Jugendschutz

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d'Lëtzebuerger Land du 18.05.2006

Im Großen und Ganzen Zustimmung. "Le fait d’instituer un organisme national de l’enfance est une très bonne idée et le fait de vouloir déjudiciariser l'intervention par rapport aux mineurs en danger se défend sans peine." Das ist einer der Kernsätze eines externen Gutachtens zur geplanten Reform des luxemburgischen Jugendschutzes, das dem Land vorliegt. Geschrieben hat ihn Jean Zermatten, Gründer und Leiter des "Institut national des droits de l’enfant (IDE)" im schweizerischen Sitten und seit Februar vergangenen Jahres Mitglied des Ausschusses für Kinderrechte der Vereinten Nationen.

Als im Herbst vergangenen Jahres die Wogen zwischen Justiz und Familienministerium im Streit um die geplante Reform zur "Protection sociale des enfants" hochschlugen (siehed'Land vom 18. November 2005), hatte die für den Text verantwortliche Ministerin Marie-Josée Jacobs den Kinderrechtsexperten und Jugendrichter beauftragt, ein juristisches Gutachten zum ministeriellen Vorentwurf zu verfassen und dabei, bitte schön, die von Jugendgericht und Staatsanwaltschaft vorgebrachte, teils massive Kritik besonders zu berücksichtigen. Daneben hat das Familienministerium Jean Zermatten für Anfang Juli nach Luxemburg eingeladen, um mit ihm, Vertretern der Justiz und der Jugendsozialarbeit über sein Gutachten zu diskutieren. Ihre Vorgehensweise will die CSV-Politikerin zuvor mit Justizminister Luc Frieden abgesprochen haben.

Nun liegt der Bericht vor, und es heißt grünes Licht in den wichtigsten Punkten. Ja, Luxemburg tue gut daran, ein Gesetz zur Jugendhilfe einzuführen, schreibt der Gutachter in seinem 20-seitigen Papier (S. 9). Damit ließe sich eine bessere Hilfe und bessere Beteiligung von Kindern und Familien in Problemsituationen an sozialen Maßnahmen gewährleisten und die Stigmatisierung problematischer Jugendlicher durch die Justiz verhindern. Die hohe Zahl richterlicher Platzierungen und Heimeinweisungen (87 Prozent von insgesamt 823 Platzierungen in Heim oder Pflegefamilie im Jahr 2003) und die Stigmatisierung hatte das Ministerium als Hauptmotive für sein Vorhaben angeführt, die Zuständigkeiten zwischen Sozialarbeit und Justiz neu regeln zu wollen - eine Argumentation, der sich Zermatten in seinem Avis im Grundsatz anschließt. Eine "Entleerung" des Luxemburger Jugendschutzgesetzes von 1992, vor der Jugendrichter Alain Thorn in seiner Stellungnahme zum Gesetzesvorschlag vom Herbst 2005 eindringlich gewarnt hatte, sei damit nur bedingt verbunden. Bis auf einige leichte Änderungen könnte das 1992-er-Gesetz bestehen bleiben (S. 19), so die Einschätzung des Schweizers, der allerdings betont, das luxemburgische Rechtssystem nicht gut zu kennen.

In dem Kontext sei es auch "vernünftig", ein spezielles Amt für Kin- der und Jugendliche einzurichten, schreibt Zermatten weiter. Die mit einem "Office national de l’enfance" (ONE) verbundene Unterscheidung zwischen Jugendlichen in Not, die von einem dem Staat zugeordneten Amt betreut würden, und delinquenten Jugendlichen, um die sich die Gerichte kümmerten, verstoße nicht gegen internationale Rechtsnormen: Artikel 40 Absatz 3 der UN-Kinderrechtskonvention, von Luxemburg unterzeichnet und ratifiziert, verlange sogar ausdrücklich, Fälle von straffälligen Minderjährigen vor spezialisierten Instanzen zu bringen und sie, soweit angemessen und erwünscht, "ohne ein gerichtliches Verfahren" zu regeln. Folglich bestehe auch von internationaler Seite ein Interesse an der so genannten "Déjudiciarisation", im Gutachten als Ansatz beschrieben, gerichtliche Interventionen so weit wie möglich zu vermeiden.

Das damit verbundene, vom Ministerium, Kinderschützern, Psychologen und Sozialarbeitern seit vielen Jahren geforderte zweigliedrige System, mit der Jugendhilfe auf der einen Seite und der Jugendstrafgerichtsbarkeit auf der anderen Seite, stellt Zermatten zufolge in Europa eben keine Ausnahme dar, sondern die Regel: Konsequenz aus der wachsenden Kritik am Ein-Instanzensystem mit seinem "omnipotenten Jugendrichter".

Besonders dieser Punkt dürfte den erneuten Protest seitens der luxemburgischen Justizvertreter hervorrufen. Dem Land gegenüber wollten sich die Betreffenden zum Bericht nicht äußern, im Schlussbericht der interministeriellen Jugendschutz-Arbeitsgruppe vom Juni 2002 aber, in dem Vertreter des Justiz- und des Familienministeriums sowie der Jugendgerichtsbarkeit saßen und eine Déjudiciarisation abgelehnt wurde, hatten die Autoren den "avant-gardistischen" Charakter der luxemburgischen und belgischen Rechtstradition in punkto Jugendschutz verteidigt: "Le fait que les droits de la jeunesse luxembourgeoise et belge soient les seuls en Europe á se rallier au modèle protectionnel est souvent dénoncé par les détracteurs de la législation actuelle qui voient dans cet 'isolement' comme preuve de son inadéquation."

Dabei verschwiegen sie jedoch, dass das belgische Jugendschutzgesetz aufgrund hoher Heimeinweisungsquoten ebenfalls viele Jahre im Kreuzfeuer der öffentlichen Kritik stand. Das war, bevor die Regierung in Brüssel im März 1991 zusätzlich zum Jugendschutzgesetz von 1965 die Jugendhilfe (l'Aide à la jeunesse) einführte. Mit der Aufgabe betraut wurde die "Direction générale de l'aide á la jeunesse"; zu ihren gesetzlichen Missionen zählen außer der Prävention und einer spezialisierten Hilfe für Jugendliche in Not außerdem ein weiteres spezielles Hilfsangebot für straffällig gewordene Jugendliche. Die drei Hauptziele der Reform lauteten: Déjudiciarisation, Prävention und der Verbleib der Jugendlichen in ihrem jeweiligen Umfeld. Weil diese acht Jahre später noch immer in weiter Ferne lagen, veranlasste die belgische Regierung eine weitere Reform, die den gesamten Bereich der psycho-sozialen Jugendarbeit umfasste und professionalisierte.

Verständlich, dass Familienministerin Marie-Josée Jacobs vor diesem Hintergrund in einer ersten Reaktion auf das schweizerische Gutachten zunächst ihre Zufriedenheit betonte. Sie sieht sich in ihrem Reformvorhaben im Wesentlichen gestärkt. "Die Partizipation war eine unserer großen Vorgaben", so Jacobs im Gespräch mit dem Land. Für die Beteiligung des Kindes - und, so weit möglich, auch der Eltern - an erzieherischen und psycho-sozialen Maßnahmen war in den Kommentaren zum Vorentwurf ein Extrakapitel vorgesehen. Zu den Missionen des ONE zählen unter anderem die Konzertation und die Partizipation aller Betroffenen. Abkehr von partneralistisch-autoritären Ansätzen lautet das hehre Ziel.

Umso merkwürdiger, dass im ministeriellen Text ausgerechnet ein Rekursrecht gegen das Amt fehlte, das künftig in erster Linie die psycho-sozialen Konzepte und Maßnahmen formulieren soll. Dass die Kompetenzaufteilung zwischen ONE und Justiz alles andere als geregelt war, schreibt auch der Schweizer Experte: "Il est certain que l'avant-projet n’a pas été assez clair à ce sujet."

Paternalistisch finden zudem einige Mitarbeiter aus dem Jugendhilfebereich die ministerielle Herangehensweise: "Warum entwerfen Beamte hinter verschlossenen Türen einen fehlerhaften Text, anstatt dies mit den Experten gemeinsam zu tun?", fragt Robert Soisson. Der Vorsitzende der Nationalen Koalition für die Rechte vom Kind und Vizepräsident des Ombudskomitees für Kinderrechte erinnert in einer bis her unveröffentlichten Stellungnahme zum geplanten Gesetzentwurf vom Februar diesen Jahres an den nationalen Aktionsplan für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskommission. Mit seiner Teilnahme am Kinderrechtsgipfel in New York 2002 hat sich Luxemburg zur Aktion verpflichtet - der Plan liegt aber bis heute nicht vor. Eine neue Gesetzgebung ohne die "Revision beziehungsweise Anpassung des bestehenden Jugendschutzgesetzes" sei "total unverständlich", heißt es in der Stellungnahme weiter. Das Familienministerium hatte in der Vergangenheit stets betont, den Jugendschutz reformieren zu wollen, ohne dabei das bestehende Gesetz anzutasten. Eine Behauptung, mit der das Ministerium wohl vor allem die Gerichte beruhigen wollte, die sich aber mit dem vorliegenden Gutachten eher als unrealistisch herausstellt. Absolution für die diversen Ungenauigkeiten des Vorentwurfs oder gar einen Freibrief für weitere Schlampigkeiten hat das Familienministerium durch den Bericht ohnehin nicht erhalten. Die Ausführungen des Schweizers sind sachlich und konstruktiv gehalten, kritische Töne zu den gravierenden Auslassungen im ministeriellen Entwurf stechen deswegen aber umso deutlicher hervor. Minimale Rechtsgarantien für Kinder und Eltern seien eine "notwendige Sache in einem Rechtsstaat", steht im Schlusskapitel. Das lässt sich auch als eine - höflich verpackte Ohrfeige - für dumme Anfängerfehler lesen. Die Frage, wer den ONE wie befassen kann, sei nicht endgültig gelöst, bemängelt der Autor, ebenso wie die Frage möglicher Kollisionen und Konkurrenzen zwischen Amt und Justizbehörde. Der juristische Beraterdienst im Familienministerium scheint jedenfalls einigen Nachholbedarf zu haben. Selbst die Jugend- und Familienpolitik bleibt vom Tadel nicht verschont. Das von der beigeordneten Staatsanwältin Mariette Goniva in ihrer Stellungnahme beanstandete Fehlen einer zentralen Anlaufstelle bis heute, an die sich Hilfe oder Rat suchende Eltern wenden können, findet der Schweizer "nicht befriedigend". Es sei "abnormal", dass sich die Öffentlichkeit für derlei Fragen an die Gerichtsbarkeiten wenden müsste.   Ob diese Feststellungen allerdings ausreichen werden, um jene Türen doch noch zu öffnen, die in den vergangenen Wochen und Monate fest verschlossen waren, ist fraglich. Denn im Prinzip hat sich an der Fundamentalkritik der Jugendgerichtsbarkeit und Generalstaatsanwaltschaft nichts geändert. Der ehemalige Jugendrichter und heutige Generalstaatsanwalt Jean-Pierre Klopp zitierte in seinem Gutachten zum Gesetzesvorschlag vom Oktober 2005 eine Aussage aus dem erwähnten Schlussbericht jener interministeriellen Arbeitsgruppe zum Jugendschutz: "Le respect des droits fondamentaux de la jeunesse en difficultés et en danger requiert que les décisions soient prises par les autorités judiciares et non par une 'Administration'." Der Zermatten-Bericht hält ebenfalls eindeutig fest, das Prinzip der Vorrangigkeit der Justiz gegenüber der Verwaltung müsse auch in diesem Fall gelten. Bei Konflikten zwischen Richtern und Verwaltung liegt demnach die letzte Entscheidung bei der Justiz. Das aber dürfte die Kritiker in Gericht und Staatsanwaltschaft kaum beruhigen. Sie wenden sich grundsätzlich gegen eine Verlagerung ihrer Kompetenzen - und dies zumindest teilweise mit Erfolg. Weil der richterliche Widerstand so groß ist, ist das Familienministerium offenkundig bereit, auf eine geplante Neuregelung zu verzichten. Notfälle, sagte Marie-Josée Jacobs dem Land, seien in der überarbeiteten Version nicht dem Jugendamt zugeordnet. Dafür blieben weiterhin die Gerichte zuständig. Zermatten hatte sich der richterlichen Kritik zwar angeschlossen, der Vorentwurf regle Notfallsituationen nicht. Im Gegensatz zum neuen Vorschlag des Ministeriums weist sein Bericht jedoch auch Wege für eine Entscheidungskompetenz für das ONE auf, in dringenden Fällen schnelle Maßnahmen ergreifen zu können - alternativ jeweils mit Rückmeldung an die Gerichte binnen gewisser Fristen, oder aber lediglich mit einem Rekursrecht für die Betroffenen, dies laut Zermatten um eine "Systématisation de l'intervention du Judiciaire" zu vermeiden. Die vom Schweizer Experten betonte "politische" Entscheidung im Zusammenhang mit einer Déjudiciarisation scheint demzufolge in diesem Punkt bereits getroffen zu sein. Das aber könnte bedeuten, dass die von internationalen Kinderrechtlern geächteten extensiven Heimeinweisungen weiterhin in Luxemburg zum Alltag gehören werden. Die Möglichkeit, dass sich am Ende nicht die Justizbehörden, sondern die Politik als der entscheidende Gegner einer Jugendgesetzreform erweisen könnte, ist real. Es war die Spezialkommission "Jugend in Not" der Abgeordnetenkammer, die sich in ihrem Abschlussgutachten 2003 mehrheitlich gegen eine Déjudiciarisation wandte und dem Anliegen der Reformbefürwortern damit einen empfindlichen Dämpfer verpasste. Für die konservative Handschrift des Berichts zeichnete kein anderer verantwortlich als Marie-Josée Jacobs eigener Parteikollege, CSV-Fraktionspräsident Lucien Weiler.

Ines Kurschat
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