ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Bakunins Traum

d'Lëtzebuerger Land vom 11.07.2025

Während Jahren klagten DP, LSAP und Grüne, wie kompliziert die versprochene Individualisierung der Einkommensteuer sei. Dann schlug Finanzminister Gilles Roth vergangene Woche die Verallgemeinerung der Steuerklasse 1a vor. Um über 20 Jahre die Umverteilung von Junggesellen zu Ehepaaren rückgängig zu machen. Alle waren begeistert: CSV, DP, LSAP, Grüne, Linke, Piraten. Bis auf zwei Ausnahmen.

Die Abschaffung der Steuerklassen bedeutet die Abschaffung der gemeinsamen Veranlagung mit Ehegattensplitting. Das heißt das Ende der Bezuschussung der christlich-sozialen Hausfrauenehe. Den Gnadenstoß versetzt nun ausgerechnet die CSV. Die Konservativen wollen mit der Zeit gehen.

Also meldete die ADR bei allem Verständnis für Steuersenkungen „e ganz décke Probleem“ (RTL, 1.7.). „Mat dësem Modell géif de Staat géint Famillje schaffen, an deenen eng Persoun doheem bleiwe wëllt, an dat kéint een esou net matdroen, sot de Fraktiounschef Fred Keup“ (100,7, 1.7.).

„D’ADR vertrëtt kloer eng natalistesch Politik. Mir ënnerstëtzen d’Famill zu Lëtzebuerg, esou datt méi Kanner hei gebuer ginn.“ Heißt es im Wahlprogramm 2023 (S. 24). Wie alle rechten Parteien will sie den nationalen Kinderreichtum fördern. Um die Zahl der Ausländer zu senken.

Mit „ADR-Elteregeld“ will sie, dass „ee vun den Elteren, ganz oder deelweis, doheem bei der Famill ka bleiwen“ (S. 23). Damit die Kleinen in der Kinderkrippe nicht Tatta Tom über den Weg laufen. Also will sie „keng steierlech Ofschafung vun der Famill iwwer eng komplett Individualiséierung vum Steiersystem“ (S. 286).

Die ADR will stets die CSV von früher sein. Ihr politisches Programm ist das Re-enactment des CSV-Staats der Fünfzigerjahre: Als die Kirche im Dorf blieb, der Lehrer mit dem Lineal „Pouten“ austeilte. Als die Ehefrau zuhause kochte, putzte, wusch. Weshalb sollte der Brotverdiener sie nicht steuerlich absetzen können?

Nun fand die ADR überraschend einen Verbündeten. Anfang Mai veröffentlichte der Handelskammerverein Idea eine Broschüre Est-il venu le moment de fiscalement rompre ? Sie befasst sich mit der Individualisierung der Einkommensteuer. Als Verfasser hatte Idea nur Autorinnen und Autoren ausgewählt, die gegen die Individualisierung schrieben: „[C]ette réforme n’est pas nécessaire“ (S. 60). „[I]l ne semble ni souhaitable, ni attendu, que soit osé le grand bouleversement“ (S. 87).

Zur Rechtfertigung ihrer Ablehnung werden die Handelskammerleute antiliberal: „[À] quoi bon adopter l’imposition individuelle – qui plus est dans un monde déjà largement empreint d’individualisme ?“ (S. 72). Im Tonfall der ADR warnen sie vor einem „coup de canif“ gegen „le foyer comme un des fondements, parmi les plus solides, de la société“ (S. 70).

Am Ende vergleichen sie den christlich-sozialen Finanzminister mit einem honorigen Anarchisten: Gilles Roth wolle „réaliser le rêve de Mikael Bakounine d’,abolition, non de la famille naturelle, mais de la famille légale, fondée sur le droit civil et sur la propriété‘“ (S. 108).

Die Unternehmer werden sentimental. Sie fürchten, dass die Reproduktion der Arbeitskraft teurer wird. Sie mehr Brutto zahlen müssen. Wenn manchen Ehepaaren weniger Netto vom Brutto bleibt. Anders als die ADR werfen sie CSV und DP vor: „[C]ette réforme semble globalement incohérente dans le projet fiscal libéral de l’accord de coalition“ (S. 59).

Nun wolle die Regierung die Wähler für die Individualisierung der Einkommensteuer gewinnen. Sie versuche, „de les séduire, voire de les corrompre, par de futurs mirages budgétaires“ (S. 108). Gemeint ist der inzwischen auf 800 bis 900 Millionen Euro geschätzte Brutto-Steuerausfall. Die Steuersenkungen für Junggesellen kommen vor den Wahlen. Die 900 Millionen sollen die Steuererhöhungen für Ehepaare bis nach den Wahlen aufschieben. Die Handelskammer sähe es lieber, wenn die „mirages budgétaires“ statt der Wähler die Unternehmer korrumpierten.

Romain Hilgert
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