Die kleine Zeitzeugin

Die Aussteiger/Innen

d'Lëtzebuerger Land vom 01.04.2022

Wenn noch jemand ihr erkläre, wie die Ukraine aus dem Krieg aussteigen solle, werde sie nur noch Marienkäfer fotografieren. Die Journalistin postet ein Marienkäferfoto, wahrscheinlich das erste einer langen Serie.

Die Marienkäferfotos nehmen wieder zu, die Katzen- und Hundefotos, Bäume in der Frühlingsblüte, Selbstgebackene-Kuchen-Aufnahmen und Aperol Spritz auf Terrassen. Und Kunst, jede Menge Kunst, selbst gemachte und nicht selbst gemachte. Nicht mehr immerzu Flüchtende vor Chagall-Häusern, aus denen es lodert. Mampfende die von einem Schiff in die Kamera winken, Humpen heben. Prost. Nicht mehr nur blaugelbe Fahnen, blau gelb gestrichene Betonblöcke und Parkbänke und blaugelbe Klamotten-Kombinationen und blaugelbe Fan-Posts. Langsam rinnen die strategischen Analysen aus, die marxistischen Experten geben zwischendurch den Geist auf, ein kleiner Waffenstillstand zum Verschnaufen, die Feldherren vor den Computern ermatten. Einer, der von Trotzkist*innen Stalinist genannt wird taucht nach einer FB-Sperre wieder auf, er postet einen katholischen Kreuzgang aus einer pastellfarbenen Kleinstadt.

Andere reiben sich die Augen, wie sie feststellen, dass Erleichterung sie befällt, wenn Schießschartenauge Jo die Szene betritt. Das ist so Kindheit. Uff, wir sind bei ihnen. Mit ihnen. Sie mit uns. Auf unserer Seite. An unserer Seite. Uff.

Es ist wieder so einfach. Der Film ist einfach. Die Männer sind Männer, und die Frauen sind Frauen, nämlich weinend und weglaufend mit Kindern vor Männern. Die Männer sind Kämpfer und Krieger und die Frauen sind Mütter. Es gibt wieder Heimat, Helden, und das ist voll ok, ausnahmsweise, weil mit westlichen Werten, und wegen westlicher Werte. Es geht um Freiheit. Den Bösen geht es zwar auch um Freiheit, auch sie wollen unbedingt befreien, aber das ist nur ein übler Trick.

Die Zuschauer*innen hier sind sich einig, eins. Endlich alle eins. Die Ukraine ist geeint und der Wertewesten ist geeint, gerührt von sich selber. Endlich können wir Wertewessis wieder wen gut finden. Eindeutig gut. Absolut gut, das hat es schon lange nicht mehr gegeben. So wie Hollywood, aber in echt, real, auf dem Bildschirm, der Schauspieler ist in echt. Endlich wieder alle Daumen hoch, alle Likes und alle sind gegen das Böse, was gibt es Besseres?

Aber dann ist auch wieder genug. Einmal muss genug sein. Wir können uns nicht den ganzen Tag das anschauen. Das hält kein Mensch aus. Wir haben gerade Corona hinter uns. Und vor uns. Die Hölle von Mariupol. Leichen in den Straßen. Das gab es doch gar nicht mehr. Das war doch was von früher. Das geht jetzt schon einen Monat so. Der Krieg ist ein Monat alt, sagen sie im Fernsehen. Der Krieg hat schon so eine Art Geburtstag. Der Krieg dauert schon so lang. Wenn man Freund*innen anruft, geht es schon nicht mehr gleich um Krieg. Vielleicht gar nicht mehr. Als wäre er gar nicht mehr da. Er gehört schon so dazu. Er ist eben da. Aber eben nicht hier. Wir sind schon an ihn gewöhnt. Wir sind schon geimpft gegen ihn.

Krieg ist auch langweilig, im Fernsehen. Ist ein Stellungskrieg jetzt, so einer kommt nicht von der Stelle. Schaut alles gleich aus. Nichts schaut gleicher aus als zerbombte Städte. Als diese Städteskelette. Im Tode sind alle gleich. Die Frauen und in die Kinder schauen so gleich aus. Alle so blass. Und dann weiß man schlussendlich nie, was wirklich läuft, nicht einmal die Journalist*innen vor Ort.

Als wäre nicht alles kompliziert genug, rundherum. Jemand haut jemand eine runter, im Fernsehen, in Amerika, wo gerade die Werte zelebriert werden. Ist das macho? Oder ist er auf der Seite der Schwachen, ein Edler? Und wer darf welche Haartracht tragen um das Klima zu retten? Wer darf was liken, spielen, singen, anziehen, und wer bestimmt darüber? Daumen hoch oder NoGo? Vielleicht eine Wertekommission?

Und was ist das für ein Statement, wenn eine Rakete Vulvenform hat? Und soll Gagarin eingepackt oder ausgepackt werden, soll Gagarin einpacken müssen? Das Weltall lacht, es hat gut lachen. Ruhe! fleht es aus Bildern von Wolken, Flüssen, Märzbechern, Ruhe!.

Michèle Thoma
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