Die Gemeindewahlen in Differdingen stehen im Schatten der Gaardenhaischen-Affäre um den früheren Bürgermeister. Weil auch seine Nachfolgerin nicht mehr antritt, ist der Wahlausgang offen wie nie. Die Hoffnungen der Grünen ruhen nun auf Paulo Aguiar

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Paulo Aguiar (r.) und andere Mitglieder des Schöffen- und Gemeinderats  mit dem Ehrenpräsidenten der Baufirma Lux TP, Jean Cazza
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 09.12.2022

Enquête Roberto Traversini (59) kandidiert 2023 nicht bei den Gemeindewahlen in Differdingen. Rein rechtlich könnte er, denn angeklagt – geschweige denn verurteilt – wurde er bislang nicht in der sogenannten Gaardenhaischen-Affäre, die ihn im September 2019 zum Rücktritt zwang. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft sind ins Stocken geraten, auch weil es noch immer an einem Gesetz fehlt, das die strafrechtlichen Prozeduren festlegt, damit die frühere Umweltministerin Carole Dieschbourg (déi Gréng) aussagen kann. Der entsprechende Entwurf wurde erst kürzlich vom Staatsrat mit vier formalen Einwänden verworfen.

Weil die Ermittlungen nun schon seit drei Jahren andauern, verfestigt sich in Differdingen der Eindruck, die Anschuldigungen gegen den früheren député-maire der Grünen seien vielleicht nicht haltbar. Allerdings könnte seine Vergangenheit Roberto Traversini jederzeit einholen, deshalb wäre eine Kandidatur zum jetzigen Zeitpunkt sicherlich riskant. Seine Partei befürchtet, dass eine mögliche Anklage kurz vor den Wahlen im Juni oder Oktober erfolgen könnte und ihr in der heißen Wahlkampfphase schaden würde (Traversini selbst lehnte ein Gespräch mit dem Land ab).

Roberto Traversini hat in Differdingen in doppelter Hinsicht Geschichte geschrieben. 2014 beendete er die Herrschaft der „Meisch-Dynastie“, die 2001 mit dem Putsch des damaligen DP-Finanzschöffen Claude Meisch (mit Unterstützung von Tom Ulveling und Paul Rion von der CSV sowie Jeannot Logelin von den Grünen) gegen die LSAP begonnen hatte. Als Meisch – nach seinem Erdrutschsieg von 2005 und der Bestätigung von 2011 – sein Bürgermeisteramt 2013 niederlegte, um Bildungsminister in der blau-rot-grünen Regierung zu werden, nutzte sein Erster Schöffe die Gunst der Stunde: Weil die DP-Sektion wegen interner Konflikte auseinanderbrach, ging Traversini eine Koalition mit CSV und Sozialisten ein. Um nach zwölf Jahren Abwesenheit im Schöffenrat wieder mitregieren zu können, überließ die stärkere LSAP den Grünen den Bürgermeister. Dieser Schachzug machte sich 2017 bezahlt: Mit dem maire sortant Traversini und drei weiteren Spitzenkandidat/innen konnten die Grünen ihr Resultat von 15 auf 36 Prozent verbessern, sie erreichten sieben Sitze und bekamen fast viermal mehr Listenstimmen als 2011. Weil auch die CSV gewann, hatten sie und die Grünen genug Mandate, um ohne die LSAP weiterzuregieren, die ihren vierten Sitz gerade so verteidigen konnte. Traversini verbuchte diesen Erfolg für sich, 2018 konnte er ihn bei den Kammerwahlen wiederholen, als er nur Felix Braz den Vortritt lassen musste.

Doch nur ein Jahr später stürzte er die Differdinger Grünen selbst in eine tiefe Krise. Mit Christiane Brassel-Rausch wurde die Fünftgewählte Bürgermeisterin, weil die vor ihr platzierte Laura Pregno sich wegen eines sechsmonatigen Elternurlaubs vorübergehend aus dem Schöffenrat zurückgezogen hatte. Sechs Monate nach Traversini trat auch der langjährige Schöffe Georges Liesch zurück. Er machte den Weg frei für Paulo Aguiar, der erst Pregno, später dann Liesch im Schöffenrat ersetzte und die Grünen nun an der Seite von Ko-Sektionspräsidentin Manon Schütz als Spitzenkandidat in die Gemeindewahlen führt.

Portugieseschen Traversini In Differdingen gilt der 45-jährige Aguiar inzwischen als „portugieseschen Traversini“. Ihre Lebensläufe weisen durchaus Parallelen auf. Aguiar wurde in São Paio de Oleiros im Norden Portugals geboren und kam erst 1994 im Alter von 17 Jahren nach Luxemburg. Seine Eltern – sein Vater arbeitete als Gärtner, seine Mutter als Putzfrau – waren schon zwei Jahre früher nach Esch/Alzette gezogen. Aguiar belegte Französisch- und Luxemburgisch-Kurse, besuchte das Lycée technique du Centre und wechselte dann wegen der schwierigen Sprachensituation in eine Schule nach Arlon. 2000 nahm er eine Stelle bei der Recylingfirma Recyplast im P.E.D in Rodange an, die 2004 Konkurs anmeldete. In seiner Freizeit half er im Escher Jugendhaus als Animateur aus. Hier fand er seine Berufung. Der Präsident des Petinger Jugendhauses, Marcel Baumann, den Aguiar als seinen Förderer bezeichnet, stellte ihn per Berufsförderungsvertrag ein. Er absolvierte Weiterbildungen und holte sein Erzieherdiplom im Centre de promotion sociale in Lüttich nach.

Nach seiner Rückkehr zog er nach Differdingen, wo er 2011 den Hallenfußballverein Raf Differdingen (Regroupement amicale de futsal) mitgründete und Vereinsvorsitzender wurde. Zu dieser Zeit wurde der umtriebige Schöffe Traversini auf den frischgebackenen Erzieher aufmerksam. Er besorgte ihm eine Stelle im Jugendtreff Saba, den Traversini mit ins Leben gerufen hat und dessen Präsident er damals noch war. Im Jugendtreff lernte Aguiar auch Laura Pregno kennen, die damals dort Mitglied im Vorstand war. Inzwischen leitet Aguiar das Zolwer Jugendhaus.

Unter Traversini wurde er Vize-Präsident der Integrationskommission. 2011 kandidierte er zum ersten Mal bei den Gemeindewahlen und belegte den elften Platz. Den Grünen habe er sich angeschlossen, weil Ökologie und soziales Zusammenleben ihm wichtig seien, sagt Aguiar im Gespräch mit dem Land. Erst im zweiten Anlauf schaffte er 2017 den Einzug in den Gemeinderat, weil Dan Werecki wegen seiner Anstellung bei Sudgaz verzichtete. Wie sein politischer Ziehvater hat Aguiar seinen (sozialen) Aufstieg in der Gemeindepolitik vor allem seinem Engagement im Jugendbereich und im Vereinsleben zu verdanken. Wie Traversini leitet er als Schöffe die Ressorts Jugend, Chancengleichheit, Integration und Sport.

„Ich glaube daran, dass wir das gute Resultat von 2017 bestätigen können“, gibt sich Aguiar zuversichtlich. Dabei hofft er vor allem auf Stimmen aus den Sportvereinen. 95 Prozent von ihnen seien zufrieden mit der „guten Arbeit“ von Grünen und CSV, behauptet der Schöffe, das habe er in Gesprächen mit Vereinsverantwortlichen herausgefunden. Und das obwohl die große Sporthalle in Oberkorn wegen Sanierungsarbeiten noch bis 2024 nicht zur Verfügung stehe.

Ein politisches Profil habe Aguiar sich in den vergangenen fünf Jahren nicht aneignen können, urteilt Gary Diderich von der Oppositionspartei déi Lénk. Im Gemeinderat agiere er zwar souverän, aber sehr zurückhaltend. Tatsächlich fühlt der grüne Spitzenkandidat sich um Terrain wohler als in formellen Sitzungen: „Ech sinn iwwerall präsent“, sagt Aguiar dem Land. Am Wochenende hat er den Weihnachtsmarkt mit eingeweiht, war beim Anti-Gaspi-Festival in Oberkorn und hat sich die Jubiläumsgala des Turnvereins Flic Flac angesehen: „Ich habe alles auf Facebook gestellt, Sie können es überprüfen“. Es sei wichtig, nah bei den Leuten zu sein, um ihnen ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln, erzählt Aguiar. Doch obwohl er bei kaum einem Fest, einer Einweihung oder Generalversammlung fehlt, sei er längst nicht so populär wie sein politischer Mentor Traversini, sagt Ali Ruckert, der seit 2011 die KPL im Gemeinderat vertritt. Auch dass er seine Ansprachen häufig auf Französisch hält, obwohl er eigentlich Luxemburgisch kann, wird ihm als Nachteil ausgelegt. Die LSAP wirft ihm vor allem vor, den Präsidentenposten des Futsal-Clubs nicht aufgegeben zu haben, als er Schöffe wurde. Das könne ihm durchaus als Interessenkonflikt ausgelegt werden, betont Gemeinderat Pierre Hobscheid. Gegenüber dem Land erwähnt Aguiar, er werde als Präsident des Raf Differdingen zurücktreten, wenn er Bürgermeister werde.

Nach dem italienischstämmigen Traversini den portugiesischstämmigen Aguiar als Spitzenkandidat aufzubauen, war taktisch klug von den Grünen. Hinter Larochette zählt die Stadt Differdingen die zweitgrößte portugiesische Gemeinschaft Luxemburgs. 32 Prozent der Einwohner haben die portugiesische Nationalität. Seit 2016 ist ihr Anteil zwar um vier Prozent zurückgegangen, doch das dürfte vor allem an der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts liegen, das Einbürgerungen vereinfacht hat. „Das Wählerpotenzial bei den Ausländern liegt bei 10 819 Menschen“, rechnet Aguiar vor. „Das sind nur 300 weniger als 2017 insgesamt auf den Wählerlisten standen“. Weil Innenministerin Taina Bofferding (LSAP) erst kürzlich die Bedingungen gelockert hat, ist die Hoffnung bei fast allen Parteien groß, dass künftig mehr Nicht-Luxemburger sich einschreiben werden.

Insgesamt führen die Grünen in Differdingen fünf Kandidat/innen mit portugiesischen Wurzeln, darunter der 38-jährige Paulo De Sousa, der die gleichaltrige Laura Pregno noch bis März wegen ihres zweiten Elternurlaubs im Schöffenrat ersetzt. Wieso die für Umwelt und Stadtplanung zuständige Schöffin nicht selbst Spitzenkandidatin wird, nachdem Christiane Rassel-Brausch nicht mehr kandidieren wird, sondern der eher unbekannten Manon Schütz (55) diese Aufgabe überlässt, fragen sich in Differdingen viele. Auf Land-Nachfrage erklärt Pregno, als Mutter von zwei jungen Töchtern sei ihr die Belastung zu hoch. Neben der Politik müsse sie auch noch ihren Beruf als Geographielehrerin ausüben, um überleben zu können. Familie und Beruf seien mit dem Bürgermeisteramt nicht vereinbar. Im Oktober 2019 hatte sie aus den gleichen Gründen darauf verzichtet, für Traversini in die Abgeordnetenkammer nachzurücken.

Meisch-Dynastie Auch die anderen Parteien wollen verstärkt auf Kandidat/innen mit Migrationshintergrund setzen. Für die DP, die ihre Liste am Montagabend veröffentlich hat, tritt Elisabeth Da Silva (49), stellvertretende Direktorin der École internationale de Differdange (EIDE), gemeinsam mit dem langjährigen Präsidenten des Differdinger Kulturdienstes und Gemeinderatsmitglied, François Meisch (46), an. Neben Da Silva finden sich noch mindestens vier weitere Kandidat/innen mit portugiesischem Nachnamen auf der DP-Liste. Auch auf die langjährige Gemeinderätin Christiane Saeul (67) wollten die Liberalen nicht verzichten. Mit dabei ist ebenfalls der einstige DP-Hoffnungsträger und Sektionspräsident Eric Cillien (44), der schon von 2011 bis 2013 Mitglied im Gemeinderat war. Dass die Meisch-Dynastie auch nach dem Tod von Vater Marcel im März 2020 politische Ambitionen in Differdingen hegt, zeigt die Kandidatur des jüngeren Bruders von Claude und François, Michel Meisch (36), Lehrer und Vorsitzender der Differdinger Harmonie municipale. Ebenfalls auf der DP-Liste findet sich der Apotheker Philippe Hillenbrand (57), Präsident des lokalen Geschäftsverbandes, der erst vor zwei Monaten wegen Steuerhinterziehung zu einer Geldstrafe von 14 000 Euro verurteilt wurde, wie Reporter.lu kürzlich berichtete (ohne seinen vollständigen Namen zu nennen). Rechtliche oder deontologische Bedenken habe die DP deswegen nicht, bestätigte François Meisch auf Nachfrage.

Die CSV, die in den vergangenen 20 Jahren an beiden Putschs beteiligt war, in Differdingen jedoch noch nie den Bürgermeister stellte, setzt mit der in der Sozialabteilung der Stadt Differdingen beschäftigten Emina Ceman (27) auf eine junge Frau mit montenegrinischen Wurzeln, um neben dem langjährigen Schöffen und Zahnarzt Tom Ulveling (62) in den Wahlkampf zu ziehen. Ihre definitive Liste werden die Christsozialen erst im Januar veröffentlichen. Schon 2017 hatten sie vier Kandidat/innen aus der portugiesischen Gemeinschaft dabei. Hoffnungen setzt die CSV in den über die Grenzen von Differdingen hinaus bekannten Blues-Bassisten René Macri, der im Rathaus im Empfang arbeitet. Nicht mehr antreten wird der Arzt und Sozialschöffe Robert Mangen.

Die LSAP will ihrerseits mit einer stark verjüngten Liste in den Gemeindewahlkampf ziehen. Zwar wird mit den ehemaligen Schöffen Erny Muller und Fred Bertinelli sowie dem Sektionspräsidenten Guy Altmeisch die „alte Garde“ mit auf Stimmenfang gehen, und auch Gemeinderat Pierre Hobscheid, früherer Eldoradio-Journalist und heute Kommunikationsbeauftragter im LSAP-geführten Arbeitsministerium, wird wieder antreten, doch ansonsten setzt man vor allem auf politisch unerfahrene Kandidat/innen. Als Hoffnungsträger gilt Thierry Wagner (49), seit zwei Jahren Koordinator von Dan Kerschs Nachfolger Georges Engel (LSAP) im Sportministerium. Als langjähriger Leiter des Sportdienstes der Stadt Differdingen pflegt der frühere Red-Boys-Handballspieler und ehemalige Handballverband-Vize-Präsident gute Kontakte zu den Vereinen. Als potenzielle Top-Kandidatin der LSAP gilt Caroline Huberty, die vor sechs Jahren die Geschäftsleitung des seit Generationen von ihrer Familie geführten Restaurants Bache Jang von ihrem Bruder übernommen hat. Die 30-Jährige ist verheiratet mit dem Schauspieler und Präsidenten der LSAP-nahen Fondation Robert Krieps, Marc Limpach, und eine Nichte des früheren Kayler LSAP-Bürgermeisters John Lorent. Eigenen Aussagen zufolge will sie jedoch nicht als Ko-Spitzenkandidatin, sondern als „gewöhnliche“ Kandidatin ins Rennen gehen.

Nach den Turbulenzen der vergangenen Jahre dürfte der Wahlausgang in Differdingen offener denn je sein. Zum ersten Mal kandidiere kein amtierender „Über-Bürgermeister“, sagt Pierre Hobscheid. Sowohl die Grünen als auch die LSAP, die von 1938 bis 2001 ununterbrochen in Differdingen regierte (den radikal-liberalen, sozialistischen Bürgermeister und Abgeordneten Emile Mark, der von 1912 bis 1935 die Stadt leitete, beanspruchen sowohl LSAP als auch DP für sich) und unbedingt zurück in die Verantwortung will, haben sich weitgehend personell erneuert. Insbesondere den Sozialisten bescheinigen fast alle Parteien, diesmal „eng stoark Lëscht“ zu haben, obwohl sie diese erst nach Weihnachten vorstellen wollen. Auch mit der CSV, die 2017 fünf Prozentpunkte zulegte, dürfte wieder zu rechnen sein. Ob die DP mit der Strategie, weiterhin auf den bislang eher erfolglosen Meisch-Bruder zu setzen, ihr Resultat verbessern können wird, ist fraglich. Mit Ausnahme von Christiane Saeul nehmen die Liberalen am gesellschaftlichen Leben in Differdingen kaum teil.

Kleinparteien Von den kleinen Parteien dürfte déi Lénk die stärkste sein. Immerhin war es ihr Gemeinderat Gary Diderich, der die Gaardenhaischen-Affäre ans Licht brachte, und der zusammen mit DP-Sprecher François Meisch Bürgermeister Traversini im Gemeinderat zu Fall brachte. Das Resultat der Linken wird auch davon abhängen, ob die Wähler/innen Diderich diese Aktion als Verdienst anrechnen oder ob sie ihn als „Nestbeschmutzer“ abstrafen, weil er dem in Differdingen noch immer beliebten Traversini „geschadet“ hat. Neben Diderich wird auch sein Rotationspartner Eric Weirich erneut kandidieren, genau wie der DJ Packo Gualandris und Sonya Scalise, die schon 2017 dabei waren. Zum ersten Mal wird die Differdinger Stadtbibliothekarin Fio Spada für déi Lénk antreten.

Gespannt sein darf man auf das Abschneiden der KPL. Gemeinderat Ali Ruckert wird jedenfalls wieder kandidieren, wie schon 2017 auf einer offenen Liste. Damals konnten die Kommunisten mehr Wähler/innen mobilisieren als déi Lénk. Die Anzahl der Kleinparteien wird aber voraussichtlich weiter steigen. Die ADR, die 2011 und 2017 den Einzug in den Gemeinderat verfehlte, wird mit den Brüdern Lex und Jean-Marie Schroeder antreten. Auch die Piraten und déi Konservativ wollen erstmals eine Liste aufbieten, Spitzenkandidat/innen haben sie noch nicht.

Obwohl bislang keine ein Programm veröffentlicht hat, sind sich alle im Gemeinderat vertretenen Parteien den Herausforderungen in der drittgrößten Stadt Luxemburgs bewusst. Claude Meisch war 2005 angetreten, um Differdingen zu „modernisieren“, Roberto Traversini hat dessen Vision weitergeführt. Mit Ausnahme der Hauptstadt ist keine große Gemeinde in den vergangenen 20 Jahren so schnell gewachsen wie Differdingen. Seit 2001 hat die Bevölkerung um 57 Prozent zugenommen (in Esch/Alzette wuchs sie im gleichen Zeitraum nur um 33 Prozent). Das hat nicht nur Auswirkungen auf den Autoverkehr, sondern auch auf die restliche Infrastruktur. Trotz 20 Jahren grüner Beteiligung im Schöffenrat verfüge die Stadt über kein ordentliches Radwegenetz, kritisiert Gary Diderich; die LSAP beklagt sich über die schlechte Anbindung an das Eisenbahnnetz. Der Zug von Differdingen bis in die Stadt Luxemburg brauche 40 bis 50 Minuten, bemängelt Pierre Hobscheid, von der Nachbargemeinde Petingen aus seien es lediglich 20 bis 25 Minuten.

Mit dem Viertel Arboria hat der Bauunternehmer Eric Lux auf dem Plateau du funiculaire eine eigene Stadt in der Stadt gebaut, die nicht nur über Wohnungen und Kindertagesstätten, sondern auch über ein großes Einkaufszentrum verfügt, das wesentlich dazu beiträgt, dass das Geschäftsleben im alten Stadtkern ausstirbt. Wirksame Lösungen, um den drohenden Verfall zu verhindern, hat bislang noch keine Partei vorgelegt.

Durchmischung Manche Projekte, die in den vergangenen Jahren in Differdingen entstanden sind, gehen auf private Initiativen zurück (Schwimmbad Aquasud, Lunex Sportuni) andere wurden von der Gemeinde mit Unterstützung des Staats umgesetzt (École internationale, Creative Hub 1535°C). Das Ziel – sowohl von Meisch, als auch von Traversini – war es, die „soziale Durchmischung“ in der einstigen Arbeiterstadt zu erhöhen – also mehr Menschen aus höheren Einkommensschichten anzuziehen. Die Linke mutmaßt, dass mit den neuen Institutionen zahlungskräftigere Expats nach Differdingen gezogen seien, was sich an den gestiegenen Wohnungspreisen erkennen lasse. Gleichzeitig leben vor allem im Stadtzentrum viele Menschen aus den unteren Einkommensschichten. Die Oppositionsparteien sind sich einig, dass es an bezahlbarem Wohnraum in Differdingen fehle. Im Rahmen der Agence immobilière Kordall und in den Gravity Towers hat die Stadt zwar 180 erschwingliche Wohnungen geschaffen, doch die Linke würde gerne noch dichter bauen, während die DP den Schutz der alten Bausubstanz, den Traversini im Zentrum eingeführt hat, wieder rückgängig machen will.

Die Mehrheitsparteien planen derweil schon die nächsten Vorzeigeprojekte. Das aus einer privaten Initiative des Juristen und Investors Nicolas Didier entstandene Science Center soll in den nächsten Jahren dank staatlicher Fördergelder in die Halle der früheren Groussgasmaschinn der Arbed umziehen. Samt Konferenzzentrum und einer Sternwarte soll es Besucher und Touristen anlocken, hofft Schöffe Tom Ulveling.

In Differdingen wird gerne groß gesehen. Manchmal auch zu groß. Erst im Januar hat die Stadt für zwölf Millionen Euro das Hotel Gulliver Tower mit 45 Zimmern und fünf großräumigen Suiten gekauft. Der private Investor, der es gebaut hatte, wollte dort Gäste aus aller Welt empfangen. Kurz nach der Eröffnung musste er „wegen Corona“ Konkurs anmelden. Immerhin dürfen jetzt Flüchtlinge aus der Ukraine dort wohnen.

Luc Laboulle
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