ArcelorMittal und Stahltripartite

Zuckerbrot und Peitsche

d'Lëtzebuerger Land vom 18.12.2008

Sie machen es spannend bis zum letzten Augenblick. Der ist voraussichtlich am heutigen Freitag, wenn die nationale Stahltripartite zusammen kommt, um das Investitions- und Restrukturierungsprogramm für die Luxemburger Stahlbranche zu unterschreiben. 

Dem letzten Entwurf von Lux2011 zufolge, den die Verhandlungspartner am Dienstag paraphierten, und der dem Land vorliegt, wird die betriebsinterne cellule de reclassement (CDR) für die Vertragsdauer weitergeführt, in der Arbeitnehmer aufgefangen werden, deren Job konjunkturell oder strukturell bedingt abgebaut wird. Weil der Staat über den Beschäftigungsfonds einen Teil der  Kosten für die cellule de reclassement übernimmt, war Arbeitsminister François Biltgen in den vergangenen Wochen sehr darauf bedacht, zu unterstreichen, dass es für ArcelorMittal keine finanziellen Extrawürste geben würde. Wirtschafts- und Arbeitsministerium hätten daher durchgerechnet, dass die CDR den Staat nicht mehr kostet, als wenn der Konzern von anderen gesetzlichen Möglichkeiten des maintien dans l’emploi – wie die Kurzarbeit – profitiert, so ein Insider. Auf dass ja niemand auf die Idee komme, ArcelorMittal erhalte unzulässige Staatsbeihilfen. Im Gegenzug verpflichtet sich die Konzernleitung wie auch in der Vergangenheit schon, keine Arbeitnehmer zu entlassen. 

Die CDR, das ist neu, wird nicht nur solche Arbeitnehmer aufnehmen, die bereits bei ArcelorMittal unter Vertrag stehen, sondern auch als Eintrittsportal für Arbeitssuchende von außerhalb dienen. Mittels befristeter Arbeitsverträge sollen dort bei der Adem eingeschriebene Arbeitslose für eine Karriere in der Stahlproduktion ausgebildet werden. 

Somit können Arbeitnehmer und Gewerkschaftsvertreter angesichts des angekündigten Stellenabbaus einstweilen aufatmen. Denn über den Zeitraum 2009 bis 2011 sieht das Abkommen Lux 2011 vor, dass bei schwacher Konjunktur in der Produktion 485 Mitarbeiter weniger gebraucht würden als Ende 2007. Bei guter Konjunktur würden immer noch 392 Mitarbeiter weniger gebraucht. Sollte das Abkommen heute nicht unterzeichnet werden und nicht am 1. Januar 2009 in Kraft treten können, müssten auch diese Arbeitnehmer sich beim Arbeitsamt melden.

Dabei bieten die Verhandlungen um die Vorruhestandsregelungen noch genügend Zündstoff, um die Verhandlungspartner heute im Streit auseinandergehen zu lassen (d’Land, 10.10.2008). Das Abkommen sieht einstweilen den prinzipiellen Ausstieg aus der préretraite ajustement vor: „Étant donné qu’il est prévu qu’au cours des années à venir et grâce à la mise en œuvre du présent accord, la sidérurgie luxembourgeoise pourra mener à terme son ajustement structurel, les parties conviennent de proposer à la Tripartite Sidérurgique un modèle de sortie des dispositifs de préretraite ajustement, selon les modalités décrites dans l’Annexe 1 du présent accord.“

Im besagten Anhang verpflichtet sich das Unternehmen erstens eine Verlängerung der préretraite ajustement für die Jahrgänge 1952 und 1953 zu beantragen, wobei der Arbeitgeberkostenbeitrag maximal 30 Prozent betragen würde. Zweitens wollen die Vertragspartner eine zusätzliche Kon­vention über die Anwendungsmoda­litäten der solidarischen Vorruhe­stands­regelung beschließen. Über diesen Weg soll es den Mitarbeitern des Jahrgangs 1954 ermöglicht werden, frühzeitig aus dem Dienst auszuscheiden. 

Ob es bei diesem Abkommen bleibt, wird sich erst heute entscheiden. Denn vor allem der Arbeitsminister, das hatte ArcelorMittal-Direktionsmitglied Michel Wurth gesagt (d’Land, 10.10. 2008), suche unbedingt den Ausstieg aus der préretraite ajustement. Zumindest zu dem Billigtarif, von dem die Stahlbranche bisher profitiert. Le­diglich zehn Prozent der Kosten, so eine Quelle, trug das Unternehmen bisher selbst. Wie es auch ausgeht, der Arbeitgeberbeitrag wird steigen, dabei hatte Wurth schon im Oktober angedeutet, falls es die préretraite ajustement zum gleichen Tarif geben würde, wie die préretraite solidarité – also 30 Prozent – wäre das für ihn akzeptabel.

Angesichts der Garantien für die Arbeitnehmer – keine Entlassung, Weiterzahlung des integralen Lohns in der CDR, Umschulung und Weiterbildung in der CDR, Aussicht auf Vorruhestand – ist abzusehen, dass die Gewerkschaften das Abkommen als Erfolg feiern werden – trotz Arbeitsplatzabbau, trotz zunehmender Flexibilisierung. Denn das Arbeitszeitkonto, auf das im Fall schlechter Konjunktur zurückgegriffen werden soll, wird auf 40 Tage erhöht, der Rückgriff auf Leiharbeit und das Outsourcing von bestimmten Aktivitäten explizit zugelassen um Konjunkturschwankungen künftig ohne Arbeitsplatzabbau überstehen zu können. 

Als Erfolg wird man das Abkommen aber auch deshalb verkaufen können,  weil sich argumentieren lässt, dass der Konzern im Gegenzug weiter massiv investiert und damit den Fortbestand der Metallurgie in Luxemburg überhaupt absichert. In Differdingen sind für 2008 bis 2011 Projekte im Wert von 27,9 Millionen Euro zugesichert, in Belval sind es 14,6 Millionen in Rodange und Schifflingen 9,4 Millionen Euro. Die Drahtzieherei in Bettemburg soll ihre Produktion völlig umstellen: Die Herstellung von steel cord, das zur Stabilisierung von Reifen genutzt wird, soll eingestellt, die Produktion von saw wire, dünnen Drähten, die zum Schneiden von Silizium genutzt werden können, dagegen hochgeschraubt werden. Das saw wire bringt mehr Geld ein und daher werden in dieses Projekt rund 3,1 Millionen investiert. In Bissen sind ebenfalls Investitionen in Höhe von 8,4 Millionen Euro versprochen, in Düdelingen in Höhe von 3,7 Millionen Euro. 

Dabei sind – wie der Konzern vor wenigen Wochen bekannt gab – die Verwaltungsangestellten gegen Stellenabbau keinesfalls gefeit. Im Zuge des weltweiten Sparprogramms werden 400 Jobs in der zentralen Verwaltung in Luxemburg gestrichen – auf freiwilliger Basis, und dafür bietet der Konzern nicht wenig Zuckerbrot. In einem zweiten Anhang zu Lux2011 halten die Vertragspartner fest, dass 230 Posten in der corporate-Abteilung und 170 Posten in den unterstützen­den Abteilungen abgebaut werden. Die Abfindungen reichen von sechs Monatsgehältern für solche Mitarbei­ter, die seit weniger als fünf Monaten im Dienst sind, bis zu 18 Monatsgehältern für die, die schon seit über 25 Jahren für die Firma arbeiten. Davon ausgeschlossen sind die Angestellten, auf die ArcelorMittal auch in Krisenzeiten nicht verzichten möchte, sowie solche, die innerhalb von 18 Monaten in den Vorruhestand gehen können. 

Wer freiwillig geht, wird zusätzlich abgesichert. Sollte der neue Arbeitgeber innerhalb von zwei Jahren aus wirtschaftlichen Ursachen entlassen, können die Mitarbeiter wieder zu ArcelorMitttal zurückkehren, auch wenn sie dann einen Teil der Abfindung zurückzahlen müssen. Daneben gibt es 3 000 Euro für jene, die sich umschulen lassen möchten, 5 000 Euro pro Kopf maximal, damit Außenvermittlungsagenturen den Abgängern eine neue Stelle finden, 2 500 Euro für jene, die ins Ausland umziehen müssen. Den Mitarbeitern, die sich mit einer eigenen Firma selbstständig machen möchten, bietet ArcelorMittal gar 15 000 Euro, also mehr als das Minimalkapital einer Luxemburger s. à r. l. 

Ob dieses Angebot ausreichend sein wird, damit 400 Angestellte freiwillig ihre Sachen packen, und ob danach die Angst des verbleibenden Personals vor der geringen Arbeitsplatzsicherheit gelindert ist? Denn angesichts dieser Anreize drängt sich doch der Verdacht auf, dass die Gunst der konjunkturell schwarzen Stunde genutzt wird, um strukturelle Probleme zu lösen, sprich Personal abzubauen, das auch ohne Rezession überflüssig gewesen wäre. Besonders, da die Fusion von Arce­lor und Mittal noch keine zwei Jahre zurückliegt und das Personal am Hauptsitz bisher aufgestockt wurde. Und man muss wahrlich kein Betriebswirt sein, um zu wissen, dass bei Fusionen normalerweise das Gegenteil der Fall ist.

Michèle Sinner
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