Ungerecht, rigide und teils überholt. Die Befunde des Bildungs-berichts zum Schulsystem sind alarmierend. Mal wieder

Schule mit Risikoprofil

d'Lëtzebuerger Land vom 21.12.2018

Die eine „Gesamtaussage“ gebe es nicht. Der Satz fiel am Freitag vor 14 Tagen gleich zwei Mal, als der mit Spannung erwartete Nationale Bildungsbericht 2018 im Learning Center der Uni in Esch-Belval vorgestellt wurde. Mit Beiträgen von mehr als 40 Wissenschaftlern zu unterschiedlichen Themenfeldern und aus unterschiedlichen Forschungsdisziplinen sei das schwierig, sagte Thomas Lenz, Bildungsforscher der Uni Luxemburg und Koordinator des Projekts, das Luxembourg Centre for educational testing (Lucet), Uni und Service de coordination de la recherche et de l’innovation pédagogiques et technologiques (Script) gemeinsam verantworten, dem Land. Weil sich die Verantwortlichen schwer taten, präzise Verbesserungsvorschläge zu nennen, gab es nach der Pressekonferenz ratlose Gesichter und die Berichterstattung fiel dünn aus.

Das tut dem zweiten landesweiten Bildungsbericht Unrecht. Denn die 210 Seiten beinhalten Analysen, deren Hauptaussagen vielleicht nicht allesamt neu sind, die aber zeigen, dass das Luxemburger (Regel-)Schulsystem weiterhin mit erheblichen Problemen zu kämpfen hat, um den eigenen Anspruch der Mehrsprachigkeit und der gleichen Bildungschancen für alle, beides Schwerpunktthemen des Berichts, einzulösen.

Bildungsungleichheit hält an

Kinder aus sozial benachteiligten Elternhäusern, mit Migrationshintergrund, die zuhause kein Luxemburgisch sprechen und dem männlichen Geschlecht angehören, haben im Luxemburger Schulsystem nach wie vor schlechtere Erfolgschancen. Obwohl Kinder im zweiten Zyklus mit sehr guten Voraussetzungen starten, öffnet sich danach der Bildungsgraben, dies bei allen gemessenen Kompetenzen (Deutsch-Lese- und Hörverstehen, Rechnen).

Längsschnittstudien der landesweiten Lernstandtests Épreuves standardisées zeigen, dass Kinder aus sozial benachteiligten Haushalten bei allen Kompetenztests schlechter abschneiden als Kinder aus besser gestellten, und dies schon ab dem zweiten Zyklus. Unabhängig von ihrer Muttersprache starten in der dritten Klasse prozentual gesehen die meisten Kinder aus sozial benachteiligten Elternhäusern (61 Prozent) auf einem niedrigen Deutsch-Lesekompetenzniveau und verbleiben in der neunten Klasse darauf oder fallen sogar ab. Nur 18 Prozent der Untersuchten schaffen es, sich bis zur neunten Klasse auf eines der höchsten Épstan-Lernniveaus hochzuarbeiten.

Allgemeine Bildungsexpansion

Forscher untersuchten zudem die Bildungsungleichheit im Zeitverlauf. Entlang unterschiedlicher Geburtsjahrgänge wiesen sie nach, dass in Luxemburg seit den 1960-er Jahren eine Bildungsexpansion stattfand: Der Anteil der Geringgebildeten nahm von 60 Prozent bei den zwischen 1925 und 1934 Geborenen auf weniger als 20 Prozent bei den zwischen 1975 und 1982 Geborenen ab. Vergleicht man sozial Benachteiligte mit Bessergestellten, fällt auf, dass die älteren Jahrgänge eine Wahrscheinlichkeit von 30 Prozent hatten, nur ein niedriges Bildungsniveau zu erreichen, während es bei den jüngeren bei unter zehn Prozent liegt. Das Bildungsniveau ist also im Verlauf der Jahre gestiegen – und Arbeiterkinder profitierten davon. Rosig sind ihre Aussichten heute trotzdem nicht. Lag die Chance, ins Enseignement Secondaire Classique* orientiert zu werden, 2013/14 bei 14,2 Prozent sind es im Jahr 2016/17 noch 8,1 Prozent. Von Jugendlichen, deren Eltern statusniedrige Berufe ausüben, starten 15 Prozent im ES, 57 Prozent im Technique und 21 Prozent im Modulaire. Bei den statusbegünstigten sind es 52 Prozent auf das ES, 39 Prozent im EST und vier Prozent im Modulaire. Lucet-Direktor Antoine Fischbach sprach auf der Pressekonferenz angesichts dieser Schere von „nicht undramatischen Ungleichheiten“.

Hoffnung in die Frühförderung

Die Dreierkoalition, und vor ihr die CSV-LSAP-Koalition, hat massiv in frühkindliche Betreuungsstrukturen investiert. Eine Analyse zeichnet den Boom nach, die Verdreifachung der verfügbaren Kinderbetreuuungsplätze zwischen 2009 und 2018 sowie den Anstieg der öffentlichen Ausgaben für den Betreuungsbereich von 87 Millionen im Jahr 2009 auf insgesamt mehr als 371 Millionen Euro im Jahr 2017. Eine der Schlüsselfragen kann der Bildungsbericht indes mangels Daten nicht beantworten: ob die Ausdehnung und Verbesserung des Betreuungsangebots zu mehr Chancengerechtigkeit beiträgt. Ebenfalls fehlen Studien, die untersuchen, was der massive Ausbau der Fremdbetreuung mit den Kindern macht, wie er sich auswirkt auf ihr Wohlbefinden, ihr Bindungsverhalten, ihren schulischen Werdegang. Die Gratis-Sprachförderung auf Luxemburgisch und Französisch, von Minister Meisch mit dem Ziel eingeführt, Kinder früh mit Luxemburgisch und Französisch vertraut zu machen, um sie auf die Mehrsprachigkeit in der Schule vorzubereiten, besteht erst seit 2017 und konnte daher nicht evaluiert werden.

Zu hohe Sprachanforderungen

Dass der Anspruch der Mehrsprachigkeit in der Schule mit Luxemburgisch als Integrationssprache, mit der Alphabetisierung auf Deutsch ab der ersten Klasse, der Einführung von Französisch ab der zweiten Klasse und hohen Ansprüchen beim Schriftlichen, dem Umstellen von Deutsch als Unterrichtssprache auf Französisch ab der siebten Klasse auf der Sekundarstufe und das spätere Erlernen von Englisch angesichts einer immer heterogener werdenden Schülerschaft eine Riesenherausforderung darstellt, ist bekannt – und wird erneut bestätigt. Der Bildungsbericht unterstreicht gleich mehrere problematische Aspekte beim Sprachenunterricht.

Luxemburgisch doch keine Brücke?

Gute Kompetenzen im Luxemburgisch-Hörverstehen übertragen sich offenbar nicht automatisch auf das Deutsch-Hörverstehen, wie Längsschnittstudien zeigen. Während die Mehrheit der luxemburgisch- und deutschstämmigen Kinder, die im ersten Zyklus an Luxemburgisch herangeführt wurden, ein Jahr später beim Deutsch-Hörverstehen gut abschneiden, fällt dies den französisch- und portugiesischstämmigen Kindern trotz guter Luxemburgischkenntnisse zu Beginn der Schullaufbahn erheblich schwerer. Ein Beitrag zum Schrifterwerb im Deutschen untersucht das Phänomen genauer: Die vermeintliche Sprungbrettfunktion von Luxemburgisch, das laut Bildungsministerium als „eine gefestigte Grundlage für den Erwerb des Deutschen in der Grundschule“ dienen soll und mit der Claude Meisch die Einführung von Luxemburgisch und Französisch im Kindergarten begründet, scheint so nicht gegeben. Eine Erklärung könnte sein, dass die Übertragungsarbeit, die bei der Alphabetisierung auf Deutsch geleistet werden muss, für Kinder, für die Deutsch und Luxemburgisch Fremdsprachen sind, zu anspruchsvoll ist.

Wechsel mit „Schockwirkung“

Mit dem Wechsel der Grundschule auf die Sekundarstufe wechselt von der siebten Klasse die Unterrichtssprache im Fach Mathematik von Deutsch auf Französisch (später in weiteren Fächern). Dieser Sprachwechsel ist ein kritischer Moment für luxemburgischsprachige SchülerInnen, die nicht sattelfest im Französischen sind: Forscher konnten nachweisen, dass sogar Probanden, die in Luxemburg zur Schule gegangen sind und an einer frankophonen Hochschule in Belgien studiert haben, bei komplizierten Rechenaufgaben in französischer Sprache länger brauchten als in deutscher Sprache. Aber auch bei einfachen Rechenaufgaben ist die Fehlerquote bei SchülerInnen, deren erste Sprache Luxemburgisch ist, im Französischen deutlich höher.

Diskriminierende Orientierung

Die Übergangsempfehlung von der Grundschule auf die Sekundarstufe stand und steht immer wieder im Verdacht, bestimmte Schülergruppen zu benachteiligen. In Luxemburg scheint die große Mehrheit der Übergangsempfehlungen mit den Leistungen der SchülerInnen auf der empfohlenen Schulstufe übereinzustimmen, die gemessene Passung betrug rund 90 Prozent. Bei unklaren Profilen, wo die Empfehlungen nicht so eindeutig ausfielen, konnten die Forscher zudem keine soziale Selektivität feststellen. Allerdings wurden leistungsstarke portugiesische SchülerInnen mit klarem Profil verstärkt in den Technique empfohlen, obwohl sie das Zeug für das Classique gehabt hätten. Die Analyse ergab zudem, dass diejenigen SchülerInnen, deren Leistungsniveau zwischen EST und ES schwankte, die also nicht eindeutig einer Schulstufe zuzuordnen waren, höhere Lernerfolge hatten, wenn sie für die höhere Schulstufe empfohlen wurden.

Durchlässigkeit – nach unten

Schüler wechseln die Schulstufe, allerdings meist in Richtung niedrigere Schulform. Die meisten Schulformwechsel finden innerhalb der Unterstufe des EST statt, während Wechsel zwischen ES und EST seltener erfolgen – und wenn, dann nach unten. Auch die Verbleiberaten schwanken stark: Während 94 bis 96 Prozent der SchülerInnen aller Klassenstufen im ES bleiben, ist die Haltekraft der anderen Schulformen geringer. Für eine Jugendliche, die im ES startet, beträgt die Wahrscheinlichkeit, ihre Schulkarriere dort zu beenden, 73 Prozent. Für eine Jugendliche hingegen, die ihre Laufbahn in der siebten EST startet, liegt die Wahrscheinlichkeit, diese mit der 13. Klasse zu beenden, bei nur 28 Prozent. Die Abwärtsmobilität ist nicht geschlechts- und auch nicht sozial neutral: Jungen wechseln häufiger auf niedrigere Schulformen, Schüler aus sozial benachteiligten Familien, ohnehin öfter in niedrigeren Schulformen vertreten, wechseln früher und häufiger vom ES ins EST.

Einige Widersprüche

Im Bericht stehen weitere Forschungsergebnisse, die aufhorchen lassen: etwa zur schleichenden Entwertung der Hochschulabschlüsse. Die Arbeitslosigkeit unter Akademikern ist im EU-Mitgliedsland Luxemburg vergleichsweise niedrig, insofern lohnt sich der Besuch weiterführender Studien weiterhin. Die analysierten Datensätze zeigen jedoch, dass sich die Bildungsinvestitionen hierzulande nicht unbedingt in barer Münze auszahlen. Andere Autorenbeiträge stellen laufende Forschungsprojekte vor, deren Wert für die hiesige Bildungsdebatte derzeit unklar ist, etwa zum Französischunterricht oder zur so genannten Language Awareness von Lehrkräften. Der Bericht beinhaltet sogar tendenziell widersprüchliche Ansätze und Schlussfolgerungen, die mal mehr, mal weniger empirisch belegt sind, etwa wenn eine Autorin die Einbindung der Muttersprache und die frühe Heranführung an Luxemburgisch und Französisch in der Frühförderung optimistisch begrüßt, an anderer Stelle aber deutliche Zweifel erklingen, ob dies nicht zur kognitiven Überforderung von Kindern beiträgt.

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die Regelschule vergeudet mit ihren starren mehrsprachigen Anforderungen viel Talent und hat noch immer keine Antworten, um Schüler mit so genanntem „Risikoprofil“ wirksam zu unterstützen. Es bestätigt sich eine Annahme, die der erste Bildungsbericht 2015 noch als Frage formulierte: ob Luxemburg „ein Schulsystem für die Schülerpopulation von gestern“ habe. Das herkömmliche System gerät angesichts des wachsenden Anteils an Schülern, die daheim kein Luxemburgisch sprechen, immer stärker unter Druck und löst den zentralen Anspruch, Kindern gleiche Bildungschancen einzuräumen und bestmöglich auf das Berufsleben vorzubereiten, nicht mehr oder nur ungenügend ein. Betrachtet man die wirtschaftspolitischen Akzente dieser Regierung – Ausbau von IT, Forschung und Fintech–, sind die miesen Ergebnisse in Mathe besonders alarmierend. Nicht einmal das Classique kann sich dem Veränderungsdruck entziehen: Die Zahl der ES-Schüler, die internationalen Lehrplänen folgen, ein Bac international oder A-Levels anstreben, steigt. Waren es im Bildungsbericht 2015 29,5 Prozent, sind es mittlerweile 35,5 Prozent. Auch bei leistungsstarken SchülerInnen verliert das herkömmliche System demnach offensichtlich an Zuspruch, sei es, weil sie den Sprachanforderungen nicht gewachsen sind und/oder ihnen die Sprachenangebote nicht zusagen.

Déjà vu – (presque) rien fait

Inzwischen bieten Lyzeen verstärkt Mathe auf Deutsch an, eine Generalüberholung aller Lehrpläne hinsichtlich des Sprachenfaktors steht jedoch aus. Die Forderung, Deutsch und Französisch in der Grundschule als Fremdsprachen zu unterrichten, wie sie im Bildungsbericht anklingt, taucht alle Jahre wieder auf, ohne dass Konkretes darauf folgt. Claude Meisch (DP) war bei der Vorstellung der Ergebnisse nicht anwesend. Vielleicht wartet das Ministerium auf die Empfehlungen durch Experten des neu geschaffenen Bildungsobservatoriums. Klar ist: Der Bildungsbericht 2018 birgt Sprengstoff. Trifft die Annahme, Luxemburgisch diene quasi automatisch als Brücke in Richtung Deutsch, so nicht zu, hat Minister Meisch mit der sprachlichen Frühförderung auf Luxemburgisch und Französisch womöglich auf das falsche Pferd gesetzt – und es müssten andere Unterstützungsmaßnahmen her. Sprachexperten hatten den Minister übrigens im Vorfeld seiner Initiative darauf hingewiesen, und auch das Land hatte thematisiert, dass die Brückenfunktion wissenschaftlich nicht gesichert ist.

Um Kinder bei ihrem Parcours durch das mehrsprachige Schulsystem wirkungsvoll zu unterstützen, braucht es mehr motivierte und in (Fremd-)Sprachendidaktik qualifizierte Lehrkräfte, die wissen, welche Schüler mit welchem Sprachhintergrund sie wann und wie am besten fördern. Leider sind jüngste Meldungen da ebenfalls ernüchternd: Immer mehr Anwärter auf den Lehrerberuf erfüllen selbst nicht die Sprachanforderungen, die es für einen anspruchsvollen Sprachenunterricht braucht. Zugleich haben viele Lehrer und ihre Berufsvertretungen, aber auch Eltern, große Vorbehalte, die Sprachanforderungen von Grund auf zu hinterfragen. Ein Teufelskreis ohne Ausweg.

* Die alten Bezeichnungen wurden beibehalten, da die meisten Daten aus der Zeit vor der Namens-
änderung stammen.

Ines Kurschat
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