Anhörung im Parlament

150 Minuten direkte Demokratie

d'Lëtzebuerger Land vom 05.05.2005

Die Klimaanlage der Abgeordnetenkammer ist für die Kühlung der repräsentativen Demokratie vorgesehen. Als am Freitag neben Gewählten auch Wähler im Plenarsaal sitzen durften, wurde es schnell heiß. Befürworter und Gegner des europäischen Verfassungsvertrags fächern sich mit Informationsbroschüren frische Luft zu. Schon kurz nach zwei hatten sich die Ränge gefüllt. Denn im Vorzimmer und im Erdgeschoss waren zwar zusätzliche Fernseher und Stuhlreihen aufgebaut worden, aber fernsehen kann man auch zu Hause. Niemand wollte sich einen Platz im Plenarsaal entgehen lassen. Zwischen den Säulen aus hohlem Marmorimitat war eine Reihe Stühle für Hinterhinterbänkler beigesetzt worden. Dort, wo sonst Deputierte sitzen, bewundern Hausfrauen, Rentner und Studenten amüsiert die Computerbildschirme vor ihnen mit den Namen der Ali Kaes, Lydia  Mutsch und Paul Helminger. Statt der Volksvertreter sitzt nun das Volk in dunklen Wolljacken und rosa C[&]A-Blousen inmitten des pompösen Empirekitschs mit  vergoldetem Zierrat, falschen Kerzenleuchtern, schweren Vorhänge und staubigen Quasten. Es blättert emsig in dem fast 500 Seiten starken Buch mit dem Verfassungstext, das im Eingang der Abgeordnetenkammer stapelweise bereit liegt, einige füllen die Formulare aus, die auf jedem Stuhl liegen, und melden ihre Redebeiträge an. Ein wenig sieht es so aus, als ob Regierung und Parlament zur Legitimierung des Verfassungsvertrags Stück für Stück das große Tabu der repräsentativen Demokratie zu opfern bereit seien: zuerst mit der Veranstaltung eines Referendums - ein Novum zumindest in der Nachkiegsgeschichte - und nun sogar mit der Gewährung von Redefreiheit für "Jenny a Männi" im fast sakralen Sperrbezirk des Parlamentsplenums. Als ob alle Kritiken an der Prozedur, mit der der Verfassungsvertrag aufgestellt worden war, mit der Großherzog und Immigranten vom Referendum ausgeschlossen bleiben, durch eine Runde direkter Demokratie entkräftet werden sollten. Wenn jeder die Gelegenheit bekommen hat, sich auf der Parlamentstribüne zu Wort zu melden, kann man dann mehr wollen, sich etwas Demokratischeres vorstellen? Bei den zahlreichen Änderungen der Luxemburger Verfassung in den letzten Jahren, den Gesetzen über  Arbeitszeit, Krankenversicherung oder Mindestlohn war niemand auf die Idee gekommen, den Mann und die Frau von der Straße ins Parlament einzuladen und um ihre Meinung zu fragen. LSAP-Fraktionssprecher Ben Fayot begrüßt fast pünktlich die Versammlung und erinnert daran, dass diesmal über die sozialen und ökologischen Aspekte des Verfassungsvertrags diskutiert werde. Alle Redner seien gebeten, von der Tribüne aus das Wort zu ergreifen, damit sie von den Kameras von Chamber TV erfasst würden. Als Vorsitzender des außenpolitischen Ausschusses leitet er die Anhörung gemäß Artikel 21 der Geschäftsordnung des Parlaments, die Ausschüssen erlaubt, öffentliche Anhörungen zu organisieren. Wie diese ablaufen sollen, ist aber nicht geklärt. Weil bereits 23 Redner eingeschrieben seien, müsse sich jeder mit fünf Minuten begnügen, bedauert Fayot und belehrt die Irrgläubigen dann über die Vorzüge des  Verfassungsvertrags. Als ehemaliges Mitglied des Konvents ist er zum Wanderprediger in Sachen Verfassungsvertrag geworden wie kein anderer Abgeordneter. Die Anhörung sei kein Meeting für ein Ja oder Nein beim Referendum, sie solle vielmehr Informationen und Erklärungen liefern, wünscht er sich noch vergebens. Um einen letzten Rest von Standesunterschied zu wahren, haben sich die Abgeordneten auf die Regierungsbank zurückgezogen, auch ein schönes Gefühl. Die Anhörung ist so merkwürdig wie das Referendum über einen Text, den kaum jemand gelesen hat,  zu dem Wahlzwang besteht, aber dessen Ausgang nicht bindend ist. Denn den Teilnehmern wird zwar versprochen, dass ihr Beitrag nicht nur über Chamber TV und gedruckten Sitzungsbericht veröffentlicht wird, sondern auch Eingang in den Ausschussbericht finden soll. Aber obwohl sich am Ende der Anhörungen herausstellen dürfte, dass drei Viertel der Sprecher den Verfassungsvertrag ablehnten, wird der Ausschussbericht trotzdem die Ratifizierung durch das Parlament empfehlen. Und auch die geäußerten Befürchtungen vor einer beispielsweise ungenügenden sozialen Ausrichtung des Verfassungsvertrags dürften kaum Konsequenzen haben. Denn das Parlament kann keine Änderungsanträge zum dem von den Staats- und Regierungschefs unterzeichneten Text einbringen. So melden sich in bunter Reihenfolge Verbandssprecher und Privatpersonen zu Wort. In der Regel tragen erstere Anzug und Krawatte, sprechen zum vorgegeben Thema "Das soziale und ökologische Europa" und sind für den Verfassungsvertrag; letztere sind lockerer gekleidet, nutzen die Gelegenheit, um den Verfassungsvertrag im allgemeinen zu diskutieren, und lehnen ihn meist ab. Das führt dann zu merkwürdigen Konfrontationen. Michel Würth rechnet als Präsident aller Unternehmerverbände vor, dass 85 Prozent des Bruttoinlandprodukts und 80 Prozent der Arbeitsplätze hinter seinen Worten stünden, ehe er seine Pflicht tut und ein feierliches Bekenntnis zum Verfassungsvertrag ablegt. Andere Redner scheinen schon lange am Stammtisch gedroht zu haben: wenn ihnen einmal das Wort erteilt würde,  könnten sich die da oben auf etwas gefasst halten. Nun haben sie das Wort fünf Minuten lang und belehren "die Politiker" in provokantem Ton. So haben sich die Gewählten ihre Wähler nicht vorgestellt, Ben Fayot schaut gequält und zieht den Kopf ein, Lydie Polfer lächelt säuerlich. Ein Mann mit großer Brille, in schwarzem Hemd unter dunkler Strickweste tritt im Namen von gleich drei Vereinen zur Förderung der direkten Demokratie auf und liest als Höhepunkt ein längeres Zitat aus Goethes Das Märchen vor, das die Zuhörer geduldig über sich ergehen lassen. Ein älterer Herr mit grauem Haar und zwei Kugelschreibern in der Jackentasche wendet sich in ernstem Ton und mit erhobenem Zeigerfinger an die "lieben Arbeitslosen"“, an die niemand denke, und veranstaltet einen kurzen Galopp durch die Weltgeschichte, wie er sie sich mit all ihren Ungerechtigkeiten seit langen Jahren zusammengereimt hat. Die Politiker nennt er immer wieder mit Nachdruck "plebiszitierte Aristokratie". Pressefotografinnen hängen müde mit ihrem schweren Fotomaterial herum und warten auf den nächsten Prominenten, damit sie in die Redaktion fahren können. Nico Clement vom OGB-L sagt "Ja zur Verfassung ohne große Begeisterung", der LCGB bietet dagegen seinen Präsidenten auf, und  Robert Weber erklärt sich begeistert für die Verfassung. FNCTTFEL-Präsident Nico Wennmacher findet dagegen, dass der Verfassungsvertrag keine Antwort auf die soziale Krise in Europa darstelle, will aber keine Wahlempfehlung für das Referendum geben, während Syprolux-Präsident Georges Bach von einem "positiven Echo" der christlichen Eisenbahner berichten kann. Ein uniformierter Sicherheitsmann steht breit in der Tür und schaut zu. Obwohl das Thema des Tages die soziale und ökologische Ausrichtung des Verfassungsvertrags sind, melden sich keine Umweltschützer zu Wort. Mouvement écologique und Greenpeace, denen es bei anderen Gelegenheiten kaum an Selbstbewusstsein fehlt, um sich als moralisch überlegene Sprecher der Zivilgesellschaft in Szene zu setzen, bleiben merkwürdig still. Auch das Comité pour le Non, der einzige organisierte und als solcher mit einem Web-Link vom Parlament amtlich anerkannte Widerstand gegen den Verfassungsvertrag, kommt nicht zu Wort. Es hatte seinen Einsatz verschlafen und sich zu spät in die Rednerliste eingetragen. Dafür ruft KPL-Präsident Aly Ruckert im kämpferischen Ton einer Wahlversammlung auf, den dritten Teil des Verfassungsvertrags zu lesen, wo, im Widerspruch zu den hehren Absichten der beide  ersten Teile, das Ende des Sozialstaats besiegelt werde. Ein junger Mann in einer blaugrünen Fischerweste, der neben ihm sitzt, liest leicht aufgeregt eine Tirade gegen den Kapitalismus und "die Profitgier der Aktionäre" vor, verlangt dann aber "ein Europa der Völker". Der ehemalige déi-Lénk-Abgeordnete Serge Urbany argumentiert als Anwalt gegen die überbewertete Bedeutung der horizontalen Sozialklausel im Vertrag. Ein älterer Mann mit Brille und sorgsam über die Halbglatze gekämmten Haarstränen hat in der Hitze des Gefechts die Jacke abgelegt. Er habe sich "sechs Monate mit dem  Vertrag befasst" und fordert die Hand voll Abgeordneten auf der Regierungsbank gegenüber auf, die "Luxemburger doch nicht für dumm zu verkaufen". Er hat sie durchschaut, auch den abwesenden Premier, der an seiner internationalen Laufbahn arbeite. Die Europaabgeordnete Astrid Lulling erkennt ihren alten Widersacher aus dem Schifflinger Gemeinderat und ruft ihm verärgert zu, doch "keine Dummheiten" zu erzählen. Von gepflegtem Äußeren ist ein junger Mann, der aus Rücksicht auf die französischsprachigen Mitbürger französisch zu reden beginnt. Gespreizt plädiert er für den freien Wettbewerb und die Liberalisierung des öffentlichen Dienstes und unterstreicht seine Aussagen wie im Rhetorikkursus mit kurzen, energischen Gesten. Ein freundlicher älterer Herr mit schütterem, grauem Haar bekennt, ebenfalls auf Französisch, dass er Ende Mai am Referendum in Frankreich teilnehmen werde. Er sieht die Verfassung optimistisch: als Glas, das halb voll sei, und belohnt das Publikum am Schluss mit einem Satz Luxemburgisch. Die ehemalige CSV-, ADR- und NOMP-Kommunalpolitikerin Hilda Rau-Scholtus ist die einzige Frau an diesem Nachmittag. Sie verwehrt sich irritiert gegen Kommentare, dass die Anhörung nur eine Gelegenheit sei, um Frust abzulassen. Dann legt sie ihre Grundsätze der liberalen Volkswirtschaftslehre dar. Ein älteres Ehepaar an den Sitzplätzen zweier grüner Abgeordneter flüstert sich kopfschüttelnd zu: "Man versteht sie gar nicht." Mehr als ein Jahrhundert vor dem Luxemburger Parlament hatte das britische 1872 The Royal Parks and Gardens Regulation Act verabschiedete, der jedermann erlaubt, sich am Speakers' Corner im Hydepark auf eine Kiste zu stellen und eine Rede zu halten. Seither, lernen Generationen von Englischschülern, dass das leicht schrullige Großbritannien die bessere Demokratie sei. Am kurzlebigen Speakers' Corner auf Krautmarkt tritt ein Mann mit Nickelbrille und hellem Anzug ans Rednerpult und erklärt, in seinen Unterlagen blätternd, er habe "viele Fragen" zum Verfassungsentwurf: über das Primat der Luxemburger Verfassung, die Bolkestein-Richtlinie, die Kennzeichnung von Lebensmitteln... Die Abgeordneten gegenüber lächeln zufrieden, nun sind endlich alle wieder in ihrer Rolle. Ben Fayot kann es sich nicht verkneifen, als verständnisvoller Studienrat gleich die Antworten zu liefern, und Lydie Polfer kommt dankbar mit Erinnerungen aus ihrer Amtszeit als Außenministerin zu Hilfe. Ein korpulenter Mann mit Vollbart und einer orangefarbenen Krawatte liest eine ausgewogene Stellungnahme  der Caritas vor, damit "die Sozialarbeit nicht verkannt" werde. Und ein Lehrer mit einer großen, schwarzen Brille erzählt gut gelaunt, wie gekonnt er seinen Schülern an einem eigens von ihm organisierten Studientag den Unterschied zwischen einer Verfassung, einem Abkommen und einem Gesetz erklärt habe. Dann vertröstet Ben Fayot die verbliebenen sieben eingeschriebenen Redner darauf, "am nächsten Freitag" zu Wort zu kommen, wenn es um Sicherheitspolitik gehe. Der ehemalige Wirtschafts- und Bautenminister Robert Goebbels beschimpft seinen Parteikollegen, weil dieser den falschen Leuten das Wort erteilt habe. Die Veranstaltung stößt unter Politikern nicht nur auf Sympathie. Manche fanden schon immer, dass auf die Gewählten zu hören, Demokratie, auf die Wähler zu hören, dagegen Populismus sei. Ob sich aber die verschiedenen Meinungen gegenseitig aufheben und bedeutungslos werden, hängt von den Leuten ab, die der Debatte zusehen oder sie nachlesen und sich dann bis zum 10. Juli ein Urteil machen. Demokratie findet nicht auf der Rednertribüne, sondern im Publikum statt.

 

Romain Hilgert
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