszustand, den einige in der Zen-Meditation suchen. Das ist inspirierend. Aber ganz so einfach ist es nicht, denn Demente sind häufig passiv, weil diese Gegenwärtigkeit sich zugleich als eine Art Handicap erweist und verhindert, dass sie Ziele und Zukunftspläne für sich definieren.“ Zudem sei es bereichernd mit Betroffenen über vergangene Zeiten zu sprechen: „Denn demente Personen lügen nicht. Wenn man mit ihnen in ihren Erinnerungen reist, kann man einiges lernen“ behauptet Serge De Nadai.

Wer durch die Flure des HPPA flaniert und das Personal beobachtet, dem fällt auf, dass hier Menschlichkeit vor Professionalitätsperformanz Platz macht. Bereits an der Kleidung ist dies optisch auszumachen: Keine Dienstuniform signalisiert eine durchsterilisierte Haltung; das Personal schlappt während der Medikamentenvergabe in Sneakers und Jeans durch das Seniorenheim. An den Wänden hängt das Programm für die kommende Woche: verschiedene Aktivitäten wie Kochen, gemeinsames Einkaufen, Gymnastik oder Chortreffen finden statt. Ist gerade kein Lockdown, können Bekannte der Heimbewohner sich unterschiedlichen, von der Struktur organisierten Aktivitäten wie Ausflügen, Kino- oder Theaterbesuchen anschließen. Die selbstverständliche Einbindung vom Bekanntenkreis soll die Membran zwischen Außen- und Innen der Institution permeabel gestalten – der Umzug ins Heim soll keinen Bruch mit dem gewohnten Sozialumfeld verursachen.

Dieses Pflegekonzept geht vor allem auf einen Mann zurück: Erwin Böhm (1940-). Mike Heintz ist hörbar begeistert von dem österreichischen Pflegewissenschaftler. Während gebräuchliche Pflegemodelle sich überwiegend auf psychisch Unbelastete und somatisch Beeinträchtigte ausrichten, wendet sich das Böhm-Modell an psychogeriatrisch Erkrankte. „Die Seniorenheime, die mit diesem Modell arbeiten, versuchen eine hohe Sensibilität für die Biografie der Einzelnen zu entwickeln, um so nachzuvollziehen, welche Coping-Strategien die Personen im Laufe ihres Lebens ausgebildet haben“, erläutert Heintz. Dies ermögliche es den Pflegenden, die Selbstständigkeit der Senioren zu fördern und sie als Individuum zu betrachten.

Böhm nimmt zudem in Betracht, dass Menschen mit einer Demenz besonders auf Erfahrungswerte ihrer früheren Lebenszeit zurückgreifen. „Deshalb stehen bei uns auch diese Möbel aus typischen Bauernstuben rum“, erklärt Heintz und ergänzt: „das ist das Wohnumfeld, mit dem unsere Bewohnerinnen vertraut sind. Die Heimbewohner sollen sich wohlfühlen.“ Der Spielraum, um das Altbekannte einzubeziehen, ist bei fortgeschrittener Demenz jedoch klein, konzediert Mike Heintz; bei einigen Pflegefällen fällt Wahrnehmung und Bedeutungszuschreibung gänzlich auseinander: „Die wissen nicht mal mehr, was sie mit einer Gabel anfangen sollen“. Serge De Nadai ist seinerseits nicht ganz so optimistisch, was das landesweite Pflegewesen betrifft: „Ein Pflegeheim kann keine Familie und das gewohnte Umfeld ersetzen“. Auf sieben-acht Pflegebedürftige komme eine Pflegerin; die Erwartungen der Angehörigen sollten realistisch bleiben. Als erste Anlaufstelle, um einen Umzug ins Pflegeheim zu planen und um sich über die Krankheit zu informieren, kann das Info-Zenter-Demenz weiterhelfen.

Das HPPA in Redingen ist aber tatsächlich kein Betonkäfig. Die Flure sind breit und hell, in ihnen stehen Sofas und Beistelltischche mit Tee zur Selbstbedienung rum, an den Wänden hängen Fotos aus dem frühen 20. Jahrhundert. Ein schwarz-weiß Foto zeigt eine altersgemischte Schulklasse, in deren Mitte ein Holzofen heizt; ein weiteres wie der Jangeli durch den Ortskern von Ospern tuckert. Die Scheune, in der die Klinik ursprünglich eingerichtet war, wurde zwar abgerissen und die Franziskanerinnen arbeiten nicht mehr im Seniorenheim, aber wer im ersten Stockwerk hinten rechts abbiegt, stößt dennoch auf die katholische DNA des Hauses: Hier befindet sich eine bestuhlte Kapelle in der zweimal wöchentlich Messen abgehalten werden. Das Zimmer meiner Oma ist überdies mit Marien-Statuen gefüllt. Die übernatürliche Gestalt ist auf den 25 Quadratmetern in unterschiedlichen Avataren unterwegs, und wirft dabei die Frage auf, inwiefern der monotheistische Katholoizismus nicht doch ein Animismus in the closet ist. Denn à propos Coping-Strategie: Maria muss wohl das ein oder andere Problem meiner Oma lösen. Welches das Rezenteste war, ist ihr Geheimnis, weil sie hat es schon wieder vergessen.

Die Ereignisse in der HPPA-Cafeteria wurden überwiegend im Januar 2020 dokumentiert.

Stéphanie Majerus
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