Die kleine Zeitzeugin

Die Leichtigkeit des Seins

d'Lëtzebuerger Land du 24.07.2020

Nichts ist mehr so einfach wie Äddi a Bojuer, bei Bojuer und Äddi nicht und bei all dem dazwischen nicht. Dem Zwischenmenschlichen. Da ist jetzt so viel dazwischen.

Die Gräben zwischen uns werden wieder breiter, besser Graben als Grab, denkt die, die erbärmlich am Leben hängt. Äddi, leichtlebige Kussi-Kussi- Kultur, gerade erst rissen wir uns die Masken vom Maul, fielen einander röchelnd vor Glück um den Hals. Alles schäumte über, wir schäumten über vor Liebensfreude. Und schon ist der Dämpfer da. Alles ist wieder gedämpft. Wir sollen am besten nur mit Nahestehenden nahe stehen, die, die keine nahe Stehenden haben, stehen alleine da. Maskierte Schemen huschen vorbei, Bojuer und schnell Äddi genuschelt.

Es gab mal eine Zeit, wie ist sie weit, da war alles so einfach. Man ging aus dem Haus, einfach so, ja, okay, mit Schlüssel, eventuell ein paar Kröten, Karten, ein paar Komische gar mit Buch. Man konnte das Haus pfeifend verlassen und auf alles pfeifen. Ohne dass man Angst hatte, dass eine einer was hustete. Sogar einfach wo rein gehen, sich an einen Tisch setzen und einen Kaffee verlangen, weil es einen eben nach einem Kaffee verlangte. Eine Tasse anfassen, ohne dass ein inneres Alarmsignal aufheulte. Ohne dass man auf den Verdrängungsbeschwichtigungsnarkotisierungsknopf drücken musste: Neinnein, das ist hier ein vertrauenswürdiger Ort, hier verkehren nur vertrauenswürdige Desinfizierte. Das Personal schaut so desinfiziert aus. Hier verkehren nur welche aus vertrauenswürdigen Ländern. Wobei …

Einst konnte man sitzen und glotzen, vor sich hin. Sich sogar ins Gesicht fassen, was man nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen 120 Mal pro Stunde tut! Einfach so haben wir das gemacht, ohne uns groß einen Kopf zu machen. Haben uns in die Visage gefasst, vielleicht juckte der Gesichtserker oder die Geheimratsecke, niemand juckte das. Schon gar nicht den Staat. Gerade erst hatte ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung mühsam und unter Strafandrohung gelernt, dem andern Teil der Bevölkerung nicht en passant ans Gesäß zu greifen, ein Verhalten, das anscheinend evolutionär auch extrem tief verankert ist.

In der guten alten Zeit ging man also einfach irgendwo rein, stand irgendwo rum, schaute gescheit oder dumm. Oder einfach nur so. An einer Theke zum Beispiel! In einer Bar, schaute tief ins Glas, noch tiefer, wurde immer tiefschürfender und kam einander zuweilen dabei nah und näher. Manchmal rückte man einander gar zu Leibe. So was war ganz normal. Menschlich. Es gab noch so Menschlichkeitsoasen, in denen allzu Menschliches gedieh, Kontrollorgane schritten nicht gleich ein.

All das konnte man tun, ohne dass gleich Todesstrafe folgte, oder zumindest todkrank oder dement oder sonst was; mittlerweile ist das Angebot ist riesig, alle Körperbestandsteile machen mit. Das Angebot wächst mit jedem Tag, jeden Tag kommt was Neues dazu, eine neue Urangst, suchen Sie sich eine aus.

Mit Aids war das ja auch so, erinnern sich die Veteran/innen, aber, seufzen sie nostalgisch, damals durfte man wenigstens nach Herzenslust Hände schütteln und stoßseufzen und urschreien, man konnte ungeschützt öffentlich verkehren und Ein- und Ausatmen war voll okay. Man konnte noch heiraten oder ins Kloster gehen, heute sind Gotteshäuser Virenhöllen und Beten gilt als Risikoverhalten.

Nirgends war No-Go, nicht mal das eigene Gesicht. Das eigene Land. Nirgends waren wir wanted beziehungsweise nicht wanted.

Man durfte sogar jung sein, sich sogar jung benehmen. Ohne von Abstandswauwaus verfolgt zu werden: Diese Wüstlinge! Diese Lüstlinge! Mehrere auf einmal!

Man konnte in Innenräume, man konnte sich sogar darin aufhalten, mit anderen sogar. Man konnte einfach in eine Straßenbahn hüpfen. Oder eine Knoblauchzehe kaufen. Falls man das Geld hatte natürlich. Sonst brauchte man nichts. Keine Spezialausrüstung, keine Anleitung für Vorher und Nachher. Es war alles sehr unkompliziert. Leicht eigentlich.

Man war nicht nonstop als Virentöter_in im Einsatz.

So was schlaucht wirklich.

Michèle Thoma
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