Nukleare Abrüstung ist zum Stillstand gekommen. Nichtsdestotrotz kann Luxemburg das Ziel einer atomwaffenfreien Welt durch konkrete Maßnahmen unterstützen

Atomwaffen und Asselborn

d'Lëtzebuerger Land vom 06.01.2023

„BALLISTIC MISSILE THREAT INBOUND TO HAWAII. SEEK IMMEDIATE SHELTER. THIS IS NOT A DRILL.“ Dieser Alarm über eine herannahende – potenziell nuklear bewaffnete – Rakete mag wie eine Nachricht aus dem Kalten Krieg wirken. Tatsächlich aber ereignete sich der Vorfall im Januar 2018, zu Zeiten erhöhter Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und Nordkorea: Nordkorea hatte vermehrt Raketen- und Atomwaffentests durchgeführt, US-Präsident Trump drohte vor der UN-Vollversammlung Nordkorea „komplett zu zerstören“1. Während einer halben Stunde durchlebten die Menschen auf Hawaii Todesängste, bis sich herausstellte, dass die Warnung ein Fehlalarm war. 

Leider ist dies kein Einzelfall. Die Liste an nuklearen Drohungen, Fehlalarmen und Zusammenstößen zwischen Atommächten ist lang – und wird immer länger: Putin droht Europa und den USA mit der Vernichtung, um seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu decken; in Kaschmir stehen sich das verfeindete Indien und Pakistan direkt gegenüber; chinesische und indische Soldaten töten sich gegenseitig an umstrittenen Grenzen. Diese Spannungen sind gefährlich. Auch die verantwortungsbewusstesten Staatsoberhäupter können in solch unklaren, sich rasch ändernden Lagen Fehlentscheidungen treffen, sodass die Situation ungewollt eskaliert und schlimmstenfalls in einem Atomkrieg enden könnte. Zur Deeskalation braucht es demnach nicht nur besonnene Entscheidungsträger, sondern auch – Glück. 

Die nuklearen Drohungen und Zwischenfälle der letzten Zeit bestätigen: Atomwaffen sind kein Relikt des Kalten Krieges. Zwar ist die weltweite Anzahl der Kernwaffen seit Mitte der achtziger Jahre von rund 70 000 kontinuierlich auf heute fast 13 000 gefallen, Grund zum Aufatmen bietet das allerdings nicht. Bereits eine einzige Atomwaffe kann zehn- bis hunderttausende Menschen töten und eine Stadt vernichten; ein regionaler Nuklearkrieg hätte, neben den verheerenden Folgen für die lokale Bevölkerung, globale klimatische Folgen und würde zu Ernteausfällen und Hungersnöten führen2.

Trotz dieser katastrophalen Konsequenzen hat der Abrüstungstrend des Kalten Krieges nicht angehalten, im Gegenteil. In den letzten zehn Jahren hat sich die Reduzierung der Atomwaffenbestände verlangsamt und alle neun Atommächte – Russland, die USA, China, Frankreich, Großbritannien, Pakistan, Indien, Israel und Nordkorea – modernisieren oder vergrößern ihre Nukleararsenale.3 Die atomare Abrüstung ist heute vollständig zum Erliegen gekommen.

Die Trendwende von der Ab- zur Aufrüstung lässt sich auch in der internationalen Rüstungskontrollarchitektur beobachten. Im Kalten Kriegen hatten die USA und die Sowjetunion über Jahrzehnte ein Geflecht aus aufeinander aufbauenden Rüstungskontrollverträgen geschaffen. Das Ziel der Abkommen war das atomare Wettrüsten zu kontrollieren, gegenseitige Einblicke in die Arsenale zu bieten und damit für Stabilität zwischen den rivalisierenden Systemen zu sorgen. Während der letzten zwanzig Jahre wurden die meisten Verträge allerdings aufgelöst oder sind durch gegenseitige Anschuldigungen bedeutungslos geworden. Heute gilt nur noch der New START-Vertrag, welcher 2026 ausläuft; Verhandlungen über einen Nachfolgevertrag haben noch nicht stattgefunden. Mit dem Ende von New Start gäbe es keine Beschränkung der beiden größten Atomarsenale der Welt mehr – zum ersten Mal seit fünfzig Jahren. 

Nukleare Weltordnung Die stagnierende Abrüstung beziehungsweise die neue Aufrüstung steht des Weiteren im Gegensatz zum völkerrechtlichen Nichtverbreitungsvertrag, kurz NVV. Der NVV regelt die nukleare Weltordnung: fünf Staaten (Russland, die USA, China, Frankreich und Großbritannien) dürfen Kernwaffen besitzen, allen anderen Vertragsstaaten ist es verboten4. Im Gegenzug erhalten sie Unterstützung bei der Entwicklung und Nutzung von Kernenergie zu zivilen Zwecken (z.B. zur Stromerzeugung) und alle Staaten verpflichten sich „in redlicher Absicht Verhandlungen [...] zur [vollständigen] nuklearen Abrüstung“5 zu führen. Hierin sehen allerdings viele Nichtkernwaffenstaaten ein Problem. Während sie die Nichtverbreitungsklausel einhalten, kommen die Kernwaffenstaaten der Abrüstungsverpflichtung nicht nach: Seit Inkrafttreten des Vertrags in 1970 wurde keine einzige Kernwaffe der fünf obigen Staaten im Rahmen dessen abgerüstet und substanzielle Verhandlungen darüber bleiben aus.

Aufgrund der fehlenden Abrüstung bildete sich im letzten Jahrzehnt eine Bewegung von Staaten und zivilen Organisationen zur Ächtung von Kernwaffen. Dieser Zusammenschluss kulminierte 2017 in der Unterzeichnung des Atomwaffenverbotsvertrags (AVV) bei den Vereinigten Nationen. Im Gegensatz zum NVV verbietet der AVV Atomwaffen komplett: kein Staat darf Kernwaffen besitzen, stationieren oder einsetzen. Außerdem enthält der AVV wichtige Maßnahmen zur Opferhilfe. So erkennt er das Leiden der Überlebenden der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki und der Betroffenen von Atomwaffentests an und verpflichtet die Mitgliedsstaaten dazu, den Opfern medizinische und psychologische Versorgung zu bieten und verseuchte Gebiete zu dekontaminieren. Durch diese umfassenden Maßnahmen sollen die Folgen vergangener Explosionen minimiert und zukünftige Einsätze ausgeschlossen werden. 

Aktuell haben 68 Staaten den AVV ratifiziert, die Kernwaffenstaaten lehnen den AVV allerdings ab. Sie haben ihn nicht unterzeichnet und sind somit nicht an die Vertragsbedingungen gebunden. Ist der AVV demnach ein zahnloser Tiger? Mitnichten – der Besitz von Atomwaffen soll zunehmend delegitimiert werden; durch die Stigmatisierung der Waffen soll der politische Preis höher und die Abrüstung wahrscheinlicher werden. Eine solche normative Herangehensweise hat in der Vergangenheit bereits mehrmals zum Erfolg geführt, beispielsweise beim Verbot von Chemiewaffen, von Antipersonenlandminen und von Streumunition. Außerdem können die Maßnahmen zur Opferhilfe ganz konkret helfen, menschliches Leid zu reduzieren. 

Luxemburgs Standpunkte Laut Koalitionsvertrag von 2018 strebt die luxemburgische Regierung „eine sicherere Welt mit weniger Waffen“ an, unter anderem durch „Initiativen mit dem Ziel der Abrüstung und Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen [Atom-, Bio- und Chemiewaffen]“6. Luxemburg bringt sich im NVV-Rahmen in Diskussionen ein und hat bei einer UN-Konferenz zum aktuellen Status des NVVs bekräftigt, dass es „unerlässlich ist, sich mit den humanitären Folgen von Atomwaffen zu befassen“7

Diese Ziele scheinen sich mit dem AVV zu decken, und doch lehnt Luxemburg diesen Vertrag ab. In der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der déi Lénk-Abgeordneten Nathalie Oberweis erklärte Außenminister Jean Asselborn, dass ein luxemburgischer Beitritt zum AVV nicht mit der NATO-Mitgliedschaft und der nuklearen Abschreckung der NATO vereinbar sei. Außerdem biete der NVV, trotz der fehlenden Fortschritte bei der nuklearen Abrüstung, die günstigsten Rahmenbedingungen zur Abrüstung.8

Bei näherer Betrachtung stellen beide Argumente jedoch nur einen Teil der Wahrheit dar. Prinzipiell sind NATO- und AVV-Mitgliedschaft juristisch kompatibel, allerdings müsste sich Luxemburg im Falle eines AVV-Beitritts von der nuklearen Abschreckungspolitik der NATO distanzieren, da diese tatsächlich nicht mit dem AVV vereinbar ist. Solch eine Positionierung wäre möglich, voraussichtlich aber mit politischen Kosten verbunden.9 

Asselborns zweite Aussage – der NVV biete den besten Rahmen zur Abrüstung – ist strittig. Die Universalität des NVVs und die Verdienste zur Nichtverbreitung von Atomwaffen stehen außer Frage. Fakt ist jedoch auch, dass bislang keine Atomwaffen im Rahmen dessen abgerüstet wurden. Würde die nukleare Abrüstung innerhalb dieses “günstigsten Rahmens” funktionieren, wären heutige Diskussionen über den AVV womöglich obsolet.  

Mögliche Beiträge zur Abrüstung Luxemburg kann allerdings auch ohne AVV-Unterzeichnung Beiträge zur nuklearen Abrüstung liefern. So kann es beispielweise Deutschland und anderen NATO- und EU-Staaten folgen und als Beobachterstaat an AVV-Konferenzen teilnehmen. Der Beobachterstatus wäre eine Möglichkeit die Koalitionsziele anzugehen und hätte mehrere positive Auswirkungen. Erstens wäre er ein stärkeres Bekenntnis zur Abrüstung und zur Anerkennung der katastrophalen Folgen von Atomwaffeneinsätzen; zweitens würde Luxemburg die Konferenzen finanziell unterstützen; und drittens würde eine solche Anerkennung die Legitimation des Vertrags im internationalen System erhöhen. Des Weiteren könnte Luxemburg sich für einen konstruktiven Dialog zwischen AVV-Befürwortern und AVV-Gegnern einsetzen, insbesondere innerhalb der NATO. 

Als Wissenschaftsstandort könnte Luxemburg Forschung zur nuklearen Abrüstung und zu den Konsequenzen von Atomwaffeneinsätzen vorantreiben. Technische Methoden zur Überprüfung von Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträgen müssen weiterentwickelt und an die heutigen und zukünftigen Herausforderungen angepasst werden. Im Rahmen seiner feministischen Außenpolitik, welche unter Anderem „die Gleichberechtigung der Geschlechter [als] Grundvoraussetzung für nachhaltige Entwicklung“10 sieht, könnte Luxemburg die Forschung zu Auswirkungen von radioaktiver Strahlung, insbesondere auf schwangere Frauen und Kinder, fördern. Des Weiteren könnten Opfer von Atomwaffentests durch konkrete Maßnahmen wie die Ausbildung von medizinischem Personal unterstützt werden. 

Den politischen Parteien Luxemburgs bieten sich im Hinblick auf die kommenden Landes- und Gemeindewahlen viele Möglichkeiten, um für eine atomwaffenfreie Welt einzutreten. Einige der Optionen, um auf nationaler und internationaler Ebene Einfluss zu nehmen, wurden in diesem Artikel vorgestellt. Aber auch auf kommunaler Ebene können die Parteien aktiv werden: Sie könnten – wie bereits 63 von 102 Gemeinden – Mayors for Peace unterstützen, eine Städteinitiative zur atomaren Abrüstung, oder durch Städteappelle die Regierung zum AVV-Beitritt auffordern. 

Nukleare Abrüstung mag in den letzten Jahren wieder in weitere Ferne gerückt sein. Dies sollte jedoch kein Grund zur Resignation, sondern ein Ansporn sein, um mehr denn je für eine atomwaffenfreie Welt zu kämpfen.

Max Schalz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsgruppe zu nuklearer Verifikation und Abrüstung der RWTH Aachen und promoviert in Physik.

1 D. J. Trump: „Statement by H.E. Mr. Donald Trump, President of the United States of America, at the Seventy-Second Regular Session of the United Nations General Assembly“. United Nations. Sep. 2017.

2 Forschende haben die Auswirkungen eines Nuklearkonfliktes zwischen Indien und Pakistan simuliert, bei dem 100 Hiroshima-ähnliche Atombomben eingesetzt würden. Die weltweite Durchschnittstemperatur würde daraufhin über mindestens fünf Jahre stark sinken und es käme zu einem Einbruch der Getreideproduktion. Siehe J. Jägermeyr et al:
„A regional nuclear conflict would compromise global
food security“.

3 H. M. Kristensen und M. Korda: „World Nuclear Forces“. SIPRI Yearbook 2022, S. 341. Oxford University Press. Sep. 2022.

4 Nur fünf Länder sind nicht Mitglied des NVVs: die vier weiteren Atomwaffenstaaten (Pakistan, Indien, Israel und Nordkorea) und Südsudan.

5 Auswärtiges Amt: „Text des Vertrages über die Nichtverbreitung von Kernwaffen –NVV – (deutsche Übersetzung)“. Nov. 2000.

6 DP, LSAP und déi gréng: „Koalitionsvertrag 2018-2023“.
S. 183. 2018
7 O. Maes: „Statement by H.E. Mr Olivier Maes Ambassador, Permanent Representative of Luxembourg to the United Nations“. MAEE Luxemburg. Aug. 2022 

8 J. Asselborn: „Réponse commune du Ministre des Affaires étrangères et européennes et du Ministre de la Défense à la question parlementaire no 5191 du 5 novembre 2021 de l’honorable Députée Mme Oberweis“. Dez. 2021

9 S. Hill: „NATO and the Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons“. Chatham House, S. 19. Jan. 2021

10 MAEE Luxemburg: „Plan d’action national « Femmes et paix et sécurité“ 2018-2023”. S. 14. Juli 2018

Max Schalz
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