ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Janus

d'Lëtzebuerger Land vom 13.06.2025

Jede Epoche und Klasse hat ihre Konstruktionen von sexueller Normalität und Perversion. Ihre technischen Umschreibungen, ihre Kataloge von Paraphilien, Sexualpräferenzstörungen. Bei aller Permissivität gelten Pädophilie, Inzest derzeit als die abscheulichsten aller Perversionen. Sie verletzen die Letzten in dieser Gesellschaft, die noch unschuldig sind. Sie beschädigen die Körper, die Psyche von Kindern. Rauben ihnen die sorgenfreie Zukunft, um die Erwachsene längst betrogen sind.

Pädophile genießen den Rausch grenzenloser Macht über einen wehrlosen, ausgelieferten Körper. Ihn abzubilden, zu verletzten, zu zerstören. Nebenbei betreiben sie analogen und digitalen Warentausch damit.

Die Perversion, so Elisabeth Roudinesco, „est une structure psychique : on ne naît pas pervers, on le devient en héritant d’une histoire singulière et collective où se mêlent éducation, identifications inconscientes, traumatismes divers. Tout dépend ensuite de ce que chaque sujet fait de la perversion qu’il porte en lui : rébellion, dépassement, sublimation – ou, au contraire, crime, anéantissement de soi et des autres“ (La Part obscure de nous-mêmes, Paris, 2007, S. 93).

Dass ein Mann wegen Pädophilie oder Inzest verurteilt wird, kommt häufiger vor. Eine Frau weniger. Seit einigen Wochen sorgt ein Fall von Pädophilie für besonderes Aufsehen. Weil er sich nicht bloß im Verborgenen eines Hinterzimmers, eines Internetforums abspielte. Sondern in der Öffentlichkeit gleich doppelt skandalisiert wurde.

Bei dem erstinstanzlich Verurteilten wurden 7 057 Fotos und 410 Videos mit Kinderpornographie beschlagnahmt. Davon „944 images de sa fille mineure“, heißt es im Urteil vom 27. März. „Ces images ont été faites le 8 mai 2013, partant à une époque où [elle] était âgée de 3 ans“ (S. 5).

Der Verurteilte gehört dem aufgeklärten Kleinbürgertum an. Er war in drei landbekannten Kulturvereinen aktiv. Er galt als leutselig, hilfsbereit. Doch hinter dieser öffentlichen Rolle verbarg er eine dunkle, private Existenz. Dieses Doppelleben empfindet das zahlende Publikum als Betrug. Es gehört ebenfalls dem aufgeklärten Kleinbürgertum an. Es fühlt sich von seinesgleichen verraten. Um sich selbst als Opfer fühlen zu dürfen. Wenn niemand mehr den Helden spielen will, werden alle neidisch auf die Opfer.

Seit über 150 Jahren hat das Luxemburger Wort Übung darin, sexuelle Angriffe auf Kinder zu vertuschen, Täter in Schutz zu nehmen, Opfer zu beschuldigen. Besonders klassenbewusst, wenn die Täter dem Klerus angehörten: „Wir glauben fest, daß der Herr Pastor von Marnach unschuldig ist, 3) weil selbst den bestimmtesten Aussagen religiös u. sittlich verkommener Menschen kein Glaube beizumessen ist“ (13.7.1869).

Vor drei Wochen wandte sich das Wort dem Täter zu. Es bot ihm die Gelegenheit, sich – öffentlich und anonym zugleich – in ein Opfer zu verwandeln. Für 3,10 Euro erregte es seine Leserschaft mit einem Blick in die Abgründe einer perversen Seele: „Das Selbstbildnis eines Sexualstraftäters“ (23.5.25). Das konservative Blatt wagte seine Transgression. Unter dem üblichen Vorwand journalistischer Ideale lebte es seine eigene Perversion aus: den Voyeurismus.

Wie die meisten Pädophile zeigte der Verurteilte keine Gefühlsregung für seine Opfer. Nur für sich selbst: „Ich fühle mich als Persona non grata. [...] Es ist äußerst brutal, wie mit mir umgegangen wird. Besonders, wenn man bedenkt, dass Pädophilie eine Krankheit ist.“ Beziehungsweise zur Krankheit wird, sobald die Kriminalpolizei klingelt. Dann tritt der liberale Hedonist die Verantwortung für die enthemmte Lustbefriedigung an die Krankheit ab.

„Mais, par son statut psychique qui renvoie à l’essence d’un clivage“, schreibt Elisabeth Roudinesco über die Perversion, „elle est également une nécessité sociale. Elle préserve la norme tout en assurant à l’espèce humaine la permanence de ses plaisirs et de ses transgressions“ (S. 4).

Romain Hilgert
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